Rund um die Erziehung

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Geschrieben von AyLe am 05.06.2008, 21:32 Uhr

Gedanken zum Abend....

Hallo, Ihr Lieben,
wie einige von Euch mitbekommen haben werden, bin ich ja seit mehr als 5 Wochen zweifache Mutter. Die Dreierbeziehung läuft sich gerade erst warm, ich versuche meinen Sohn davon zu überzeugen, dass meine "neue Flamme" unsere alte nicht zum Erlöschen bringen wird. Aber das ist ein vielstimmiger Kanon wie "Froh zu sein bedarf es wenig" und endet manchmal auch im "circulo vitioso".

Dank meines Sohnes bin ich allerdings mittlerweile um mehrere interessante Erfahrungen reicher. Die ewige Diskussion um "gut und böse von Geburt an" und die Behauptung, Kinder seien außerstande zu manipulieren hat sich so für mich jedenfalls zwar nicht eindeutig, aber wohl eindeutig tendenziös erledigt.

In zahlreichen unterschiedlichen Situationen, in denen er sich unbeobachtet und im Austausch mit anderen Menschen - unter anderem auch seinen sekundären Bindungspersonen befand - konnte ich miterleben, dass mein Sohn sehr wohl durch sein Verhalten - angefangen von der Art zu sprechjen, über die Wahl der Worte, seiner Mimik und Gestik, bis hin zu den Bewegungen - zielgerichtet und intendiert die Personen manipuliert hat.

Er hat mich sehr viel gelehrt, nämlich dass jedenfalls mein Kleinkind seine Umgebung gut beobachtet und seine Beobachtungen planvoll in eigenes Verhalten umsetzen kann. Dies alles bringt mich zum Grinsen, es ist ein beruhigtes Grinsen, denn so weiß ich, dass mein Sohn jenseits von Gut und Böse sich seine Welt "so macht, wie sie ihm gefällt".

Und dazu gehört auch das manipulative Element.

Eine weitere Beobachtung und auch eigenes schmerzvolles Erfahren führten mich zu folgender Einsicht: Kinder können und wollen weh tun, wenn sie es denn tun. Sie wissen sehr wohl, dass ihr Verhalten dem Gegenüber Schmerzen zufügt oder zufügen kann. Denn diese Person reflektiert durch ihr Verhalten mehr als eindeutig und deutlich, dass Schlagen, Beißen und Beworfen werden mit Gegenständen nicht gerade angenehm sind. Eifersucht und Wut (wobei aus Eifersucht schnell die Wut fließt) sind Grund genug. Auch nach mehrfacher Aufforderung, die kleine Schwester nicht zu schlagen, nicht zu beißen und keine Dinge nach ihr zu werfen, blieb nur noch die Flucht nach hinten.... Die Notwendigkeit Prioritäten zu setzen (und hier ist der Schutz des hilf- und wehrloseren Menschen) lässt jedes noch so schöne Buchwissen verblassen.

Damit wären wir bei der nun wichtigsten Beobachtung und Erkenntnis:

egal, wie sehr sich Mutter und andere Menschen bemühen, jedes Bemühen ist "Jetzt". Will sagen, es gibt keine Speicherfunktion in (m)einem Kleinkind. Jetzt verbringe ich, verbringen andere jede freie Sekunde mit ihm, aber später ist nicht jetzt und damit ist jetzt so als hätte es nicht stattgefunden. Mein Kind ist ABSOLUT. (Ich bin nicht vermessen, das zu verallgemeinern, bin aber geneigt, das zu tun). Mein Kind ist egoistisch, es will kooperieren zum eigenen Nutzen, es ist damit nicht "böse", es ist halt einfach so! Punktum. Ohne jedes ideologische Blabla!

Ach, in diesem Zusammenhang noch eine kleine Randnotiz. Welch tolle Diskussionen haben wir hier geführt über "bloß nicht nein sagen" etc. Und was darf hier lesen?! Es gibt begeisterte Leser des neuen J.Juul Sellers "Nein aus Liebe"... Klasse, demnächst lesen wir "Hiebe aus Liebe"?! Natürlich ist letztere Bemerkung sarkastisch gemeint.
Und zu Juul möchte ich noch abschließend bemerken: schon einige Jahre zuvor hat Largo in seinem Buch "Kinderjahre" genau seine "neuen Erkenntnisse" festgehalten. Allerdings weniger "dramatisch". Hier trägt das ganze nur den Namen "Fit" und Misfit".

So, ich tauche dann mal wieder ein und unter....

In Liebe
AyLe

 
19 Antworten:

Re: Gedanken zum Abend....

Antwort von Jools am 05.06.2008, 22:07 Uhr

Liebe AyLe!

Herzlichen Glückwunsch zu Deinem kleinen Mädchen!

Ich finde es immer wieder sehr interessant, was Du schreibst.
Danke dafür!

LG Jools

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Re: Gedanken zum Abend....

