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Geschrieben von Hase67 am 12.08.2021, 8:12 Uhr

Warum Kinder keine Tyrannen sind

Vorneweg: Ich mag die Bücher von Herrn Winterhoff nicht, ich habe da nur mal am Büchertisch in der Buchhandlung durchgeblättert, mir ist das alles zu reißerisch und zu plakativ, und ich bevorzuge Erziehungsratgeber, die nicht "von außen bewertend und verurteilend" argumentieren, sondern für die selbstverständlich ist, dass Menschen (Eltern wie Kinder) Fehler machen, dass Perfektionsideale eine Katastrophe sind, weil sie nur noch mehr Druck in das System Familie reinbringen und dass Erziehung nur da möglich ist, wo vorher eine menschliche Beziehung war.

Aber: Ich mag es auch nicht, wenn so getan wird (ich habe den Panorama-Bericht nicht gesehen, aber die Stimmen hier im Forum klingen jetzt so), als ob Winterhoff quasi ein Folterarzt wäre, der Problemkinder nur mit Medikamenten ruhigstellt und keiner ordentlichen Diagnostik und Behandlung zuführt.

Als Kinder- und Jugendpsychiater hat man normalerweise einen Schwerpunkt und auch einen "Ruf". Es spricht sich im Laufe der Zeit z. B. herum, dass man viele schwere ADHS-Fälle oder psychotische Kinder hat und die erfolgreich therapieren konnte. Bei solchen schweren psychiatrischen Diagnosen braucht man unter Umständen auch Psychopharmaka, um überhaupt eine Behandlung beginnen zu können. Das hat mit "Zwangsruhigstellen, weil die Kinder nicht spuren" nichts zu tun. Das ist manchmal überhaupt die Voraussetzung, um mit solchen Kindern "arbeiten" zu können.

Der andere Aspekt ist, dass weder die jungen Patienten noch die Familiensysteme, die in einer solchen Praxis behandelt werden, der Normalfall sind, wie Winterhoff in seinen Büchern suggeriert. Klar, es gibt schwer gestörte Familiensysteme, und Kinder sind ganz oft Symptomenträger von gestörten Familiensystemen und werden dann psychiatrisch auffällig. Nicht selten ist es auch so, dass es eine erblich Komponente gibt und Eltern, die selbst unter ADHS oder einer Autismusspektrumstörung, etc. pp leiden, ein Kind bekommen, das selbst diese Disposition hat und sich daraus ein fataler Kreislauf ergibt. Und dass solche Eltern dann auch Hilfe brauchen, um ihrem auffällig gewordenen Kind gerecht zu werden. Manchmal müssen auch die Eltern selbst diagnostiziert und medikamentös behandelt werden. Oder sie müssen erst lernen, gefestigte Persönlichkeiten zu werden und einem Kind die Sicherheit und Orientierung geben zu können, die Kinder eben brauchen, weil sie noch Kinder und keine kleinen Erwachsenen sind.

Und genau an der Stelle stört mich, dass solche Bücher mit reißerischen Titeln, die eher ein Klientel ansprechen, das selbst mit sehr viel autoritärem Druck aufgewachsen ist, suggerieren, Kinder bräuchten nur eine "harte Hand", damit sie dann wieder im Gleis laufen. Kinder mit einer psychiatrischen Diagnose sind eben nicht "alle Kinder", und nicht alle Eltern haben so vermurkste Strukturen zu Hause, dass man das nicht auch mit ein paar Sitzungen bei einer Elternberatung wieder hinbekommen könnte. Hier wird so getan, als ob es nur "Rama-Familie" und andererseits "Fall fürs Jugendamt" gäbe.

Und dass das so rüberkommt, liegt wiederum an der Zuspitzung durch die Auswahl, die die Medien treffen. Der Bestsellerautor ist es nur deshalb, weil im Buchtitel die Wörter "Kinder" und "Tyrannen" nebeneinander vorkommen. Die Reportage kommt nur zustande, weil es Fälle in der Praxis gegeben hat, bei denen die Diagnose und Behandlung vermutlich falsch war und die Herrn Winterhoff das bis heute übel nehmen. Die Leute, die mit seiner Behandlung zufrieden waren, denen geholfen wurde, bei denen er richtig lag, die werden im Film nicht dargestellt. Und der Fernsehkonsument macht dann daraus: "Klar, der Winterhoff, das war doch dieser Typ, der behauptet hat, dass alle Kinder Tyrannen werden, wenn wir die Zügel nicht straffer ziehen."

Versteht ihr, was ich meine? Es ist diese Vergröberung, die durch das Fernsehformat und das von der Öffentlichkeit wahrgenommene Bild entsteht, die ich für gefährlich halte, und auch die Emotionalisierung, die damit einhergeht.

Winterhoff ist sicher kein schlechter Arzt und erst recht kein Folterknecht. Aber seine Analysen und Erziehungsratschläge sind eben auch nichts, was man auf jedes x-beliebige, bockige Kleinkind oder jeden renitenten Pubertisten anwenden kann. Und alles, was da an Zwischentönen nicht beim Empfänger (dem Leser oder Fernsehzuschauer) ankommt, geht durch diese Publicity-Maschinerie verloren.

 
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