1. Schuljahr - Elternforum

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Geschrieben von eleanamami am 08.05.2010, 21:09 Uhr

Wie eine Schule aussehen muss, .....eine Rede von R. Largo......lang

Wie eine Schule aussehen muss, in die alle wieder gerne gehen. Eine Rede




Ist die Schule krank? Viele sind unzufrieden, die Eltern, die Lehrer, die Kinder. Und wenn man sich die Klagen anhört, dann klingt das so: Die Kinder haben psychosomatische Störungen wie Bauchschmerzen und leiden an Hyperaktivität. Es gibt physische Gewalt, Mobbing, Drogen und Alkohol. Der Lernstress ist für Kinder und Eltern enorm. Im Kanton Zürich nehmen bis zu 40 Prozent der Kinder im Hinblick auf die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium private Nachhilfeeinrichtungen in Anspruch. Schulverweigerung ist immer häufiger, wird aber totgeschwiegen. Und die Wirtschaft klagt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler für eine Lehre nicht qualifiziert sind.
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Ist die Schule also krank? In den letzten Jahren haben bis zu 60 Prozent der Zürcher Schülerinnen und Schüler sonderpädagogische Maßnahmen erhalten, zum Beispiel Unterstützung in Mathematik oder Deutsch. Die Schule ist krank, besser: Sie wird krank gemacht. Es herrscht allgemeine Verunsicherung. Die Gründe dafür liegen weniger in der Schule selbst als vielmehr in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. In allen drei Bereichen finden gegenwärtig Umwälzungen statt, die man ohne Übertreibung als Zäsuren in der Menschheitsgeschichte bezeichnen kann. Das haben wir noch nicht richtig begriffen, aber wir spüren es und sind beunruhigt. Diese Verunsicherung wirkt sich im Besonderen auf die Schule aus, ist sie doch das Vorzimmer der Gesellschaft. Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Umwälzungen.

Bis zum 19. Jahrhundert war die Mehrheit der Schweizer Bauern. Heute sind es noch zwei bis drei Prozent. Dafür arbeiten 70 Prozent der Menschen in der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, die ganz andere, vor allem kommunikative und soziale Kompetenzen, erfordert. Diese strukturellen Veränderungen der Wirtschaft wirken sich auf die Schule aus. So wurde überhastet in vielen Primarschulen Frühenglisch eingeführt. Die Globalisierung der Wirtschaft und die anhaltende Immigration von Arbeitskräften – neuerdings viele gut qualifizierte deutsche Arbeitskräfte – führen zusätzlich zu diffusen existenziellen Ängsten. Bis Ende der achtziger Jahre war es in der Schweiz eigentlich undenkbar, arbeitslos zu werden. Jeder, der wollte, fand eine Arbeit. Das hat sich in allen sozialen Schichten geändert. Wir haben zwar immer noch eine niedrige Arbeitslosenquote, die Verunsicherung ist aber trotzdem da. Und diese Verunsicherung geben die Eltern an ihre Kinder weiter. Damit geht ein unglaublicher Förderwahn einher, der bereits im Vorschulalter beginnt – wobei keine Studie bisher belegen konnte, dass die Kinder sich unter dieser Förderung besser entwickeln.

Der Kern der Gesellschaft ist die Familie. Und die hat sich dramatisch verändert. Wir haben heute eine Situation, in der viele Eltern ihre Kinder allein aufziehen müssen, ohne Großeltern, Tanten, Onkel, immer öfter sogar als Alleinerziehende. Wir sind zudem ein Volk von Kleinfamilien – mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro Familie – geworden. Der Auslöser dieser Entwicklung war die Pille. Simone de Beauvoir hat die Mutterschaft als die Fessel der Frau bezeichnet. Diese Fessel wurde durch die Erfindung der Pille gesprengt. Früher waren Kinder Schicksal. Heute können wir bestimmen, ob Kinder auf die Welt kommen oder nicht. Damit steigen die Erwartungen mancher Eltern: Wenn sie schon ein Kind haben, soll es hochbegabt sein – und ein Erfolg, ein Juwel werden. Diese Erwartungen setzen die Kinder wie auch die Lehrer unter enormen Druck.