Antwort von ny152 am 05.06.2008, 22:25 Uhr

ich bleibe dabei, unter 3 kann kein kind manipulieren. es nimmt seine bedürfnisse wahr und will sie unter allen umständen durchsetzen, auch mit einsatz von (aus erwachsenensicht) unfairen und aggressiven mitteln. auch das ist nicht ungewöhnlich, weiß man doch nicht erst seit freud, dass 2jährige über eine gehöriges potenzial an aggression verfügen. diese setzen sie aber nicht ein, um andere zu manipulieren, sondern aus reinem selbsterhaltungstrieb (siehe auch stichwort entthronung, ebenfalls freud).

kleiner tipp: je präsenter in dieser phase der vater ist, desto leichter fällt es dem erstgeborenen sich mit der situation zu arrangieren. der vater muss jetzt jede verfügbare minute intensiv mit seinem ersten kind verbringen, damit bei diesem nicht das gefühl entsteht, die mutter-säugling-dyade aus reiner selbsterhaltung sprengen zu müssen. wird der vater dieser aufgabe nicht gerecht (die sehr viel zeit und kraft fordert), dann wird es schwierig für alle beteiligten.

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Resonanz auf den "Tipp"

Antwort von AyLe am 05.06.2008, 22:28 Uhr

Hallo, ich darf versichern, dass der Vater sehr präsent ist! Der Kontakt ist seit der Geburt intensiv. Ich hatte und habe nie das Problem gehabt ihn zu einem Kontakt motivieren zu müssen. Wir beide sind als Elternteile die ersten Bezugspersonen - gleichberechtigt.

Und trotzdem bleibt meine Erfahrung. Wie ich schon schrieb: jenseits von Gut und Böse. Die Werte stammen von Dir. Ich habe dies tunlichst vermieden, denn darum ging es mir auch nicht.


In Liebe
AyLe

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Re: Resonanz auf den "Tipp"

Antwort von Feelix am 05.06.2008, 22:42 Uhr

Liebe Ayle,

ich weiß gerade gar nicht, was ich schöner finde: dass Du "hier" nach längerem mal wieder "Gedanken" von Dir dalässt --- oder dass Du doch nicht gleich wieder ein- und abgetaucht, sondern auch noch für "Resonanzen" auf Resonanzen Deiner Gedanken zu haben warst/bist(?).

Denn ist es nicht das, was "Denker" von Gurus unterscheidet, Ayle? ;-)

Einen schönen Abend Liebe Grüße, Feelix

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@Feelix

Antwort von AyLe am 05.06.2008, 22:56 Uhr

Hallo, Feelix,

so mancher Resonanzkörper schwingt länger als es schriftlich hier fixiert wurde ;) Die letzte Auseinandersetzung mit Butterflocke et al. hat lange nachgewirkt, allerdings ist das Klonen von Müttern besonders untersagt u.a. wegen der Gefahr von Chimären à la Mutterkuh *lach*, daher klingt so wenig in den Äther. Wobei der Äther insbesondere zeitlos ist und nach Einstein die Krümmungen sowieso die Planeten auf Spur und an Ort und Stelle halten - aber das ist ein anderes Thema :)

Bei näherer Betrachtung doch eine Verbindung: auch Mütter halten auf seltsame, undurchschaubare Weise ihre kleinen Planeten manchmal auf Spur *gg* und manchmal passiert eine Supernova oder ein schwarzes Loch saugt alles in sich auf!


LG,
eine Mutterkuh
- Muh -

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Re: @Ayle

Antwort von Feelix am 06.06.2008, 7:29 Uhr

Meine liebe Foren-Sphinx! (Die Schönste aller Chimären, wie ich finde)


Was soll ich darauf erwidern? … Mal wieder - unentschieden:

Supernovae sind mir lieber als schwarze Löcher. Sie sind heller. Definitiv. :-) Andererseits: zeigen sie das (wunderschöne) Ende einer Entwicklung an, schwarze Löcher „strahlen“ (angeblich ;-) weiter …



– Muh –
(Im Unterschied (! ;-) zu Dir im Produktionsstillstand)



p.s.: … Weil Du (schon ;-) Dr. Einstein ins „Erziehungsforum“ lädst: Der alte Einstein soll gesagt haben: "Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines. Ich glaube an Letzteres."

Meine Kinder auch – noch(, glaube ich.) Und ich immer – wieder.

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;-)

Antwort von +emfut+ am 06.06.2008, 8:39 Uhr

Liebe AyLe,

auch von mir die allerherzlichsten Glückwünsche zum neuen Familienmitglied.

Und schön, daß Du wieder da bist ;-).

Gruß,
Elisabeth.

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Sehr schön geschrieben!

Antwort von hasebär73 am 06.06.2008, 9:34 Uhr

Kann ny152 nur zustimmen.
Kinder manipulieren (bis zu einem best. Alter) nicht bewußt. Sie handeln nur aus Selbsterhaltungstrieb.
VG HB

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AyLe, du würdest dich wundern...

Antwort von hase67 am 06.06.2008, 10:34 Uhr

... wie sehr dir Juul aus der Seele sprechen würde.

Ich habe die Empfehlungen seiner Bücher, die ich hier gelesen habe, auch immer weit von mir gewiesen, weil ich Laberliteratur à la "Smart Love" o.ä. nicht ausstehen kann. Ich habe Juul einfach in diese Ecke gesteckt, weil die Buchempfehlungen immer aus "dieser" Mütterecke kamen.

