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Geschrieben von Schwoba-Papa am 10.05.2006, 15:26 Uhr

wen´s interessiert - Huelya Kandemir

Die Popstarkarriere Allah geopfert

Früher als Sängerin ... und heute: Hülya Kandemir verkörpert die Sehnsucht junger Migranten nach religiösen Werten.

Vor einem Jahr verabschiedete sich Liedermacherin Hülya Kandemir von der Bühne, um sich ihrem Glauben zu widmen. Nun trägt sie Kopftuch. Ihre türkische Familie ist irritiert.

Von Kristina Reiss

Wenn sie mit ihrer Gitarre auf der Bühne stand, Songs von Eric Clapton, Joan Baez oder Cat Stevens sang, später auch selbst geschriebene, zog sie das Publikum im Nu in ihren Bann: Hülya Kandemir, die kleine zierliche Frau mit den Rastalocken und der gewaltigen Stimme. Oft war sie mit Tracy Chapman verglichen worden. Mit Liedermacher Konstantin Wecker tourte sie durch Deutschland, auch in der Schweiz hatte sie eine Fangemeinde, in der Türkei stand sie kurz vor dem Durchbruch. Das war letzten Sommer.

An diesem Septembernachmittag sitzt die junge Frau auf dem Sofa einer Münchner Wohnung und stillt den kleinen, zwei Wochen alten Hamza. Von Rastalocken ist nichts mehr zu sehen. Ihre Haare sind unter einem eng anliegenden Kopftuch versteckt. Akribisch achtet sie darauf, dass keine Strähne unter dem Tuch hervorschaut, dass Ohren und Hals verhüllt sind und ihr Körper unter dem weit geschnittenen orientalischen Gewand keine weiblichen Rundungen preisgibt.

Enttäuschte Fans

Es ist dieselbe Hülya Kandemir, die auf der Bühne mit ihrer stimmgewaltigen Performance einst ihre Basler Fans derart begeisterte, dass diese ihr eine eigene Homepage bastelten. Und es ist auch dieselbe Hülya Kandemir, die vor einem Jahr ihre Fans verärgerte, als sie bekannt gab, nicht mehr aufzutreten zu wollen. Sie hatte beschlossen, ihr Leben von nun an Allah zu widmen. Die «Ego-Geschichte Musikbusiness» passe dazu nicht mehr, fand sie. Ihre enttäuschten Fans verstanden die Welt nicht mehr.

Dabei kam ihre Wandlung vom Popstar zur praktizierenden Muslimin keineswegs über Nacht. Wenn sie voller Inbrunst auf Deutsch «Mein Herz stand still, in deiner Hand», schmetterte, meinte sie damit nicht etwa ein menschliches Gegenüber, sondern Allah. «Ich fand es immer merkwürdig, dass die Menschen glaubten, ich sänge nur Liebeslieder», schreibt Hülya Kandemir in ihrem dieser Tage erscheinenden Buch «Himmelstochter – Mein Weg vom Popstar zu Allah».

Das Buch ist der Grund, weshalb die 30 Jährige bereits schon wenige Tage nach der Geburt ihres Sohnes Interviews gibt und in Fernsehtalkshows auftritt. Denn das Thema interessiert Medien und Öffentlichkeit gleichermassen: Eine muslimische Frau, die sich bewusst und ohne Zwang scheinbar von einem Tag auf den anderen verschleiert – das ist neu. In den letzten Monaten erschienen reihenweise Bücher, in denen muslimische Frauen bitter mit dem Islam abrechneten, von Gewalt berichteten, von Zwangsheirat und Beschneidungen. Titel wie «Ich klage an», «Die fremde Braut» oder «Ich wollte nur frei sein» hielten sich wochenlang auf den Bestsellerlisten. Nun aber meldet sich eine junge Muslimin zu Wort, die nicht anklagt, die nicht ausbricht aus den Traditionen, sondern – im Gegenteil – sich auf ihre Wurzeln besinnt. Auf einen Glauben, den sie im Elternhaus nicht kennen gelernt hat.

Hülya Kandemir bricht mit vielen Klischees. Sie hat keine Koranschule besucht, hatte kein autoritäres Elternhaus, und es gibt keinen dominanten Mann, der sie unter das Kopftuch zwingt. Ganz allein, nicht von aussen bestimmt, habe sie sich über Jahre dem Islam genähert, erzählt sie.

Verhältnis zur Familie ist abgekühlt

Zusammen mit neun Geschwistern wuchs sie als Kind türkischer Einwanderer in einem kleinen Ort in Bayern auf. Bis auf einen weiteren Bruder ist sie heute unter den Geschwistern die Einzige, die den Glauben praktiziert und sich bedeckt. Ihre Mutter hat nie ein Kopftuch getragen. Für sie war es zunächst ein Schock, dass die Tochter ihre Erfolg versprechende Musikkarriere aufgab und sich verhüllte. Auch die Verwandtschaft in Istanbul konnte diesen Schritt nicht nachvollziehen. Zu den Geschwistern hat sich das Verhältnis seither abgekühlt. «Sie glauben, ich befinde mich einfach in einer Phase», erzählt Hülya. Dabei sollten diese ihre Schwester besser kennen. Dass sie äusserst willensstark und konsequent ist, hat sie schliesslich von klein auf bewiesen. Wenn Hülya Kandemir etwas anpackt – dann richtig. Mit leiser, fast zerbrechlich wirkender Stimme spricht die zierliche Frau, verleiht ihren Worten aber stets Nachdruck.

