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Geschrieben von Hase67 am 09.03.2022, 7:11 Uhr

Es ist Irrsinn, uns Naivität vorzuwerfen

Ich kopiere hier mal einen (frei verfügbaren) Artikel aus der FAZ ein, ein Gespräch mit der Politikberaterin Kristina Lunz, die außen- und sicherheitspolitisch für einen feministischen Ansatz steht. Er ist lang und bietet keine aktuellen Antworten, ist aber lesens- und nachdenkenswert, auch wenn im Moment wieder die Stunde der Militärstrategen und Fans einer "Aufrüstung zur Abschreckung" geschlagen hat:

"Außenpolitische Wende : „Es ist Irrsinn, uns Naivität vorzuwerfen“

Von Elena Witzeck
-Aktualisiert am 08.03.2022-12:01

Frau Lunz, am Tag des Kriegsbeginns erschien ihr Buch über die Zukunft der Außenpolitik. Sie plädieren darin für einen feministischen Kurs, das heißt: radikale Abrüstung und Deeskalation sowie Diplomatie als alleiniges Mittel, Ungerechtigkeiten abzubauen. Daraus wird vorerst nichts.
Elena Witzeck
Redakteurin im Feuilleton.

Nein. Aber es ist das eingetreten, wovor wir, meine Organisation und alle anderen Menschenrechtsorganisationen stets gewarnt haben. Es ist Irrsinn, nun jenen Naivität vorzuwerfen, die seit vielen Jahren auf die Menschenrechtsverletzungen und Aggressionen autoritärer Machthaber wie Putin hinweisen, während andere trotz Krim-Annexion, trotz Menschenrechtsvergehen die Kriegskassen der Aggressoren füllten und Energieversorgungsabhängigkeiten eingingen.

Mit Blick auf die Ukraine sieht es jetzt so aus, als hätten Deeskalation und Diplomatie keinerlei Effekte gezeigt. Der Krieg läuft – und Menschen sterben.

Das System internationaler Politik basiert auf der sogenannten Denkschule des „Realismus“, der machiavellistischen Vorstellung egoistischer Staaten, die einander dominieren wollen, eine Art Anarchie immerwährender Interessenskonflikte. Diese Denkschule hat immer nur die Gedankenwelt einer kleinen Gruppe von Menschen abgebildet hat, nie die Realität. Sie stellte Dominanz, Militarisierung und Aufrüstung über Menschenrechte, Klimagerechtigkeit oder Diplomatie. Deshalb fordern Feministinnen in der Außen- und Sicherheitspolitik seit über 100 Jahren einen Umbau des Systems. Seit Jahrzehnten bemühen sich feministische Organisationen um die Reformierung des Sicherheitsrates, um die Verbannung von Nuklearwaffen, mit denen Putin jetzt droht. Wie kann es sein, dass fünf nukleare Staaten, darunter Russland, dort Vetomächte im Sicherheitsrat sind? Es ist unaufrichtig, uns in dem Moment, in dem die Konsequenz eines Systems sichtbar wird, das Gewalt begünstigt und auf patriarchalem Denken basiert, vorzuwerfen, wir hätten keine Ahnung von Macht.

Als Russland seine Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzte, hat Amerika nicht nachgezogen. Die Nato hat sich dagegen entschieden, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, weil es einen unmittelbaren Eingriff in den Krieg bedeutet hätte. Aber gäbe es keine Nuklearwaffen, könnten Akteure wie Putin noch viel weiter gehen.

Wie wir sehen, lässt sich Putin von der nuklearen Abschreckung anderer Staaten kein bisschen abschrecken. Nukleare Abschreckung hätte keinen Weltkrieg verhindert. Die Logik der Argumentation ist die falsche. Wenn Menschen erst einmal die Macht der Zerstörung haben, geben sie diese nicht mehr her. Gerade deshalb sind Kampagnen zu Abrüstung wichtig. 56 Staaten haben den Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert. Natürlich sprechen wir hier von einer Utopie. Aber es ist unsere einzige Chance.