"Nein aus Liebe" (ja, ich gebe zu, der Titel klingt bescheuert, so als stamme er aus der Loslös-Eso-Ecke) ist ein total pragmatisches Buch, in dem es um nichts anderes geht als um Authentizität, um klaren Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und damit Übernehmen von Eigenverantwortung im Umgang mit Kind und Partner, um eben nicht in die "Mami-macht-alles-was-du-sagst-Liebes-damit-du-nur-ja-nicht-verbogen-wirst-und-keine-Negativerfahrungen-machst"-Falle zu tappen. Juul sagt z. B. eindeutig, dass Kinder kooperieren, wenn man ihnen klare, unmissverständliche persönliche Botschaften sendet, und kein "Ach weißt du, Schatzi, ich weiß ja, dass du gerne mit mir spielen willst, aber Mami hat jetzt gerade gar keine Zeit, sei mir aber nicht böse, ja?" formuliert, um nur ja die Gunst des Kindleins nicht zu verlieren. Nein, er sagt: Es ist besser, sich eben nicht als aufopferungsvoller, alles erduldender Über-Mutter-Mensch zu gebärden, sondern klar zu sagen, was in einem vorgeht, dann eskaliert die Wut und der Frust im gegenseitigen Miteinander auch nicht.

Ich finde einfach, der Mann hat sehr recht, und ich habe hier vieles in klaren und prägnanten Worten ausgedrückt wiedergefunden, was ich selbst schon so empfunden bzw. zumindest erahnt habe.

LG

Nicole

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Bzgl. J.Juul - Hase67 spricht mir aus der Seele...

Antwort von MM am 06.06.2008, 11:15 Uhr

... - seine Bücher sind echt was anderes als die besagte "Laberliteratur" (sehr treffend, empfinde ich auch so ;-))!

Und ich möchte hiermit Feelix und AyLe (herzlichen Glückwunsch zur Geburt!) einen lieben Gruss schicken! Freu mich wieder mal auf interessante Diskussionen, wenn es Zeit und Umstände erlauben...

Bis dann - M.

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Nein

Antwort von mamaselio am 06.06.2008, 12:17 Uhr

In der Nein Diskussion ging es um den Umterschied zwischen aggressiven und defensiven Grenzen.

Ich kann mich gar nicht erinnern, dass da jemand dafuer plaediert hat niemals NEIN zu sagen.

Gruss
Christiane

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Gelesen und für gut befunden...

Antwort von AyLe am 06.06.2008, 12:32 Uhr

Hallo, ich darf den Ball zurück geben: habe bereits drei seiner Bücher gelesen und ja, sie sprechen mir aus der Seele. Allerdings darf ich hier doch bestimmt die Frage in den Raum stellen:

wie sieht es aus mit "Nein aus Prinzip" und "Nein aus persönlicher Grenzziehung"?! Gesetzt den Fall, Vati saugt staubt; heute hat er gute Laune und hat nichts gegen das mitsaugen, doch beim nächsten Mal hat er keine Zeit und verweigert die Mitarbeit, um dann das Mal darauf wieder zuzustimmen. Ist dann nicht die Verwirrung des Kindes komplett?? Ist das Kind hier nicht der Willkür von Mutter und Vater ausgesetzt???

Die Frage ist nicht ketzerisch gemeint, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung.

@mamaselio: oh, doch, es ging hier einst hoch her, nämlich in der Frage, wie formuliere ich das Verbot. Um Gottes Willen, bloß nicht das Wort Nein gebrauchen, schön umschreiben, eher ausdrücken, was man wünscht etc. Natürlich läuft es auf dasselbe hinaus. Aber dennoch war die ganze Diskussion gestelzt...

So, gehe jetzt kurz die Jalousien umsetzen :)

LG, AyLe

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Pong...

Antwort von hase67 am 06.06.2008, 12:44 Uhr

Hi AyLe,

nein, ich halte das nicht für Willkür. Menschen sind keine Maschinen, die jeden Tag gleich funktionieren, manchmal koche ich gern mit meinen Kindern zusammen, manchmal habe ich es aber auch eiliger, bin gestresst, möchte gern etwas abschalten... Ich habe schon immer irgendwie "versucht", das zu sagen (mit so einem latent schlechten Gewissen), aber es ist wirklich so: Je klarer und unverblümter ich sage: "Gestern fand ich's okay, heute mag ich lieber nicht, weil ich zu müde bin", umso eher wird es akzeptiert. Klar wird dann auch mal gemault, und ich verteidige meine Aussage, aber irgendwann ist es dann auch gut.