Als 10-Jährige setzt sie es durch, als einziges türkisches Mädchen weit und breit aufs Gymnasium zu gehen – gegen den Willen der Lehrer, die ihr das nicht zutrauen. Sie entdeckt ihre Liebe zur Musik, bringt sich selbst Klavier und Gitarre bei, spielt in einer evangelischen Kirchenband. Um sich ganz der Musik widmen zu können, bricht sie mit 16 die Schule ab. Dank ihres Mundwerks setzt sie sich auch gegenüber ihren Eltern durch. Mit ihrem Vater führt sie so lange leidenschaftliche Diskussionen, bis er sie – im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern – in den Ausgang gehen und sogar von zu Hause ausziehen lässt. Sie bewegt sich in der alternativen Szene, spielt auf Friedensdemos, fährt zur Love Parade nach Berlin, feiert ausgelassene Partys – lebt wie ihre deutschen Altersgenossinnen.

Und ist bei allem, was sie tut, doch immer auf der Suche. Stets hat sie das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, zwischen den Stühlen zu sitzen. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Christentum, mit dem Buddhismus. Doch erst beim Islam fühlt sich sich «zu Hause». Sie beginnt fünfmal am Tag zu beten. Eines Abends, während des Gebets, bedeckt sie sich. «Da war ich plötzlich unbeschreiblich glücklich.» Auch wenn der erste Gang mit dem Kopftuch auf die Strasse Mut braucht – sie fühlt sich «irgendwie befreit». Weil sie keine halben Sachen mag, lautet ihr nächster logischer Schritt: keine Auftritte mehr – zumindest nicht vor Männern. «Im Koran steht zwar nirgends, ich dürfte nicht vor Männern singen. Aber ich fühle mich besser, wenn ich es lasse.» Eingeschränkt fühlt sie sich nicht, seitdem sie ein Kopftuch trägt. Ihre Hobbys - darunter Klettern und Snowboarden – übt sie nach wie vor aus. Nur eben – Kopf, Arme und Beine bleiben verhüllt.

Der Glaube hat ihr Sicherheit gegeben in ihrer Identitätssuche, sagt sie. Endlich fühlt sie sich nicht mehr zerrissen, fühlt, dass sie angekommen ist. «Ich war noch nie so glücklich in meinem Leben.»

Zum grossen Glück gehört auch ihr Mann – ein 10 Jahre jüngerer Japanologie-Student. Er hat kasachische Wurzeln, kennt das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, und ist praktizierender Muslim. «Das», sagt Hülya Kandemir, «war mir schon wichtig. Man muss sich austauschen können.» Genau wie sie hat ihr Mann seinen Glauben nicht vom Elternhaus mitbekommen. Erst aus eigenem Antrieb ist er darauf gestossen.

Der 11. September hat viel ausgelöst

Hülya Kandemir und ihr Mann verkörpern die Sehnsucht nach religiösen Werten vieler junger Menschen. Und sie stehen stellvertretend für eine Bewegung, die die zweite Generation muslimischer Migranten erfasst hat: Immer mehr von ihnen bekennen sich zu einem Glauben, den sie in ihrem Elternhaus oft nur rudimentär erlebt haben.

Die Terroranschläge vom 11. September spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Nicht nur, dass es für Muslime seither schwieriger ist, sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Religion zu bekennen: Seitdem Islam oft gleichgesetzt wird mit Gewalt und Terror, beschäftigen sich junge Menschen muslimischer Herkunft intensiver mit ihrem Glauben. «Weil so viel kritisiert wird, setzt man sich mehr damit auseinander», sagt Hülya. «Früher brauchte man nicht gross darüber nachzudenken.»

Religion als Halt, als Anker in der Orientierungslosigkeit – besonders wer hin und her gerissen ist zwischen zwei Kulturen, sehnt sich danach. Gepaart mit wenig Selbstwertgefühl sowie der Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden, kann dies jedoch auch zum Nährboden für Fundamentalismus werden. Eine Entwicklung, von der sich Hülya Kandemir distanziert. Zwangsehen, häusliche Gewalt im Namen des Islam – «das alles gibt es», sagt sie, «aber esbetrifft eine Minderheit – die jedoch leider das Bild in der Öffentlichkeit prägt».

Letzten November organisierte Hülya in München deshalb eine grosse Friedensdemo, auf der sich Muslime vom islamistischen Terror distanzierten. Sie will den Angst machenden Bilder, die über den Islam kursieren, etwas entgegensetzen – auch in ihrem Buch. Auf den letzten Seiten schlägt sie darin allerdings fast schon missionarische Töne an – doch ihr Credo ist klar: Zum Islam, wie zu allen anderen Religionen, so Hülya Kandemir, muss man sich aus freien Stücken entscheiden.

Sie selbst hat zwar der Bühne den Rücken gekehrt, nicht aber der Musik. Kinderlieder für eine CD zu komponieren, würde ihr gefallen. Welchen Weg ihr Sohn wohl einst einschlagen wird, ob er sich zum Islam bekennen wird? «Mei», sagt die Frau in tiefstem Bayrisch und schiebt eine hervorgerutschte Strähne unter das Kopftuch. «Man kann es nicht wissen. Zwingen werden wir ihn jedenfalls zu nichts.»

Hülya Kandemir: Himmelstochter – Mein Weg vom Popstar zu Allah. Pendo-Verlag 2005.

Quelle : http://www.tagesanzeiger.ch

Grüßle

 
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