Rund um die Erziehung

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Geschrieben von Feelix am 08.06.2008, 11:54 Uhr

@MM

Liebe MM!

Hm, wie bringe ich „Sprache“ zu meinen Kindern, wie bringe ich Sprache „an“ meine Kinder? Kann „man“ das? Will ich das? Spannende Fragen. Nur leider fällt die Antwort bezogen auf das konkrete Geschehen hier in unserem Haushalt mit unseren Kindern für Dich vermutlich eher unbefriedigend aus. Vielleicht, weil Du sie ein paar Jahre zu früh stellst? (Unser Sohn ist vier, unsere Tochter zwei Jahre alt ;-) Ich will’s trotzdem mal versuchen …

Zunächst: ich glaube, Du hast ein wenig falsche Vorstellungen von "mir" bzw. „Feelix“, oder genauer: vom Unterschied zwischen der Art und Weise, wie ich innerhalb eines (logischen) Diskurses kommuniziere, der sprachliche Präzision m. E. nun einmal unerlässlich macht

--- weil ich in einem Diskurs verpflichtet bin, meinem Diskussionspartner meine Argumentation in ihrem Zustandekommen, d.h. in ihren Prämissen und Schlussfolgerungen, transparent, nachvollziehbar und im besten Falle auch plausibel machen. Etwas, das man sich zumuten muss, wenn man einen logischen Diskurs führen möchte … natürlich kann man es auch anders wollen und haben und ist dann eben Teilnehmer einer … sagen wir Meinungsmitteilsession (bei der "Argumente" oder Gedankengänge nicht stringent und logisch aufeinander bezogen, sondern lose und unbegründet nebeneinander gestellt werden). Was für andere völlig in Ordnung gehen und befriedigend sein mag, aber für mich (und per definitionem) nicht das Wesen einer Diskussion ausmacht und für mich persönlich weit weniger reizvoll ist ---

und der Art, wie ich mit meinem Mann bei der Urlaubsplanung, mit Kollegen und Mitarbeitern beim lustigen Feix, mit Freunden beim Grillen, und mit meinen Kindern in der Badewanne oder beim gemütlichen Gutenacht-Gespräch oder beim Auflösen eines Geschwisterstreits kommuniziere. Unterschiedliche „Sprachspiele“ mit unterschiedlichen Spielzielen und -regeln. Und ganz gewiss „spreche“ ich dann anders, „unpräziser“, als hier in diesem Forum. :-)

Du fragst:

„Interessant ist für mich eher die Frage, was hier eigentlich ‚von sich aus’ heisst, bzw. ob Kinder in Familien, wo viel Wert auf Reflektion, Argumentation, Diskurs/Diskussion gelegt wird, diese eben auch schnell ‚drauf haben’, von anderen aber manchmal so wahrgenommen werden, als würden sie zu irgendwas gedrillt?“


Zunächst: Ich fürchte, Du wärst ein wenig enttäuscht, wenn Du meine Kinder in ganz normalen unbelasteten Alltagssituationen sprechen hören würdest, MM. … Unphilosophischer geht’s nicht :-))

„Warum?“ – „So halt“ //„Hast Du schon mal überlegt, ob …?“ – „Doch egaaal.“ (Ähnlich nur undeutlicher darfst Du Dir unsere zweijährige Tochter vorstellen … ;-)

Andererseits: es stimmt schon, dass beide offenbar recht früh sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten finden wollten und auch gefunden haben. Was aber auch an völlig anderen Faktoren außerhalb ihres Elternvorbildes (Kindergarten, eine wundervolle, mitteilungsfreudige Kinderfrau …) gelegen haben kann.

Und eines stimmt sicher auch: wenn irgendeinem Mitglied dieser Familie hier etwas auf den Nägeln brennt, kommt es auf den Tisch und wird besprochen. Und wenn dieses „etwas“ für einen von uns von besonderer Bedeutung ist, hat das durchaus diskursive Züge. :-) Nicht um hier intellektuelle Sprachfeste zu feiern, sondern weil wir daran interessiert sind, einander zu verstehen und deshalb genauer, und manchmal eben n o c h ein bißchen genauer nachfragen und uns die Zeit dafür nehmen.

Und noch etwas trifft zu, MM: meine eigene Lust (und die ihres Vaters und zu keinem geringen Teil die meines/unseres Freundeskreises) am Gespräch im allgemeinen und auf (erkenntnis)gewinnbringend angelegte Diskurse im besonderen werde ich sicher nicht vor ihnen verbergen … können. :-)

Was mir aber ebenso wichtig ist: (Ich hoffe,) meine Erwartungshaltung in diesem Punkt geht gegen Null. Ich kann nicht sagen, welche „Sprachspiele“ meinen Kindern jetzt, wo sie sie zwischen ihren Eltern mehr oder weniger „passiv“ miterleben, am besten gefallen und an welchen sie, wenn sie es entwicklungsbedingt selbst einmal können, am liebsten teilnehmen werden … ob sie jemals Lust auf die diskursive Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Sachverhalt haben werden oder ob sie’s lieber mit "Meinungsmitteilsessions" halten?! Ich weiß es nicht – bin aber sehr gespannt … :-)



Hm, während ich das schreibe, überlege ich gerade, ob Dein Posting vielleicht nicht eigentlich an eine viel grundlegendere Frage rührt: Was ist Sprache? … oder: Wozu Sprache?