Allein die Existenz von Menschen wie Putin galt bisher als eines der stärksten Argumente gegen Ihr Konzept feministischer Außenpolitik. Sie wird als Idee verwöhnter Westeuropäer kritisiert, die noch nie mit Krieg und Elend in Berührung kamen.

Gerade die Menschen, die auf der Welt am meisten Erfahrung mit Gewalt und Kriegen haben, stemmen sich doch am kraftvollsten gegen Aufrüstung und Militarisierung. Denken wir an die Überlebenden der Atomkatastrophe in Japan und den Einsatz von Japanern für das Verbot von Nuklearwaffen – oder an die Menschen in Kolumbien, die jahrelang auf den Friedensvertrag hingearbeitet haben. Beispiele derer, die die schlimmsten Auswüchse der Machtpolitik zu spüren bekommen, sind im Überfluss vorhanden.

Was also schlagen Sie vor?

Im akuten Fall der Notwehr kann ich nachvollziehen, dass Deutschland Waffen liefert. Wir können die Ukraine jetzt nicht im Stich lassen. Aber uns macht die unkritische Glorifizierung der Militarisierung große Sorge. Ich wünsche mir eine Regierung, die glaubhaft vermittelt, dass Militarisierung auf lange Sicht zu weiteren Konflikten und Gewalt führen wird, zur nächsten völkerrechtswidrigen Aggression, wenn nicht zugleich massiv in Multilateralismus, die Stärkung des Völkerrechts und Rüstungskontrolle investiert wird. Wir müssen begreifen, dass massive Militarisierung als Lösungsstrategie den Boden für Nationalismus, Rassismus und die Ausgrenzung von Menschen bereitet, also eine Gefahr für die menschliche Sicherheit ist.

Die Bundesregierung hat versichert, dass das Geld für Bildung, Pflege und Rente trotz der Erhöhung der Wehrausgaben unangetastet bleibt. Und dass es sich um eine Ausnahmesituation, keine Abkehr von der bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik handelt. Reicht das nicht?

Unsere Sorge bleibt, dass die jahrelange Vorarbeit nun umsonst war. Im Koalitionsvertrag steht, die Regierung werde sich für das Verbot von autonomen Waffen einsetzen, und ein Teil der erhöhten Ausgaben im Verteidigungsbereich soll in die Diplomatie gesteckt werden. Wenn es jetzt zu einer Revision alter Grundsätze kommt, kann das auch die Akzeptanz dieser Maßnahmen in der Gesellschaft verändern. Im Übrigen traue ich der Versicherung nicht, dass keine Gelder an anderen Stellen gefährdet sind.

Was bedeutet es jetzt noch, dass das Bekenntnis zur feministischen Außenpolitik im Koalitionsvertrag steht?

Gestern hat die Außenministerin anlässlich des Frauentages ins Ministerium geladen. Zu Besuch waren Aktivistinnen aus Myanmar, eine afghanische Ministerin und Swetlana Tichanowskaja. Die Ministerin hat bei diesem Anlass wieder über feministische Außenpolitik gesprochen. Auch sie wurde von der massiven Gewalt überrascht. Jetzt geht es darum, die Brände zu löschen, die altes Denken und seine Auswüchse ausgelöst haben. Aber es wurde wieder deutlich, dass die Situation von Frauen auf der Welt ein Gradmesser von Demokratie ist.

Kann Annalena Baerbock derzeit überhaupt nach ihren eigenen Vorstellungen agieren? Für ihren Satz “Wer redet, kämpft nicht“ bekam sie im Januar viel Häme ab.

Der veränderte Stil ihrer Politik war von Anfang an deutlich erkennbar – und bleibt es bis heute. Denken wir an ihre Rede letzte Woche bei den Vereinten Nationen – oder ihren Auftritt bei Anne Will. Baerbock beginnt ihre Reden oft mit der Lebensrealität von Menschen in Konflikten, etwa dem in der U-Bahn geborenen Kind in Kiew. Sie geht auf Kritik ein, gibt zu, wie oft sie in den letzten Tagen diesen Satz gehört hat: „Wo wart ihr Europäer in der Vergangenheit?“ Und sie spricht über die rassistischen Vorfälle an Grenze. Im Realismus geht es nicht um Menschen. In den Talkrunden hören wir jetzt auch Spezialisten, die den Krieg nur als militärstrategische Diskussion deuten. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat ein Gespräch mit Christian Lindner abgebrochen, weil dieser zwölf Stunden nach dem Beginn des Überfalls nur von Zahlen sprach und keinerlei Betroffenheit zeigte. Melnyk war in Tränen ausgebrochen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Stabilität von Nationalstaaten hänge mit dem Grad der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zusammen – und beziehen sich auf eine vom amerikanischen Verteidigungsministerium mit 1,3 Millionen Dollar finanzierte, riesige Studie.