Die Frau hat sich in den vergangenen 40 Jahren emanzipiert, hat mit dem Mann gleichgezogen und ihn teilweise bereits überholt. Das hat es wohl in der Menschheitsgeschichte auch noch nie gegeben. Eine markante Auswirkung dieser Entwicklung: In der Schweiz haben wir in den Gymnasien 58 Prozent Mädchen, aber nur noch 42 Prozent Jungen. Letztere sind nicht etwa dümmer, sie sind einfach anders als die Mädchen. Sie sind unreifer, weniger angepasst, weniger fleißig und weniger sprachbegabt, was ausreicht, um in der Schule benachteiligt zu werden. Nach der Schule werden die Frauen diskriminiert. 40 Prozent der Akademikerinnen und gar 90 Prozent der Frauen in Top-Positionen sind kinderlos. Kind und Karriere vertragen sich in der Schweiz immer noch nicht. Kommt hinzu, dass die Frauen allgemein weniger verdienen.

Kultur ist die Klammer, welche die Gesellschaft zusammenhält. Wir erleben derzeit, wie unsere Kultur in vielfacher Weise auseinanderfällt. Die kulturellen Interessen der jüngeren Menschen entsprechen immer weniger denjenigen der älteren Menschen. Eine Kluft zwischen den Generationen tut sich auch in Bezug auf die soziale Hierarchie auf. In der Vergangenheit galt der alte Mensch als weise, aufgrund seiner langen Lebenserfahrung verfügte er über eine natürliche Autorität. Die Beziehung zwischen den Generationen ist heute zunehmend auf den Kopf und die Autorität der Erwachsenen infrage gestellt. Die jungen sind in vielen Bereichen, insbesondere was die Informationstechnologie und das Wissen anbetrifft, kompetenter als die älteren Menschen. Wenn der Schüler mehr weiß über ein Computerprogramm, kann der Lehrer seine Schwäche auf Dauer nicht verbergen. 90 Prozent der 12- bis 19-Jährigen tummeln sich täglich mehr als zwei Stunden im Internet. Die Kinder wachsen als digital natives auf, Erwachsene haben den Status von digital immigrants . Die Erwachsenen müssen dazulernen, wenn sie nicht unglaubwürdig werden und die Kinder in ihrer Entwicklung nicht behindern wollen.

Diese Umwälzungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur verlangen von der Schule große Anpassungen. So sollte jeder Jugendliche, wenn er die Schule verlässt, ein perfektes Zehnfingersystem auf dem Keyboard beherrschen. Es reicht nicht mehr, soziale Kompetenz mit Fleiß, Pünktlichkeit und Ordentlichkeit zu benoten. Die Kinder müssen teamfähig, eigenständig und solidarisch gemacht werden. Und das Wichtigste: Jedes Kind soll sein Entwicklungspotenzial verwirklichen können, was nur mit kindgerechtem, individualisiertem und ganzheitlichem Unterricht erreicht werden kann.

Falsch verstandenes Lernen hat eine lange Tradition. In unserer Gesellschaft bedeutet Lernen in erster Linie Auswendiglernen, Gute-Noten-Bekommen und Aufs-Gymnasium-Gehen. Was aber Lernen wirklich bedeutet, zeigen uns die Kinder in ihrer frühen Entwicklung.

Die ersten fünf Lebensjahre machen zeitlich etwa ein Drittel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren durchlaufen die Kinder deutlich mehr als die Hälfte ihrer gesamten Entwicklung. In den ersten fünf Lebensjahren eignen sich die Kinder ein bis acht Wörter pro Tag an. Ihr Wortschatz wächst bis zum fünften Lebensjahr auf 1500 bis 8000 und mehr Wörter an. Zusätzlich machen sich die Kinder mit den grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung vertraut. Kleine Kinder sind Lerngenies. Dabei sind sie in keine Schule gegangen und hatten keine Prüfungen zu bestehen. Warum soll dieses beeindruckende Lernvermögen den Kindern mit dem Eintritt in die Schule plötzlich abhandengekommen sein? Warum sollen sie nur noch unter strengster Anleitung von Erwachsenen lernen und sich weiterentwickeln können? Eigentlich wollen die Kinder immer noch lernen – aber auf ihre Weise.

