Unsichere Bindung? Extremes Fremdel- und Anhänglichkeitsverhalten (11 Monate)

 Ingrid Henkes Frage an Ingrid Henkes Analytische Kinder- und Jugendlichen­psycho­therapeutin

Frage: Unsichere Bindung? Extremes Fremdel- und Anhänglichkeitsverhalten (11 Monate)

Sehr geehrte Frau Henkes, ich mache mir in letzter Zeit vermehrt Sorgen über die Bindung zu meiner Tochter M., die jetzt 11 Monate alt ist. Ich habe mir gerade den Artikel Ihres Kollegen Dr. Rüdiger Posth „Das emotionale Bewusstsein“ durchgelesen, speziell das 2. Kapitel zu Fremdeln und Anhänglichkeit (https://www.rund-ums-baby.de/entwicklung/emotionales_bewusstsein_2.htm). Nach dem Verhaltenstest von Ainsworth würde man meine Tochter denke ich in die „unsicher-ambivalente Bindung“ einordnen. Sie zeigt, seitdem sie ca. 8 Monate alt ist, ein extremes Fremdel- und Anhänglichkeitsverhalten und reagiert z.B. auf Berührungen durch wenig vertraute Personen mit heftigem Weinen, auch wenn sie dabei auf meinem Arm ist. Sie können sich vorstellen, wie schlimm Arztbesuche für uns sind/waren. Ein typisches Verhalten bei der U6 war: Starke Neugier, als wir alleine im Arztzimmer waren („Da, da, da!“) und sie wollte überall hingetragen werden; als jedoch die Arzthelferin den Raum betrat, verfiel meine Tochter sofort in Panik, die sich erst legte, als diese den Raum wieder verließ. Danach war meine Tochter emotional sehr aufgewühlt und wollte sich unter keinen Umständen nicht mal auf die Waage setzen lassen; sie klammert sich dann an mich fest. Dasselbe Verhalten zeigt sie, wenn wir sie wickeln oder generell absetzen wollen. Das wird fast jedes Mal sofort mit sehr lautem, panischem Schreien quittiert. Die Kinderärztin meinte, dass sie das Fremdeln selten so extrem gesehen hat. Auch wenn wir bei einer Mutter-Kind-Gruppe sind, zu der ich regelmäßig seit mehreren Monaten gehe, geht Hinsetzen nur, wenn M. auf meinem Schoß sitzt und sich dann ganz langsam (nach einer halben Stunde ca.) mal von mir weg bewegt und mit etwas spielt, wobei sie immer in einem Radius von 2-3 Metern von mir entfernt bleibt und es auch sofort registriert, wenn ich mich wegbewege. Der Ort, die anderen Babys und Mütter sind ihr seit vielen Monaten bekannt. Die anderen Kinder (alle im gleichen Alter) sind sehr viel offener und verhalten sich so, wie ich es altersgemäß erwarten würde und was in den Büchern immer als sicherer Bindungsstil beschrieben wird – sie erkunden den Raum, interagieren auch mit den anderen Erwachsenen und Kindern und kommen immer wieder mal zu ihrer „sicheren Basis“ zurück, um dann wieder aufzubrechen. Die anderen Mütter scheinen auch ziemlich unbedarft zu sein – ihre Kinder machen es mit, gleich nach der Ankunft auf den Boden gesetzt zu werden, während sich die Mütter erst mal einen Kaffee holen. Für mich ist das leider undenkbar. Auch zuhause zeigt M. extrem anhängliches Verhalten, das gefühlt immer schlimmer statt besser wird – ich kann kaum etwas aus der Küche holen, ohne dass sie in wirklich lautes Weinen mit Tränen ausbricht. Oft muss ich sie danach dann zur Beruhigung stillen. Auch weint sie z.B., wenn ich sie in die Arme ihres Vaters gebe oder wir autofahren. Das war alles überhaupt kein Problem bis vor ca. einem Monat. Ich stille momentan wieder so viel wie am Anfang – bestimmt achtmal pro Tag, wobei der Impuls nie von mir ausgeht, sondern von meiner Tochter. Wir haben im Alter von 6 Monaten mal ein Handzeichen etabliert, das für Stillen steht, und dieses wendet sie auch sehr zielstrebig an. Ich habe ihr es noch nie verwehrt, auch wenn es mich zunehmend nervt, da sie meistens nicht richtig trinkt, sondern nuckelt, beißt, zwickt, rumturnt, an- und