Die amerikanische Professorin Valerie Hudson hat vor einigen Jahren eine Datenbank mit Indikatoren für die Situation von Frauen weltweit aufgebaut. Hudson untersuchte patriarchale Ausprägungen anhand von sieben Indikatoren: das Vorkommen von Gewalt gegen Frauen, die Straflosigkeit von Tätern, die Häufigkeit, mit der Frauen nach der Heirat in den Haushalt des Mannes ziehen – und verglich sie mit Variablen wie Regierungsführung, Gesundheitslage, Bildungsgrad und der Bereitschaft, internationale Abkommen zu brechen. Es stellte sich heraus, dass der signifikanteste Faktor dafür, ob ein Staat nach innen oder außen gewaltbereit ist, sein Niveau an Gleichberechtigung ist.

Die außenpolitische Tradition führen Sie auf Kissingers Zeiten zurück. Aber seitdem hat sich unser Menschenbild verändert.

Natürlich. Seit einflussreiche Gesellschaften sich öffnen, weniger Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen werden und an den entscheidenden Stellen mehr Vielfalt herrscht, haben sich auch neue Bedürfnisse und Forderungen artikuliert. Unter Kissinger Zeiten, während des Vietnamkriegs und der Imperial Brotherhood traf eine kleine Männerclique die Entscheidungen. Das wird heute nicht mehr einfach so hingenommen.

Erklären Sie uns den Begriff Imperial Brotherhood.

Es bedeutet ein imperiales Verständnis von Außenpolitik, das eine bestimmte Selbstwahrnehmung in die politische Entscheidungsfindung überträgt. Dahinter steckt die Annahme, dass es eine Verbindung zwischen der Erziehung, der Belohnung aggressiven Verhaltens und den Drohgebärden zwischen Großmächten gibt – und sich Systeme auf diese Weise reproduzieren. Verwunderlich ist das nicht: Ob es nun die schweigenden Herren in der katholischen Kirche sind, die Netzwerke, die auf der Sicherheitskonferenz zu Waffendeals geführt haben oder der sexistische Klub bei „Springer“ – die Zentrierung von Macht in allzu homogenen Systemen führt zu Missbrauch.

Sie schreiben, eine starke zivile Frauenbewegung sei wichtiger als die Präsenz von Frauen in der Regierung.

Der wichtigste Treiber zu mehr Gerechtigkeit in einer Gesellschaft ist eine starke Zivilgesellschaft, das hat die Geschichte gezeigt. Die Suffragetten der internationalen Stimmrechtsbewegung arbeiteten international zusammen. 1915 forderten 1200 Feministinnen in Den Haag ein Ende des ersten Weltkriegs und ein Ende des Waffenhandels. Krieg sollte im internationalen Recht als völkerrechtswidrig angesehen werden. Sie wurden ignoriert. Aber immer wieder haben solche Bewegungen Gesetzesänderungen erreicht. Das ist wichtiger für den Wandel, als einfach Frauen in einflussreiche Positionen zu setzen.

Was lässt sich daraus für Frauen in der Gegenwart, in diesem Krieg ableiten?

Bei dem Besuch im Außenministerium habe ich gestern die Frauen auf dem Podium gefragt, was sie sich von den Feministinnen im globalen Norden erhoffen. Sie sprachen davon, die Stimme derer, die nicht zu Wort kommen, zu verstärken. Swetlana Tichanowskaja bat noch einmal darum, zwischen dem Regime in Belarus und den Menschen im Land zu unterscheiden. Deshalb ist es mir wichtig, von Putins Krieg zu sprechen. In Russland kämpfen seit Jahren Feministinnen gegen dieses Regime. Auch Demonstrieren kann helfen. Ich jedenfalls werde mich heute dem Protest anschließen.