Damit Kinder gut lernen können, müssen sie sich psychisch und körperlich wohlfühlen. Vielen Kindern scheint es schlecht zu gehen, weil sie in der Schule emotional nicht mehr aufgehoben sind. Damit soll keiner Wohlfühlpädagogik das Wort geredet werden. Studien aber zeigen, dass eine gute Qualität der Beziehungen zwischen Schülern, Lehrern und Eltern die Lernmotivation der Kinder steigert und ihr Leistungsvermögen verbessert.

Eine große Herausforderung ist die Individualisierung des Unterrichts. Weshalb Schüler nicht gleich behandelt werden dürfen, zeigen Kinder wie Eldar, Lars und Patrick. Eldar beginnt sich mit 7 Jahren für Buchstaben zu interessieren. Mit 16 Jahren ist seine Lesekompetenz für einen Erwachsenen durchschnittlich ausgebildet. Lars fängt bereits mit 3 Jahren an zu lesen. Er verfügt mit 16 Jahren über eine Lesekompetenz, die deutlich höher ist als diejenige von Eldar. Patrick schließlich begreift das Lesen nicht vor dem 10. Lebensjahr, seine Lesekompetenz bleibt auch mit 16 Jahren niedrig. Je älter Eldar, Lars und Patrick werden, desto mehr unterscheiden sie sich in ihrer Lesekompetenz.

Warum also ist individualisierter Unterricht so wichtig? Nehmen wir an, Patrick, Eldar und Lars sind alle 10 Jahre alt und besuchen dieselbe Klasse. Nehmen wir zudem an, dass die Lehrerin nicht individualisiert unterrichtet, sondern sich am Durchschnitt der Klasse orientiert, zu dem Eldar gehört. Sie gibt der Klasse also einen Text vor, den Eldar gut lesen kann. Damit hat er ein Erfolgserlebnis. Nicht so Lars, der solche Texte bereits mit 7 Jahren gelesen hat. Er langweilt sich und ist unterfordert. Patrick wiederum ist hoffnungslos überfordert. Lars und Patrick können auf ihre Lernsituation mit Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Symptomen reagieren. Die Lernmotivation eines Kindes wird dann gestärkt und das Selbstwertgefühl bestätigt, wenn Anforderungen und Kompetenz des Kindes so weit übereinstimmen, dass es in seinen Lernbemühungen meist erfolgreich ist.
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Schule | Schweiz

Wir aber wollen von dieser Vielfalt nichts wissen. Defizite sollen möglichst früh erfasst und so therapiert werden, dass sie behoben werden. Eine Leseschwäche lässt sich aber nicht wegtherapieren. Was das Kind braucht, ist eine Unterstützung, die ihm hilft, seine beschränkten Kompetenzen möglichst gut zu nutzen. Und es sollte lernen, seine Leseschwäche zu akzeptieren. Dazu muss aber auch sein soziales Umfeld bereit sein, damit das Kind nicht zusätzlich verunsichert und sein Selbstwertgefühl möglichst wenig beeinträchtigt wird.

Schließlich stocken wir unseren veralteten Bildungskanon ständig mit neuen Erkenntnissen auf. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Was also muss im Lehrplan entsorgt werden (und da sollte man keinen Lateinlehrer fragen)? Manfred Prenzel, der ehemalige Leiter der Pisa-Studie in Deutschland, meinte vor einigen Jahren, mindestens 30 Prozent des Mathematik-Stoffs im Gymnasium könne ohne nachteilige Folgen weggelassen werden. Das gilt wohl auch für andere Fächer. Wir sollten unseren Kindern keinen Stoff mehr zumuten, der sie in die Vergangenheit zurückführt, sondern ihnen Stoff vermitteln, der sie auf die Zukunft vorbereitet.

 
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