Juul schreibt ja übrigens, dass er und seine Frau längere Zeit am Schreibtisch gesessen hätten, während das Kind neben ihnen spielte und er es nach kurzem Hochnehmen immer wieder Runtergesetzt hätte. Meine Erfahrung ist mittlerweile - keine Ahnung, ob's mit an den unterschiedlichen Persönlichkeiten liegt, mein Sohn ist auch grundsätzlich autonomer - dass es viel einfacher ist, Zeit für mich und meine Arbeit von meinem Sohn einzufordern als von meiner Tochter, die ich als Kleinkind immer "aus schlechtem Gewissen" sofort bedient habe und nie zu ihr gesagt habe "Nein, es passt mir jetzt gar nicht". Annabelle zetert noch heute, wenn ich zu ihr sage, sie soll mich bitte kurz etwas fertig machen lassen, oder setzt sich mit anklagendem Blick an den zweiten Schreibtisch, bis ich fertig bin. Till macht das überhaupt nicht, aber bei ihm habe ich auch schon viel früher konsequent und selbstbewusst gesagt: "Nein, jetzt nicht. Setz dich ruhig neben mich und spiel, aber auf den Schoß nehmen oder mich zu dir setzen kann ich jetzt nicht."

LG

Nicole

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Re: Bzgl. J.Juul - Hase67 spricht mir aus der Seele... @MM :-)

Antwort von Feelix am 06.06.2008, 13:28 Uhr

... Liebe Grüße zurück, Feelix


p.s.: Wie ich (trotz festem Vorsatz, das Forenstreunen bei "RuB" zeit-und umständehalber eher einzuschränken statt auszuweiten ... ;-) sehe konnte, bist Du öfter im Unterforum KiGa anzutreffen --- durchaus auch bei "interessanten Diskussionen". :-))

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@Feelix nochmal...(+ evtl.@AyLe u.a.)

Antwort von MM am 06.06.2008, 14:18 Uhr

... Jaaa, diesen Vorsatz habe ich "eigentlich" auch, aber irgendwie lande ich doch immer wieder hier bzw, in einem der Unterforen - ich weiss auch nicht... ;-)

Was mir spontan an interessantem Diskussionsstoff jetzt gleich einfällt, wo ich Dich gerade hier getroffen habe:

Wie Du vllt. mitbekommen hast, hab ich mich hier vor kurzem etwas in die Nesseln gesetzt, da manche aus meinen Beiträgen zu erkennen meinten, ich würde mein Kind intelektuell (bzw. was Reflektion und Kommunikation der eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten angeht) überfordern. Dabei hatte ich eignetlich nur geschrieben, dass er das eben (von sich aus) tut, nicht dass ich das verlange - aber OK, ist jetzt egal

Interessant ist für mich eher die Frage, was hier eigentlich "von sich aus" heisst, bzw. ob Kinder in Familien, wo viel Wert auf Reflektion, Argumentation, Diskurs/Diskussion gelegt wird, diese eben auch schnell "drauf haben", von anderen aber manchmal so wahrgenommen werden, als würden sie zu irgendwas gedrillt?

Es kann ducrhaus sein, dass ich dazu neige, in der Hinsicht manchmal etwas zuviel zu verlangen bzw. die Fähigkeiten des Kindes als zu selbstverständlich hinzunehmen, ich versuche aber darüber zu reflektieren und es zu korrigieren.
Im Grundsatz finde ich es aber nicht falsch, sonden völlig natürlch, wenn ein Kind von klein auf lernt, dass Sprache dazu da ist, um etwas mitzuteilen, zu kommunizieren, und zwar (altersangemessen) so genau wie möglich - was es will, wie es ihm geht, was es doof findet, was gut - und warum, warum es dies will und nicht das... usw. Mit zunehmendem Alter dann halt immer komplexer.
Und das heisst ja nicht, dass man nicht trotzdem auch nonverbal kommuniziert (kuscheln, streicheln, umarmen...usw.) - schliesst isch ja zum Glück nicht aus!

Was mich interessiert, ist - wie siehst Du diesen Themenkomplex? Siehst Du da ein Problem bzgl. des Umgangs mit Kindern? Wie gehst Du (Ihr) damit um?

Denn ich würde mal schätzen (nach dem, wie präzise und reflektiert Du hier schreibst bzw. Dich darum ehrlich bemühst, zusammen mit Deiner "philosophischen Ader" (und/oder Beruf???)), dass das oben Angeführte für Dich auch sehr wichtig, um nicht zu sagen ein WEsenszug ist, den Du wohl kaum beim Umgang mit manchen Menschen (Kindern) ganz ablegst. Oder?

Wenn Du mal Lust und Zeit hast, Dich darüber auszutauschen, würde ich mich freuen!

@AyLe und andere natürlich auch gern :-)!

Bis dann also vielleicht, M.

