Entwicklung (Jores Beitrag)

Liebe KindlicheKaiserin,
ich habe mich bewusst aus dem Oktober Forum zurück gezogen (wie nach den ersten beiden Kindern auch), aber deinen Beitrag kann ich nicht unkommentiert lassen.
Es bricht mir wirklich das Herz, dass du so verunsichert bist. Ich habe ja nun einige Erfahrung bezüglich kindlicher Entwicklung (Facharzt Kinder- und Jugendmedizin, Weiterbildung Neonatologie, lange Tätigkeit im SPZ) und kann dir nur eins ans Herz legen. Verlasse das Forum... oder lies solche Beiträge nicht.
Um das mal anhand meiner Erfahrung für dich ein bisschen einzusortieren. Ich kenne Kinder die sich im 3. Monat drehen konnten, im 6. krabbeln und sitzen, im 9. frei laufen, mit 8 Monaten bewusst silbenketten formen konnten, aber ich habe noch nie (!) ein Kind erlebt, dass mit 5/6 Monaten selbst aus einem Becher trinken kann. Die allermeisten Kinder können zu diesem Zeitpunkt nicht frei sitzen. Und dann ein offenes, mit Wasser gefülltes Gefäß zu den Lippen zu führen und so anzuheben, dass das Wasser im Mund landet und geschluckt werden kann, das ist „übermenschlich“. Ich habe bewusst dieses Beispiel gewählt um zu verdeutlichen, dass es vielleicht anders ankommt als beschrieben. Vielleicht sitzt dieses Baby nicht allein? Sondern gestützt auf dem Schoß der Eltern, im Hochstuhl oder in einer Wippe? Vielleicht halten die Eltern den Becher und heben ihn an? Vielleicht läuft viel mehr Wasser wieder aus dem Mund als geschluckt wird?
Aber das findest du hier nicht. Für dich bleibt übrig: Kind trinkt aus dem Becher. Dadurch löst das bei dir -und vielen anderen Müttern offensichtlich- genau das aus, was deine Familie bemängelt. Dir wird vorgeworfen, dass du dein Kind schlecht redest. Mal davon ab, dass die Aussage wohl kaum dienlich ist, es stimmt leider. Man beginnt ganz unwillkürlich sein Kind viel defizitorientierter zu betrachten als man es ohne dieses Forum gemacht hätte.
Ich möchte dir ein Beispiel nennen: eins meiner Kinder konnte besonders früh Fahrrad fahren. Das war wirklich außergewöhnlich. Ein Vater in der Nachbarschaft sah dies und war ab dem Tag fast verbissen, seinem 2 Jahr älteren Kind das Fahrrad fahren beizubringen. Es war kaum mit anzusehen. Das Kind war einfach nicht so weit, Fahrradfahren zu koordinieren, in keinster Weise. So haben Vater und Kind über Wochen gelitten, gestritten, geschimpft, geweint und irgendwann dann hat es geklappt. Das Kind hasst bis heute Fahrrad fahren. Und der Vater sagte nach der ganzen Prozedur mal zu mir „ich wünschte, ich hätte euch (mich und meinen kleinen Radfahrer) nie gesehen, was wär mir da erspart geblieben?“
Mein Rat lautet also, Schütz dich und deinen kleinen! Du brauchst keine Vergleiche oder Tabellen, sicher keine Foren, in denen jeder schreiben kann was und wie er will. Vertrau deinem Bauchgefühl. Vertrau deinem Kinderarzt. Nimm die U‘s wie empfohlen wahr, geh unvoreingenommen rein. Kein Kind „fällt durch“, wir haben alle das Beste für das Kind im Sinne! Eltern und Ärzte. Und ja, es gibt Tabellen, wann Kinder etwa was können. Aber die sind nicht so simpel. Gute Entwicklungsdiagnostik besagt: mit 3 Monaten können sich nur sehr wenige Kinder drehen, mit 4 vielleicht 10%, mit 5 25%, mit 6 45% usw und mit 10 Monaten 95%. (Das sind willkürliche Zahlen um nicht für mehr Verunsicherung zu sorgen!) Nun ist es aber so, dass manche Kinder sich nie klassisch drehen, auch krabbeln nicht alle, Robben wird übersprungen, es gibt die berühmten Poporutscher, aber das kann nur jemand beurteilen, der es gelernt hat. Man muss das ganze Kind, die ganze Entwicklung sehen. Vertrau also bitte dem Kinderarzt. Bist du unsicher, bitte um einen Termin zur Entwicklungskontrolle.
Denn glaub mir, es ist SO viel schöner, sich über jeden Meilenstein zu freuen. Allein dein Gefühl macht so viel aus, was du deinem Kind damit vermittelst. Zwischen „ach wie toll, du kannst dich auf den Bauch drehen!“ und „endlich drehst du dich, du müsstest langsam schon krabbeln können“ liegen Welten. Und glaub mir, Kinder, egal welchen Alters, fühlen diese Stimmung. Stell dir vor dein Baby denkt sich: Huhu, Mama, ich seh dich, schau mal, ich komm auf die Seite! Und es erwartet von dir Freude und Begeisterung. Und erntet als Reaktion: warum kommst du noch nicht rum...
Erfreu dich an deinem Kind, freu dich über jeden Erfolg, egal welcher Art, es gibt so viele Dinge, die Kinder können, die nicht in irgendwelchen Tabellen auftauchen. Wie sie ganz erwartungsvoll jemanden ansehen und anfangen zu strahlen, wenn man sie dann anlächelt, wie sie ganz interessiert das Schattenspiel der Blätter im Wind auf dem Boden betrachten, wie ihr kleiner Kopf sich perfekt an deiner Schulter anlehnt, wie zwei ineinander passende puzzlestücke, wie sie immer kitzliger werden, wie sie auf ihre ganz individuelle Art zeigen können, was sie gern mögen.
Die Mutter einer kleinen Patientin mit Trisomie 21 sagte mal zu mir, dass die ersten Jahre mit ihrenm besonderen Kind die schönsten waren. Keiner hat erwartet, dass sie sich mit 6 Monaten drehen muss, oder mit 9 Monaten krabbeln. Als sie mit 24 Monaten laufen konnte waren alle hellauf begeistert. Das war für diese Mutter so befreiend. Daran merkt man mal, welchen Druck man sich ausgesetzt fühlen kann.
Man kann das nie ganz ausstellen -ich auch nicht- aber wenn du merkst, dass diese Vergleiche dich stutzig machen, dein Kind dir plötzlich „langsam“ vorkommt, dann meide sie so gut es geht.
Alles Gute, von Herzen, für dich und deine tollen Kinder!