abdockt… Es ist also mehr ein Nähebedürfnis, das ich ihr nicht verwehren will (auch wenn ich eigentlich schon vor einem halben Jahr gern abgestillt hätte, da auch die Nächte sehr bescheiden und mit dem Stillen verknüpft sind – achtmal aufwachen und nach der Brust verlangen ist keine Seltenheit). Ich merke, wie mir langsam die Kraft ausgeht und ich mich zuhause nur noch eingesperrt, extrem fremdbestimmt und müde fühle. Hinzu kommt jetzt auch noch das schlechte Gewissen, dass ich es scheinbar nicht geschafft habe, meiner Tochter ein sicheres Bindungsgefühl zu geben, obwohl ich wirklich alles dafür getan habe (Familienbett, stillen, nie weinen gelassen, versucht, auf alle Bedürfnisse schnell zu reagieren, Kitaplatz abgesagt). Immer, wenn ich etwas zum Thema Bindung lese, macht mich das traurig und frustriert. Wie ist Ihre Meinung dazu? Denken Sie, dass meine Tochter einfach nur sehr gefühlsstark ist und die Anhänglichkeitsphase etwas länger dauert als bei anderen Kindern? Oder sollte sie jetzt (mit 11,5 Monaten) bereits ein sicheres Bindungsverhalten zeigen? Woran kann es liegen, dass sie so extrem anhänglich ist? Einige weitere Fakten, die vielleicht zur Erklärung dienen können: M. wurde leider 4 Stunden nach der Geburt mit einer Neugeboreneninfektion auf die Intensivstation verlegt. Das Bonding und ein erstes Stillen direkt nach der Geburt konnten stattfinden, dann konnte ich sie aber 5 Tage lang nur für 2 Stunden pro Tag sehen; das hat mich sehr mitgenommen M. war kein Schreibaby – tatsächlich eher das Gegenteil davon (sie wollte wenig getragen werden; war am glücklichsten auf dem Rücken; ist von selbst eingeschlafen); das „problematische“ Verhalten besteht, seit sie etwa 8 Monate alt ist Mein Mann und ich waren beide seit ihrer Geburt permanent zu Hause (Mann selbstständig in Teilzeitjob; ich in Elternzeit), sodass immer jemand sofort auf ihre Bedürfnisse reagieren konnte – war das für sie „verwirrend“, weil immer jemand anderes (Mama oder Papa) da war, nicht nur permanent die Mutter? (ich weiß, das klingt nicht sehr überzeugend, aber es ist ein Unterschied zu den befreundeten Müttern, die alle allein zuhause mit Kind sind und deren Kinder scheinbar sicher gebunden sind) M. war seit dem 4. Monat einmal pro Woche zusammen mit ihrem Vater bei dessen Eltern; ich hatte in der Zeit „frei“ – kann das geschadet haben? Arztbesuche und Kranksein waren immer sehr schlimm für M. – zum Glück war sie bisher erst zweimal krank; aber alles, was wir an ihrem Körper tun (müssen), löst größte Panik aus; von harmlosen Nasentropfen und Fiebermessen bis hin zu schmerzhaften Prozeduren wie Blut abnehmen oder durch einen Katheter Urin entnehmen – alles wird mit gleich starkem Schreien quittiert; sie tut mir da so leid, aber es war leider nicht zu vermeiden Wir haben zweimal auf Anraten einer Schlafberaterin versucht, die Brust-Schlaf-Assoziation aufzulösen, indem wir versucht haben, sie durch Tragen/Streicheln/Singen in den Schlaf zu begleiten – dabei hat M. leider ca. 45 Minuten geschrien, sodass wir weitere Versuche unterlassen haben; wir waren zwar zu jeder Zeit anwesend und im direkten Körperkontakt, aber ich habe Angst, dass diese beiden Versuche so ähnlich wie „Schreien lassen“ gewirkt haben und wir damit ihr Urvertrauen zerstört haben Entschuldigen Sie bitte diesen langen Text – jedoch wollte ich mögliche Nachfragen bereits vorab klären und Ihnen ein umfassendes Bild meiner Situation schildern. Ich würde mich sehr über Ihre Einschätzung freuen (ich erwarte natürlich nicht, dass Sie mir ebenso ausführlich antworten – eine kurze Einschätzung wäre mir schon genug). Ich bin sehr dankbar für Ihre Arbeit!