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Nachtschicht :)

Antwort von AyLe am 07.06.2008, 1:42 Uhr

N'Abend, Nicole und natürlich auch allen anderen eine geruhsame Nacht *gg*,

meine Eltern sind nicht gerade liberale Erzieher - im Gegenteil, ihre Strenge ist relig. fundiert - aber eines haben sie so praktiziert, wie Du es in deinem Beitrag bzw. Juul in seinen Büchern skizziert, nämlich die authentische Grenz(er)ziehung, wenn ich das einmal so in einem Bonmot à la AyLe zusammenfassen darf ;)

Je nachdem, ob es ihnen Recht war, waren Handlungen und Verhaltensweisen, Einmischungen, Mitsprache etc. erwünscht und nach eigenem Ermessen in anderen Situationen wiederum wurden gleiche nicht zugelassen. In der Retrospektive kann ich Dir versichern, dass mich das als Kind sehr verunsichert hat. Ich wusste nie, woran ich bei ihnen bin. Sie kamen mir so wankelmütig vor. Auch wenn sie mir ihr Verhalten kurz erklärt haben oder aber ich evtl. ersehen konnte, woran es liegen könnte, hätte ich mir eine zuverlässigere, d.h. vorhersag- und für mich als Kind vorhersehbare Regel sehr gewünscht.Vllt. lag es auch an meiner Persönlichkeit, aber die Abweichung als Regel zu setzen, find und fand ich sehr, sehr anstrengend...

So kann eine ähnliche Erfahrung zu völlig unterschiedlicher Rezeption und Resultaten führen.

LG, AyLe

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Re: Nachtschicht :)

Antwort von Mama Heike am 07.06.2008, 16:41 Uhr

Liebe Ayle,

***Je nachdem, ob es ihnen Recht war, waren Handlungen und Verhaltensweisen, Einmischungen, Mitsprache etc. erwünscht und nach eigenem Ermessen in anderen Situationen wiederum wurden gleiche nicht zugelassen.***

Das ist ganz und gar nicht authentisch, sondern Lust- und Laune-Willkür.
Du kannst doch aber auch die Regel leben, dass dein Kinder generell und überall wenigstens angehört werden, dass also ihre Anliegen/ihre Person generell bejaht werden. Dann ist es für die Kinder wieder sehr eindeutig. :-)
(Und ich will jetzt keine Straßenverkehr-Parade-Beispiel hören, denn da habe ich die Erfahrung gemacht, dass auch da kein NEIN notwendig ist. Meine kleine Maus stand mal triumphierend auf dem Bordstein und ich habe an ihren funkelnden Augen gemerkt, dass sie loslaufen würde, wenn ich auch nur ein Verbotsschild hochgehalten hätte.)


***Ich wusste nie, woran ich bei ihnen bin. Sie kamen mir so wankelmütig vor.***
Von seinen Eltern enttäuscht zu sein, schleppe ich auch schmerzhaft mit mir rum.

***Auch wenn sie mir ihr Verhalten kurz erklärt haben oder aber ich evtl. ersehen konnte, woran es liegen könnte, hätte ich mir eine zuverlässigere, d.h. vorhersag- und für mich als Kind vorhersehbare Regel sehr gewünscht.Vllt. lag es auch an meiner Persönlichkeit, aber die Abweichung als Regel zu setzen, find und fand ich sehr, sehr anstrengend...***

Siehe oben: Die Gewissheit, immer Gehör zu finden, ist eine tolle Regel für alle Familienmitglieder.

Noch zu deinem Sohn: Wenn ein Geschwisterkind das andere schlägt, dann ist der kleine Schläger in einer tiefen "Bekümmerung“ gegenüber der Welt und will sie damit nur loswerden. Du wirst durch sein Verhalten natürlich auch bekümmert, denn wahrscheinlich weint das Baby. Es macht wirklich keinen Sinn, seine Bekümmerung los werden zu wollen, in dem man sie an einen anderen Menschen ungewandelt weiter gibt und dann alle bekümmert sind. (Das trifft auch auf den Fall zu, dass ein Kind völlig unbekümmert im Entdeckerrausch das größte Chaos anrichtet und von den Eltern erzieherisch zur Brust genommen wird.)

Ich halte rigorose Neins für einen äußeren Stützpanzer, wenn im Menschen keine ausreichende Wandlungsfähigkeit bei „Bekümmerung“ vorhanden ist. Wir alle wissen, das Lieblingswort von Kleinkinder ist NEIN, aber sollte es zum Lieblingswort von Eltern mutieren? Unterm Panzer haben wir doch viel mehr zu bieten.

Liebe Grüße
Heike

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Re: Gedanken zum Abend....

Antwort von BiggiMael am 08.06.2008, 0:05 Uhr

Hi Ayle, von mir auch einen ganz herzlichen Glückwunsch!

Jedenfalls gibt es bei Euch ein Problem, und es ist schade, dass das in der ganzen Philosophie ein bisschen untergeht.

Ich wäre in der Situation jetzt schon ein bisschen überfordert, muss ich dir ganz ehrlich sagen...
(bei mir Theorie, und ich beneide dich trotzdem ein bisschen um das zweite)

Eifersucht finde ich normal (und trotzdem ein Problem)... Aber Beissen, Schlagen und Bewerfen eines 5 Wochen alten Babies ist ein GROSSES Problem. Und ich stimme dir zu, er weiss, dass man mit einem Baby nicht so umgehen kann.

Wenn er dadurch bewusst manipuliert, was hat er gelernt, dadurch zu erreichen?
Nachdem du sagst, dass es bewusste Manipulation ist, heisst das, er hat durch die Reaktionen der Umwelt gelernt, dass er für sich einen Vorteil hat.
Welcher ist das?

Oder bezieht sich die Manipulation auf andere Situationen?