Schau Dich in diesem Internetforum „Rund ums Baby“ um, MM, und Du wirst quer durch alle Unterforen zu den unterschiedlichsten Tageszeiten (manchmal im stündlichen Wechsel) unzählige Weisen kennenlernen, wie hier Sprache verstanden und verwendet werden möchte:

Mal wird durch sie das Verbindende gesucht, mal das Trennende betont; mal wird sie tröstend, mal verletzend eingesetzt; mal schließt sie Menschen vom Diskurs aus, mal lädt sie Menschen zum Diskurs ein; mal geht es ihr um die Form, mal um den Inhalt der Botschaft; mal initiiert sie Kommunikation, mal beendet sie Kommunikation; mal zementiert sie Gruppenhierarchien, mal lockert sie sie auf; mal will sie burschikos-polternd zum Mitlachen einladen, mal fordert sie anrührend-leise zum Mitweinen auf; mal dient sie dem Zurschaustellen von Meinungsmacht innerhalb einer Forenclique (für mich persönlich der bizarrste und in manchen Minuten auch abstoßende Widerspruch eines öffentlichen Internetforums, in dem jedes „uns“/“wir hier“/“hier in unserem Forum“ eine ungeheure Anmaßung ist, weil sich die User-Zusammensetzung jedes Unterforums prinzipiell ja minütlich ändern könnte -- und es doch - aus durchaus nicht unerklärlichen Gründen ;-) – eher nicht tut, oder jedenfalls nicht in jedem Unterforum tut. Und ich frage mich, weshalb das in einem angeblich von knapp einer Millionen Menschen besuchten/geklickten Internetforum bisher 0 sichtbar anwesende User zum Nachdenken veranlasst hat), mal will sie ein Angriff auf diese Meinungsmacht sein … uff! Soo viele Möglichkeiten …

Deshalb vielleicht erst einmal: was ist Sprache denn für Dich, MM?

Mir persönlich fällt es sehr schwer, eindeutig und endgültig und in einer übersichtlichen Anzahl (;-) von Worten zu fassen, was Sprache für m i c h ist. Vielleicht, weil es bereits so viele vor mir auf so wundervolle Weise getan haben (s. Ludwig Wittgensteins „Linguistic Turn“ in der Philosophie …)
Folgendes finde ich schon mal einen außerordentlich gelungenen, recht aktuellen Versuch und ich möchte ihn Dir einfach anbieten. Vielleicht magst Du ja Deinerseits posten, was Du von ihm hältst:



„Peter Bieri: Was ist Sprache?

Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind. Bevor wir über Worte und Sätze verfügen, sind wir blind des kausalen Kräften der Welt ausgesetzt und werden von ihnen herumgestoßen. Mit dem Erlernen von Sprache ändert sich das grundlegend: Weil wir auf die Welt nun mit einem System von Symbolen reagieren können, wird sie zu einer verständlichen Welt, die wir uns gedanklich anzueignen vermögen.

Sprache gibt uns eine begriffliche Organisation von Erfahrung. Begriffe sind Prädikate, also Wörter in Aktion. Sie helfen uns, das Erfahrene zu klassifizieren. Anschauung ohne Begriffe und also ohne Sprache ist blind. Erst wenn wir ein Repertoire von Prädikaten haben, können wir etwas a l s etwas sehen und verstehen: als Maschine, als Geld, als Revolution. Sprache gibt uns eine System von Kategorien, das gedankliches Licht auf die Dinge wirft.

Indem wir eine Sprache lernen, lernen wir auch die Idee des Begründens. Begründen heißt schließen, und richtig schließen bedeutet, von einem Satz so zu einem anderen überzugehen, dass Wahrheit erhalten bleibt. [Wow!] Durch Sprache werden wir zu Wesen, die begründen können, was sie sagen – also zu denkenden, vernünftigen Wesen. Als solche sind wir fähig, das, was uns begegnet, aus seinen Bedingungen heraus verständlich zu machen. Bedingungen kennen, heißt Gesetzmäßigkeiten zu kennen, und die Idee der Gesetzmäßigkeit können wir nur haben, wenn wir darüber nachdenken können, was möglicherweise und was notwendigerweise der Fall ist. Auf diese Weise ist Sprache die Quelle von gedanklich transparenter Erfahrung einer verständlichen Welt.

Auch für das Verstehen anderer Menschen ist Sprache entscheidend. Einmal die eigene, in der wir uns die Gründe ihres Tuns zurechtlegen, dann aber auch die der Anderen, in der sie uns bestätigen oder korrigieren können. Sprache ist sowohl Ausdruck eines fremden Geistes als auch Brücke zu einem fremden Geist.

