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Geschrieben von Hase67 am 01.10.2021, 12:11 Uhr

Nicht gewusst - 2. WK

Ich habe das in jüngeren Jahren auch so ähnlich gesehen wie du. Mein Urgroßvater und mein Großvater mütterlicherseits waren stramme Nazis (mein Urgroßvater hatte eine gut gehende internistische Praxis, die sein Lebenswerk und praktisch einziger Lebensinhalt war, es wäre für ihn nie in Frage gekommen, das aufzugeben, und der Preis war eben, in der Partei zu sein; mein Großvater war im 2. WK Medizinstudent und hat, nachdem er eingezogen worden war, schnell die Offizierslaufbahn eingeschlagen). Mit beiden hatte ich nie persönlichen Kontakt; mein Urgroßvater starb so lange vor meiner Geburt, dass ich nicht mal sein Todesjahr kenne, und mein Großvater hat noch während seines Studiums neben meiner Oma eine zweite Frau geschwängert, für die er meine Oma auf Druck von deren Familie verlassen hat, obwohl sie verheiratet waren - für damalige Verhältnisse eher ungewöhnlich).

Bei mir waren es vor allem die Frauen, die aus Kriegszeiten erzählen konnten, und meine Mutter (die selbst politisch sehr engagiert links und ökologisch unterwegs war) hat mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Familie sehr gehadert. Ich selbst habe vor allem in meiner Jugend wiederholt meine Großtante und meine Oma mit den Ereignissen und dem Schuld-Anteil der Familie konfrontiert, aber immer nur ausweichende und beschwichtigende Antworten zu hören bekommen, was mich damals wahnsinnig gemacht hat - gerade mit meiner Großtante habe ich auch heftig darüber gestritten, da sie neben der Verleugnung, in der Nazizeit von etwas gewusst zu haben, auch rassistische postkoloniale Sichtweisen hatte; mit meinem Großonkel, der sie "genommen" hatte, obwohl sie aufgrund einer eitrigen Blinddarmentzündung als Teenager keine Kinder bekommen konnte und damit eigentlich keine "vollwertige" Frau war, ist sie oft auf Safari in Namibia gereist, mit all den typischen kolonialen Vorurteilen gegenüber den Einheimischen, die diese Safari-Touren begleiteten, die in den 60er und 70er Jahren noch vollkommen normaler Standard waren und die niemand hinterfragt hat - außer mir eben, weil ich mich fremdgeschämt habe.

Das hat mich alles als junger Mensch genauso wütend und fassungslos gemacht wie die Tatsache, dass mein Vater der Rüstungsindustrie zugearbeitet hat - er hat als leitender Ingenieur Präzisionsfernrohre und Roboterarme für Panzer und Panzerfahrzeuge entwickelt und konstruiert. Mir war es unbegreiflich, wie man so denken und so etwas arbeiten konnte.

Aus heutiger Sicht sehe ich die Dinge etwas anders: Meine Großtante und Oma waren "höhere Töchter", die auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter an der Seite eines beruflich und finanziell erfolgreichen Mannes vorbereitet wurden; mein Uropa war ein Patriarch, meine Uroma das weibliche Gegenstück dazu. Meine Oma war, nachdem sie ihren Ehemann an eine andere Familie "verloren" hatte, mit zwei Töchtern quasi mittellos und als geschiedene Frau auch gesellschaftlich in ihrer Schicht "unten durch"; sie musste zwangsläufig in ihr Elternhaus zurück und dort, um ihr Auskommen mit den beiden Scheidungskindern zu haben, als medizinische Bademeisterin und Masseurin für meinen Uropa arbeiten. Sie war finanziell abhängig, charakterlich auch durch die Schmach ihrer Scheidung von diesem "tollen, aufrechten Mann" geprägt und entsprechend kleinlaut und verzagt, und auch meine Großtante wäre nie auf die Idee gekommen, die politische Einstellung, die meine Urgroßeltern vertreten haben, ernsthaft zu hinterfragen. Die beiden waren in der Nazizeit junge Frauen in ihren 20ern (meine Oma war zu Kriegsbeginn 19, meine Großtante 21) und hatten einfach nichts zu melden. Über ihr Leben und das, was sie zu sehen und zu kommentieren hatten, haben meine Urgroßeltern bestimmt.
Selbst meine Mutter (Jahrgang 1944) war noch von diesem Kadavergehorsam innerhalb des autoritären Familiengefüges geprägt und hat das trotz ihrer feministischen Grundhaltung mit in ihre eigene Familie geschleppt.

Väterlicherseits war die Situation insofern anders, als mein Vater von seiner Mutter und Großmutter gezogen wurde; die beiden sind allein mit ihm (als er noch ein Baby war) aus Oberschlesien geflohen und haben sich in der Pfalz eine kleine Existenz mit einem Lebensmittelgeschäft aufgebaut; mein Großvater väterlicherseits ist früh an der Front gefallen. In seiner Familie war nicht viel Platz und viel Zeit, um über politische Fragen zu diskutieren, die beiden Frauen haben alles getan, um ihr nacktes Überleben zu sichern. Männer und deren Engagement in der Partei oder auch nicht haben allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle gespielt.

Aus heutiger Sicht und mit dem heutigen Wissen urteilt es sich leicht; die Frauen in meinen Herkunftsfamilien waren weitgehend apolitische Wesen, die sehr stark durch patriarchalische Strukturen geprägt, wenig hinterfragt und hauptsächlich den Alltag der Männer und Kinder "gemanagt" haben, und zwar trotz eigener Arbeit. Die Männer verhielten sich, so würde ich das heute sehen, opportunistisch, um ihren Lebensstandard nicht zu verlieren - große gesellschaftspolitische Gedanken haben sie sich sicher nicht gemacht und sicherlich auch antisemitische und rassistische Tendenzen in ihrer Gesellschaftsschicht weder hinterfragt noch kritisiert - im gehobenen, konservativen Bürgertum war das ja absolut salonfähig und "normal".

Dafür "schämen" oder "schuldig fühlen" tue ich mich nicht, ich empfinde keine "Erbschuld", nur weil meine Mutter aus diesem gesellschaftlichen Milieu stammt und ich ihre Tochter bin. Allerdings finde ich es gerade mit meinem Background extrem wichtig, mich mit der Rolle meiner Familie in der Nazizeit auseinanderzusetzen, mit meinen Kinder über diese Mechanismen zu sprechen und natürlich im Rahmen meiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass rassistische und antisemitische Tendenzen in dieser Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Meine Kinder sind sowohl durch uns zu Hause als auch aus der Schule stark für diese Themen sensibilisiert, aber auch uns (sowohl dem Vater meiner Tochter als auch mir und meinem Mann) fehlen natürlich an einigen Stellen Einsicht und Überblick über die Situation und das Schicksal jüdischer Familien in Deutschland und der Welt, weil wir lediglich Juden im Bekannten-, Kollegen- und Freundeskreis haben. Aber wir bemühen uns als Erwachsene zumindest (und vermitteln das auch unseren Kindern) um Offenheit und Diskussion, um Zuhören statt Wegargumentieren und um eine gewisse Demut gegenüber Schicksalen und Erfahrungen, die wir nicht beurteilen oder emotional nachempfinden, aber zumindest intellektuell nachvollziehen können.

 
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