Ich glaube auch eher, dass dein grosser gerade ein bisschen in Not ist, und die Aktionen ein Hilferuf, einen Vorschlag habe ich aber leider nicht.
Ausser... wie alt ist er denn? Was darf er denn schon mithelfen?
Was kann er schon, und will er nie küssen oder knuddeln?
Aber ich glaube, diese Gedanken sind hier zu einfach gegriffen, ich meine, ich bin sicher, dass du ihn vorbereitet hast, und dass er bestimmte Sachen helfen darf, und du / Papa auch Zeiten speziell für ihn reserviert habt...

Ciao Biggi

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@MM

Antwort von Feelix am 08.06.2008, 11:54 Uhr

Liebe MM!

Hm, wie bringe ich „Sprache“ zu meinen Kindern, wie bringe ich Sprache „an“ meine Kinder? Kann „man“ das? Will ich das? Spannende Fragen. Nur leider fällt die Antwort bezogen auf das konkrete Geschehen hier in unserem Haushalt mit unseren Kindern für Dich vermutlich eher unbefriedigend aus. Vielleicht, weil Du sie ein paar Jahre zu früh stellst? (Unser Sohn ist vier, unsere Tochter zwei Jahre alt ;-) Ich will’s trotzdem mal versuchen …

Zunächst: ich glaube, Du hast ein wenig falsche Vorstellungen von "mir" bzw. „Feelix“, oder genauer: vom Unterschied zwischen der Art und Weise, wie ich innerhalb eines (logischen) Diskurses kommuniziere, der sprachliche Präzision m. E. nun einmal unerlässlich macht

--- weil ich in einem Diskurs verpflichtet bin, meinem Diskussionspartner meine Argumentation in ihrem Zustandekommen, d.h. in ihren Prämissen und Schlussfolgerungen, transparent, nachvollziehbar und im besten Falle auch plausibel machen. Etwas, das man sich zumuten muss, wenn man einen logischen Diskurs führen möchte … natürlich kann man es auch anders wollen und haben und ist dann eben Teilnehmer einer … sagen wir Meinungsmitteilsession (bei der "Argumente" oder Gedankengänge nicht stringent und logisch aufeinander bezogen, sondern lose und unbegründet nebeneinander gestellt werden). Was für andere völlig in Ordnung gehen und befriedigend sein mag, aber für mich (und per definitionem) nicht das Wesen einer Diskussion ausmacht und für mich persönlich weit weniger reizvoll ist ---

und der Art, wie ich mit meinem Mann bei der Urlaubsplanung, mit Kollegen und Mitarbeitern beim lustigen Feix, mit Freunden beim Grillen, und mit meinen Kindern in der Badewanne oder beim gemütlichen Gutenacht-Gespräch oder beim Auflösen eines Geschwisterstreits kommuniziere. Unterschiedliche „Sprachspiele“ mit unterschiedlichen Spielzielen und -regeln. Und ganz gewiss „spreche“ ich dann anders, „unpräziser“, als hier in diesem Forum. :-)

Du fragst:

„Interessant ist für mich eher die Frage, was hier eigentlich ‚von sich aus’ heisst, bzw. ob Kinder in Familien, wo viel Wert auf Reflektion, Argumentation, Diskurs/Diskussion gelegt wird, diese eben auch schnell ‚drauf haben’, von anderen aber manchmal so wahrgenommen werden, als würden sie zu irgendwas gedrillt?“


Zunächst: Ich fürchte, Du wärst ein wenig enttäuscht, wenn Du meine Kinder in ganz normalen unbelasteten Alltagssituationen sprechen hören würdest, MM. … Unphilosophischer geht’s nicht :-))

„Warum?“ – „So halt“ //„Hast Du schon mal überlegt, ob …?“ – „Doch egaaal.“ (Ähnlich nur undeutlicher darfst Du Dir unsere zweijährige Tochter vorstellen … ;-)

Andererseits: es stimmt schon, dass beide offenbar recht früh sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten finden wollten und auch gefunden haben. Was aber auch an völlig anderen Faktoren außerhalb ihres Elternvorbildes (Kindergarten, eine wundervolle, mitteilungsfreudige Kinderfrau …) gelegen haben kann.

Und eines stimmt sicher auch: wenn irgendeinem Mitglied dieser Familie hier etwas auf den Nägeln brennt, kommt es auf den Tisch und wird besprochen. Und wenn dieses „etwas“ für einen von uns von besonderer Bedeutung ist, hat das durchaus diskursive Züge. :-) Nicht um hier intellektuelle Sprachfeste zu feiern, sondern weil wir daran interessiert sind, einander zu verstehen und deshalb genauer, und manchmal eben n o c h ein bißchen genauer nachfragen und uns die Zeit dafür nehmen.

