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Geschrieben von Hashty am 04.09.2018, 0:25 Uhr

Ein Bericht aus dem Stern

Walter Wüllenweber

Kaum ein Leben ist so eng mit dem von Angela Merkel verbunden wie das von Sadan al-Abdallah. Sie kam vor genau drei Jahren zu Welt, am 28. August 2015, auf einer alten Decke, in einem Fußgängertunnel unter dem Bahnhof Keleti in der ungarischen Hauptstadt Budapest.

Monate zuvor waren ihr Vater Rakan und ihre Mutter Selda aus Syrien geflüchtet. Viele Kilometer des Weges musste das Paar zu Fuß zurücklegen. Der Vater trug den einjährigen Sohn Yazan auf dem Arm, die Mutter das Baby im Bauch. Völlig entkräftet erreichten sie Budapest. "Mein Körper war von der langen Flucht ausgelaugt", sagt Selda al-Abdallah. "Da ist das Kind plötzlich viel früher als erwartet gekommen." Sadan war viel zu dünn. Die Eltern fürchteten, sie würden das Mädchen verlieren.

"Yes we can"

Die Überlebensbedingungen am Bahnhof waren denkbar schlecht für ein schwaches Neugeborenes. Rund 3000 Flüchtlinge saßen dort bereits mehr als eine Woche lang fest, ohne fließendes Wasser, ohne medizinische Versorgung. Sie lebten von Nahrungsmittelspenden privater Helfer und mussten sich sieben Dixi-Klos teilen. Der Gestank war unerträglich. Krankheiten breiteten sich aus. "Transitzone" nannte das der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán. Ganz Europa flehte ihn damals an, die Katastrophe zu beenden. Ohne Erfolg. Am 4. September 2015 traf Angela Merkel schließlich die bedeutendste Entscheidung ihrer Kanzlerschaft. Und für das Leben von Sadan.

Einen Tag später saßen Rakan und Selda al-Abdallah im Sonderzug nach München, im Arm ihre apathische Tochter. Mit Blaulicht wurden sie vom Münchner Bahnhof ins Krankenhaus gebracht. Keinen Moment zu früh. Die Notärzte gaben alles. Danach musste Sadan noch eine Woche lang im Brutkasten aufgepäppelt werden. In jenen dramatischen Tagen im Krankenhaus in München traf der stern die Familie al-Abdallah zum ersten Mal und hat sie seitdem nicht aus den Augen verloren. Inzwischen lebt sie in einem malerischen Ort in der Nähe von Offenburg. Mit gespendeten Möbeln haben sie sich eine Zweizimmerwohnung eingerichtet. Vater Rakan arbeitet in einer Großbäckerei, seine Frau kämpft um die Anerkennung ihres Diploms als Agraringenieurin. Und Sadan? Das fröhliche Mädchen kann es kaum erwarten, nach den Sommerferien mit ihren Freundinnen den Kindergarten zu besuchen. "Angela Merkel hat unserer Tochter das Leben gerettet", sagt Selda al-Abdallah.


Die Tage im September vor drei Jahren, als das Schicksal von Tausenden Menschen wie Sadan eine Welle der Hilfsbereitschaft auslöste, waren der humanitäre Höhepunkt in der deutschen Geschichte. Und im selben Augenblick war dem ganzen Land bereits klar, dass es mit den Geflüchteten eine Jahrhundertaufgabe angenommen hatte, vergleichbar nur mit der Dimension der Wiedervereinigung. So was erledigt sich nicht in drei Jahren. Es ist also noch zu früh, um das Ergebnis der Flüchtlingsaufnahme abschließend zu beurteilen. Doch eine Zwischenbilanz zeigt schon jetzt: Angela Merkel wird mit ihrer Version des "Yes we can" Recht behalten.

Zwischen 2015 und heute stieg die Zahl der Beschäftigten von einem Rekord zum nächsten und wird nach dem Sommer erstmals die 45-Millionen-Grenze überspringen. Obgleich inzwischen viele Flüchtlinge in der Statistik mitgezählt werden, sank die Arbeitslosenquote um fast ein Viertel auf jetzt fünf Prozent. Die Finanzminister freuen sich jedes Jahr über Rekordeinnahmen. Die Kriminalitätsrate ist auf den niedrigsten Stand seit Anfang der 90er Jahre gesunken. Wenn künftige Generationen die heutigen Daten der Bundesrepublik analysieren, wird es ihnen schwerfallen, Anzeichen für eine Krise zu entdecken.

Die Normalität ist zurück

Außer in der Politik. Kein Bereich des deutschen Gemeinwesens wurde von den Flüchtlingen so grundlegend verändert wie der Politikbetrieb. Eine rechtsradikale Partei stellt die größte Oppositionsfraktion im deutschen Bundestag. Im Oktober, nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen, wird die AfD zudem in allen 16 Länderparlamenten vertreten sein. Das zwingt die anderen Parteien zu Koalitionen und Kompromissen, die sie noch vor Kurzem empört abgelehnt hätten.

Das Erdbeben in der politischen Landschaft und die Endlosschleife der Berichterstattung darüber erzeugen den Eindruck, das gesamte Land sei von den gut 1,5 Millionen Menschen, die seit 2015 in Deutschland Schutz suchten, ähnlich erschüttert wie das Regierungsviertel in Berlin-Mitte. Doch die hysterische Aufgeregtheit beschränkt sich inzwischen weitgehend auf jenen "Quadratkilometer Irrsinn". Das belegen zahlreiche Umfragen: Laut ARD-Deutschlandtrend ist eine satte Mehrheit von 56 Prozent der Deutschen der Ansicht, die Flüchtlingspolitik nehme in der politischen Auseinandersetzung zu viel Raum ein. Selbst 41 Prozent der AfD-Anhänger sehen das so. Bei der Frage nach den sieben wichtigsten politischen Themen belegt "Asyl" nur Platz sechs. Bei einer ähnlichen Umfrage der "Bild am Sonntag" kamen die Probleme der Zuwanderung auf Platz 13 von 20. Vor drei Jahren schlug das Stimmungspendel der Deutschen weit aus Richtung Willkommenskultur. Den kompletten Rückschlag verursachte die Silvesternacht 2015, als mehrere Hundert Frauen auf der Kölner Domplatte von meist nordafrikanischen Männern angegriffen wurden. Glaubt man den Umfragen, kommt das Pendel allmählich auf einer Position allgemeiner Gelassenheit zur Ruhe.

 
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