Sie fordern, die „Geschichte des Guten“ zu erzählen. Die Menschen seien weniger böse, als man so denkt. In Anbetracht unserer grausamen Weltgeschichte hört sich das irgendwie harmlos an.

Bedenken Sie, dass „Im Grunde gut“ von dem männlichen Historiker Rutger Bregman geschrieben wurde! Wer im Besitz der Macht ist, formt die Erzählung, die in unserer Gesellschaft das menschliche Verhalten bestimmt. Ein Mädchen, das mit der Behauptung, aufwächst, ein Junge, der es schlägt, wolle damit nur Zuneigung ausdrücken, akzeptiert dieses Verhalten. Die Dinge, die uns erzählt werden, beeinflussen unsere Akzeptanz von Gewalt – und unsere Neigung, sie präventiv anzuwenden.

Die Forderungen feministischer Außenpolitik nach einem Leben in Freiheit und Würde knüpfen an den erweiterten Sicherheitsbegriff der Vereinten Nationen an. Was ist daran noch neu?

Nach dieser Definition reicht nicht das Fehlen von Kriegen aus, um Menschen Sicherheit zu geben. Ein Dach über dem Kopf, Bildung und Gesundheit sind Grundlagen menschlicher Sicherheit. Allerdings haben unterschiedliche Gruppen aufgrund langer Unterdrückung besondere Bedürfnisse. Ein feministisches Verständnis von Sicherheit ist nuancierter und darauf angelegt, diese Ungerechtigkeiten weiter abzubauen. Nur so ist Frieden zu gewährleisten.

Was sagen Sie denen, die sich jetzt benachteiligt fühlen?

Das Internationale Völkerrecht zeigt: Seit der Gründung der UN und des Internationalen Strafgerichtshofs waren die Prioritäten dieser Institutionen klar begrenzt. Völkerrecht ist das Gesetz von Staaten für Staaten. Die Bedürfnisse derer, die Staaten repräsentieren, kommen naturgemäß stärker zum Tragen. Dieser Fokus ändert sich jetzt. Denken Sie daran, dass sich internationales Völkerrecht erst in den neunziger Jahren dem Thema der sexualisierten Gewalt in kriegerischen Konflikten, widmete, der Vergewaltigung als Kriegswaffe, obwohl vergewaltigt wurde, seit es Kriege gibt. Diejenigen, die Entscheidungen trafen, waren aber nicht davon betroffen.

Wieso darf Mexiko sich mit dem Signet feministischer Außenpolitik schmücken? Täglich sterben dort Frauen im Kampf für mehr Gleichberechtigung.

Ja, wir müssen verhindern, dass das Projekt für die falschen Zwecke vereinnahmt wird. Aber im mexikanischen Außenministerium ist ein von Menschenrechten überzeugter Feminist für das Thema zuständig. Die Zusammenarbeit ist inspiriert von der in Lateinamerika besonders starken feministischen Bewegung. Ihre Forderungen werden im Außenministerium diskutiert. Ich halte das für aufrichtiger als die Entscheidung Frankreichs gegen einen Dialog über Nuklearwaffen, die nun wirklich nicht mit dem Konzept einer feministischen Außenpolitik zusammenpassen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit welchen Frauen würden Sie in die Verhandlungen mit Russland gehen?

Sehr wahrscheinlich wäre Angela Merkel beteiligt. Sie hat einen Draht zu Putin gefunden. Ich habe sie als eine der vernunftorientiertesten Personen im politischen Geschehen kennengelernt. Ihre Art, ruhig zu bleiben und zu deeskalieren, ist ideal, um mit jemandem zu sprechen, der jeglicher Vernunft entbehrt.

Kristina Lunz ist Politikberaterin und Gründerin des Centre for Feminist Foreign Policy. Ihr Buch „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ erscheint im Ullstein Verlag.

 
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