Und noch etwas trifft zu, MM: meine eigene Lust (und die ihres Vaters und zu keinem geringen Teil die meines/unseres Freundeskreises) am Gespräch im allgemeinen und auf (erkenntnis)gewinnbringend angelegte Diskurse im besonderen werde ich sicher nicht vor ihnen verbergen … können. :-)

Was mir aber ebenso wichtig ist: (Ich hoffe,) meine Erwartungshaltung in diesem Punkt geht gegen Null. Ich kann nicht sagen, welche „Sprachspiele“ meinen Kindern jetzt, wo sie sie zwischen ihren Eltern mehr oder weniger „passiv“ miterleben, am besten gefallen und an welchen sie, wenn sie es entwicklungsbedingt selbst einmal können, am liebsten teilnehmen werden … ob sie jemals Lust auf die diskursive Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Sachverhalt haben werden oder ob sie’s lieber mit "Meinungsmitteilsessions" halten?! Ich weiß es nicht – bin aber sehr gespannt … :-)



Hm, während ich das schreibe, überlege ich gerade, ob Dein Posting vielleicht nicht eigentlich an eine viel grundlegendere Frage rührt: Was ist Sprache? … oder: Wozu Sprache?

Schau Dich in diesem Internetforum „Rund ums Baby“ um, MM, und Du wirst quer durch alle Unterforen zu den unterschiedlichsten Tageszeiten (manchmal im stündlichen Wechsel) unzählige Weisen kennenlernen, wie hier Sprache verstanden und verwendet werden möchte:

Mal wird durch sie das Verbindende gesucht, mal das Trennende betont; mal wird sie tröstend, mal verletzend eingesetzt; mal schließt sie Menschen vom Diskurs aus, mal lädt sie Menschen zum Diskurs ein; mal geht es ihr um die Form, mal um den Inhalt der Botschaft; mal initiiert sie Kommunikation, mal beendet sie Kommunikation; mal zementiert sie Gruppenhierarchien, mal lockert sie sie auf; mal will sie burschikos-polternd zum Mitlachen einladen, mal fordert sie anrührend-leise zum Mitweinen auf; mal dient sie dem Zurschaustellen von Meinungsmacht innerhalb einer Forenclique (für mich persönlich der bizarrste und in manchen Minuten auch abstoßende Widerspruch eines öffentlichen Internetforums, in dem jedes „uns“/“wir hier“/“hier in unserem Forum“ eine ungeheure Anmaßung ist, weil sich die User-Zusammensetzung jedes Unterforums prinzipiell ja minütlich ändern könnte -- und es doch - aus durchaus nicht unerklärlichen Gründen ;-) – eher nicht tut, oder jedenfalls nicht in jedem Unterforum tut. Und ich frage mich, weshalb das in einem angeblich von knapp einer Millionen Menschen besuchten/geklickten Internetforum bisher 0 sichtbar anwesende User zum Nachdenken veranlasst hat), mal will sie ein Angriff auf diese Meinungsmacht sein … uff! Soo viele Möglichkeiten …

Deshalb vielleicht erst einmal: was ist Sprache denn für Dich, MM?

Mir persönlich fällt es sehr schwer, eindeutig und endgültig und in einer übersichtlichen Anzahl (;-) von Worten zu fassen, was Sprache für m i c h ist. Vielleicht, weil es bereits so viele vor mir auf so wundervolle Weise getan haben (s. Ludwig Wittgensteins „Linguistic Turn“ in der Philosophie …)
Folgendes finde ich schon mal einen außerordentlich gelungenen, recht aktuellen Versuch und ich möchte ihn Dir einfach anbieten. Vielleicht magst Du ja Deinerseits posten, was Du von ihm hältst:



„Peter Bieri: Was ist Sprache?

Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind. Bevor wir über Worte und Sätze verfügen, sind wir blind des kausalen Kräften der Welt ausgesetzt und werden von ihnen herumgestoßen. Mit dem Erlernen von Sprache ändert sich das grundlegend: Weil wir auf die Welt nun mit einem System von Symbolen reagieren können, wird sie zu einer verständlichen Welt, die wir uns gedanklich anzueignen vermögen.

Sprache gibt uns eine begriffliche Organisation von Erfahrung. Begriffe sind Prädikate, also Wörter in Aktion. Sie helfen uns, das Erfahrene zu klassifizieren. Anschauung ohne Begriffe und also ohne Sprache ist blind. Erst wenn wir ein Repertoire von Prädikaten haben, können wir etwas a l s etwas sehen und verstehen: als Maschine, als Geld, als Revolution. Sprache gibt uns eine System von Kategorien, das gedankliches Licht auf die Dinge wirft.

Indem wir eine Sprache lernen, lernen wir auch die Idee des Begründens. Begründen heißt schließen, und richtig schließen bedeutet, von einem Satz so zu einem anderen überzugehen, dass Wahrheit erhalten bleibt. [Wow!] Durch Sprache werden wir zu Wesen, die begründen können, was sie sagen – also zu denkenden, vernünftigen Wesen. Als solche sind wir fähig, das, was uns begegnet, aus seinen Bedingungen heraus verständlich zu machen. Bedingungen kennen, heißt Gesetzmäßigkeiten zu kennen, und die Idee der Gesetzmäßigkeit können wir nur haben, wenn wir darüber nachdenken können, was möglicherweise und was notwendigerweise der Fall ist. Auf diese Weise ist Sprache die Quelle von gedanklich transparenter Erfahrung einer verständlichen Welt.