von KathHey am 28.03.2024, 07:41



Antwort auf: Unsichere Bindung? Extremes Fremdel- und Anhänglichkeitsverhalten (11 Monate)

Guten Tag, Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben. Ich denke nicht, dass Ihre Tochter unsicher an Sie gebunden ist. Sonst wäre die starke Anhänglichkeit nicht erst mit acht Monaten aufgetreten. Es hat Ihrer Tochter auch sicher nicht geschadet, dass der Vater von Beginn an ebenfalls eine enge Bindung zur Tochter aufgebaut hat. Davon profitieren babys in der Regel. Die Großelternbesuche mit der zweitwichtigsten Beziehungsperson waren sicher unproblematisch. Die Situation nach der Geburt war für Sie beide belastend. Sie war jedoch notwendig und dauerte nur kurz. Danach haben Sie alles getan, um Ihrer Tochter Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Das hat die ersten schwierigen Erfahrungen überlagert. Ihre Tochter ist altersgerecht in die Fremdelphase gekommen. Es fällt ihr jedoch noch schwer, sich daraus zu lösen. Das können Sie akzeptieren. Wenig vertraute Menschen sollten Ihre Tochter nicht berühren. Es ist wichtig, erst auf andere Weise mit einem Kleinkind Kontakt aufzunehmen. Zudem sollte man die Signale des Kindes beachten. Das gilt m.E. für alle Kinder nicht nur für Ihre Tochter. Arztbesuche bilden hier natürlich eine Ausnahme. Diesbezüglich hat Ihre Tochter bereits schmerzhafte Erfahrungen gemacht, was erklärt, dass sie ängstlich und abwehrend reagiert. Sie kann ja noch keinerlei Einsicht in die Notwendigkeit des Untersuchens haben, sondern möchte das nur vermeiden. Zeigen Sie sich in solchen Situationen stark und halten Sie Ihre Tochter, damit die Untersuchung schnell beendet werden kann. Sprechen Sie beruhigend mit Ihrer Tochter. Ihre sichere Ausstrahlung hilft Ihrer Tochter, die Untersuchungen besser hinzunehmen. Mit zunehmender Entwicklung wird Ihre Tochter erkennen, dass die meisten Untersuchungen nicht schmerzhaft sind. Die derzeit starke Anhänglichkeit Ihrer Tochter an Sie, beruht möglicherweise darauf, dass Sie durch das Stillen die einzige Beruhigungsquelle für Ihre Tochter sind. Zur Ernährung benötigt Ihre Tochter das Stillen nicht mehr. Sie merken das daran, dass sie nicht richtig trinkt, sondern mit der Brust spielt. Einjährige kann man auch anders als mit der Brust beruhigen. Bieten Sie Ihrer Tochter einen Schnuller an oder nachts für eine Weile eine Flasche. Nähe und Körperkontakt kann man ohne Stillen herstellen. Wenn Sie die Stillsituation verändern, wird Ihre Tochter den Vater wieder mehr zum Beruhigen akzeptieren. Möglicherweise wird die Umstellung Ihrer Tochter schwer fallen. Einjährige kämpfen dann um "Ihre" Brust. Es kann Ihnen helfen, standhaft zu bleiben, wenn Sie diese "Besitzverhältnisse" zurechtrücken. Um eine gute Mutter zu sein, ist es auch wichtig, den eigenen Gefühlen wie Fremdbestimmtheit und Erschöpfung Beachtung zu schenken und hier für Abhilfe zu sorgen. Versuchen Sie, sich nicht an anderen Kindern zu orientieren. Gestehen Sie ihrer Tochter das Recht auf ein eigenes Entwicklungstempo zu. Unterschiede gleichen sich in den ersten Jahren meist von alleine aus. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ingrid Henkes

von Ingrid Henkes am 28.03.2024



Antwort auf: Unsichere Bindung? Extremes Fremdel- und Anhänglichkeitsverhalten (11 Monate)

Liebe Frau Henkes, vielen Dank für Ihre schnelle und beruhigende Antwort! Ich schätze Ihre Arbeit in diesem Forum wirklich sehr. Ich wünsche Ihnen frohe Feiertage und werde versuchen, meiner Tochter mehr Zeit zu geben und sie nicht mehr so sehr mit anderen Kindern zu vergleichen. 

von KathHey am 28.03.2024, 13:48



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