Dabei sind wir auf Erzählungen angewiesen, auf die sprachliche Vergegenwärtigung einer Situation und ihrer Entstehungsgeschichte. Das Verstehen eines Naturphänomens besteht darin, dass ich es als Fall eines Naturgesetzes darstellen kann. Anders bei Handlungen und ihren Gründen: Hier geht es nicht um die Anwendung von Gesetzen, sondern darum, die Handlung und ihre Gründe aus einer konkreten Situation heraus verständlich zu machen. Das kann ich nur, wenn ich die Situation durch eine Erzählung transparent mache, die auch erklärt, wie es dazu gekommen ist, sowohl was die Handlung als auch was die Gründe anlangt.

Jede Handlung ist eine Episode in einer Lebensgeschichte und bezieht ihren Sinn und ihre Vernünftigkeit aus dieser Geschichte.

[…]

Wir können nicht nur die Natur und die Anderen, sondern auch uns selbst verstehen. Sprechende und schreibende Wesen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu sich selbst, und ihr Erleben wird durch dieses besondere Verhältnis geprägt. Auch wenn es sich vor allen Worten auf bestimmte Weise anfühlen mag, etwas zu denken, wünschen und empfinden: Was g e n a u wir denken, wünschen und empfinden, wissen wir erst, wenn es uns gelingt, die Inhalte des Geistes in Worte zu fassen.

[…]


Die Sprache ist auch ein Medium der Einbildungskraft, sie beflügelt die Phantasie und lässt uns Geschichten erzählen, durch die wir uns selbst ausdrücken und besser verstehen lernen. Ich bin derjenige, dessen Erzählungen sich in Thema und Form unweigerlich in eine bestimmte Richtung bewegen.

Auf einer Reise notiert Max Frisch: „Ich kann’s nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht … Diese Obsession, Sätze zu tippen -“ Woher kommt diese Energie hinter dieser Obsession? Aus der Erfahrung einer besonderen Wachheit, die entsteht, wenn wir das, was wir fühlen und denken, in Worte fassen. Vieles, was wir erleben, taucht auf und verschwindet wieder, ohne dass wir es recht bemerken, und nicht selten wuchert es in uns gerade deshalb besonders heftig.

Eine Erfahrung zur Sprache zu bringen verhindert, dass wir nur ihre Opfer sind; wenn wir Worte dafür finden, entsteht eine erkennende Distanz, die wir als befreiend erleben. Auch das zeigt: Sprechende Tiere leben mit sich selbst ganz anders als stumme Tiere.

Was ich bis jetzt geschrieben habe, könnte man die positive Macht der Sprache nennen. Es gibt auch ihre negative Macht.

Sie ist dort wirksam, wo die Wörter das Verstehen verstellen und verhindern, statt es zu fördern. So geschieht es, wenn Wörter zu leeren Worthülsen werden und Sätze zu Parolen gerinnen. Sie sind sind dann nicht mehr eingebunden in den logischen Raum von Begründung, Kritik und Revision, sondern haben die unerbittliche Dumpfheit und Lautstärke von Fäusten, die auf den Tisch schlagen.

Und auch die leise Variante gibt es: scheinbar unauffällige, harmlose Wendungen und Metaphern, die uns gefangen halten, ohne dass wir es merken. Dazu gehört auch die verlogene Sprache der Diplomatie mit ihren Euphemismen, Schönfärbereien und sanften Lügen. Ob es am Stammtisch ist oder auf dem glänzenden Parkett der Diplomatie und Politiker: Hier wird alles getan, um kritisches Nachfragen und das Bedürfnis des besseren Verstehens zu ersticken und den Geist zu verkleben.

Neben Parolen gibt es noch eine andere Form, in der Sprache das Verstehen und die Aufklärung verhindern kann: durch leeres Geschwätz und etwas, das man sprachlichen Schutt nennen könnte: klebrige Sprachgewohnheiten, tradierte Kategorienfehler, verrutschte Bilder, leer laufende logische Partikel, unerkannte Redundanzen und ganz allgemein: das Fehlen von sprachlicher Wachheit und Übersicht.

[…]

Schließlich sprachliche Tabus: Es gibt die Wörter, aber man darf sie nicht gebrauchen. Nur sprechende Wesen können etwas auf diese gefährliche Weise verschweigen.

[…]“

(Aus: Zeit-Magazin „Leben“, vom 19.12.2007, S. 44-45)


Liebe Grüße, Feelix


p.s.: Peter Bieri, 63, Professor für Philosophie an der FU Berlin. Lichtenberg-Preisträger der Göttinger Akademie der Wissenschaften und Autor von „Das Handwerk der Freiheit“. Unter dem Namen Pascal Mercier hat er den Bestseller „Nachtzug nach Lissabon“ und „Lea“ veröffentlicht.

 
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