Auch für das Verstehen anderer Menschen ist Sprache entscheidend. Einmal die eigene, in der wir uns die Gründe ihres Tuns zurechtlegen, dann aber auch die der Anderen, in der sie uns bestätigen oder korrigieren können. Sprache ist sowohl Ausdruck eines fremden Geistes als auch Brücke zu einem fremden Geist.

Dabei sind wir auf Erzählungen angewiesen, auf die sprachliche Vergegenwärtigung einer Situation und ihrer Entstehungsgeschichte. Das Verstehen eines Naturphänomens besteht darin, dass ich es als Fall eines Naturgesetzes darstellen kann. Anders bei Handlungen und ihren Gründen: Hier geht es nicht um die Anwendung von Gesetzen, sondern darum, die Handlung und ihre Gründe aus einer konkreten Situation heraus verständlich zu machen. Das kann ich nur, wenn ich die Situation durch eine Erzählung transparent mache, die auch erklärt, wie es dazu gekommen ist, sowohl was die Handlung als auch was die Gründe anlangt.

Jede Handlung ist eine Episode in einer Lebensgeschichte und bezieht ihren Sinn und ihre Vernünftigkeit aus dieser Geschichte.

[…]

Wir können nicht nur die Natur und die Anderen, sondern auch uns selbst verstehen. Sprechende und schreibende Wesen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu sich selbst, und ihr Erleben wird durch dieses besondere Verhältnis geprägt. Auch wenn es sich vor allen Worten auf bestimmte Weise anfühlen mag, etwas zu denken, wünschen und empfinden: Was g e n a u wir denken, wünschen und empfinden, wissen wir erst, wenn es uns gelingt, die Inhalte des Geistes in Worte zu fassen.

[…]


Die Sprache ist auch ein Medium der Einbildungskraft, sie beflügelt die Phantasie und lässt uns Geschichten erzählen, durch die wir uns selbst ausdrücken und besser verstehen lernen. Ich bin derjenige, dessen Erzählungen sich in Thema und Form unweigerlich in eine bestimmte Richtung bewegen.

Auf einer Reise notiert Max Frisch: „Ich kann’s nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht … Diese Obsession, Sätze zu tippen -“ Woher kommt diese Energie hinter dieser Obsession? Aus der Erfahrung einer besonderen Wachheit, die entsteht, wenn wir das, was wir fühlen und denken, in Worte fassen. Vieles, was wir erleben, taucht auf und verschwindet wieder, ohne dass wir es recht bemerken, und nicht selten wuchert es in uns gerade deshalb besonders heftig.

Eine Erfahrung zur Sprache zu bringen verhindert, dass wir nur ihre Opfer sind; wenn wir Worte dafür finden, entsteht eine erkennende Distanz, die wir als befreiend erleben. Auch das zeigt: Sprechende Tiere leben mit sich selbst ganz anders als stumme Tiere.

Was ich bis jetzt geschrieben habe, könnte man die positive Macht der Sprache nennen. Es gibt auch ihre negative Macht.

Sie ist dort wirksam, wo die Wörter das Verstehen verstellen und verhindern, statt es zu fördern. So geschieht es, wenn Wörter zu leeren Worthülsen werden und Sätze zu Parolen gerinnen. Sie sind sind dann nicht mehr eingebunden in den logischen Raum von Begründung, Kritik und Revision, sondern haben die unerbittliche Dumpfheit und Lautstärke von Fäusten, die auf den Tisch schlagen.

Und auch die leise Variante gibt es: scheinbar unauffällige, harmlose Wendungen und Metaphern, die uns gefangen halten, ohne dass wir es merken. Dazu gehört auch die verlogene Sprache der Diplomatie mit ihren Euphemismen, Schönfärbereien und sanften Lügen. Ob es am Stammtisch ist oder auf dem glänzenden Parkett der Diplomatie und Politiker: Hier wird alles getan, um kritisches Nachfragen und das Bedürfnis des besseren Verstehens zu ersticken und den Geist zu verkleben.

Neben Parolen gibt es noch eine andere Form, in der Sprache das Verstehen und die Aufklärung verhindern kann: durch leeres Geschwätz und etwas, das man sprachlichen Schutt nennen könnte: klebrige Sprachgewohnheiten, tradierte Kategorienfehler, verrutschte Bilder, leer laufende logische Partikel, unerkannte Redundanzen und ganz allgemein: das Fehlen von sprachlicher Wachheit und Übersicht.

[…]

Schließlich sprachliche Tabus: Es gibt die Wörter, aber man darf sie nicht gebrauchen. Nur sprechende Wesen können etwas auf diese gefährliche Weise verschweigen.

[…]“

(Aus: Zeit-Magazin „Leben“, vom 19.12.2007, S. 44-45)


Liebe Grüße, Feelix


p.s.: Peter Bieri, 63, Professor für Philosophie an der FU Berlin. Lichtenberg-Preisträger der Göttinger Akademie der Wissenschaften und Autor von „Das Handwerk der Freiheit“. Unter dem Namen Pascal Mercier hat er den Bestseller „Nachtzug nach Lissabon“ und „Lea“ veröffentlicht.

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