Liebe Frau Simon,
meine Tochter ist 15 Monate alt. Sie war kein Schreikind, eher unkompliziert, schlief ab der 8. Lebenswoche tagsüber aber nur noch auf oder an mir, auch jetzt ist der Tagschlaf schwierig. Sie fremdelte bereits ab dem 3. Monat, mal mehr mal weniger und hat einen ausgeprägten Willen und Motivation - sie lief bereits mit 10 Monaten und spricht jetzt schon vielleicht 20 Worte verständlich (auch schwere, wie Katze oder Eichel). Auf ihre rasante Entwicklung habe ich immer ihr starkes Nähebedürfnis geschoben und dieses weitestgehend versucht zu befriedigen. Seit circa 5-6 Monaten ist es allerdings so, dass sie mich nachts schlägt, beißt und an den Haaren zerrt, wenn ich mal die Brust verweigere (sie stillt tlw 15-20 mal pro Nacht und wenn ich versuche zu reduzieren, endet das Nacht für Nacht in Geschrei - null gewöhnungseffekt!). Ihr aggressives Verhalten macht mich manchmal wütend und es ist schon vorgekommen, dass ich lauter und weniger sanft geworden bin (nie angeschrien oder geschlagen!!! Aber eben nicht so wie normal..).
Jetzt fremdelt sie seit circa 2 Wochen wieder extrem und ist sehr anhänglich, klammert an mir und verfolgt mich. Wenn ich zu ihr zurück komme, beruhigt sie sich sofort und auch im Kindergarten und bei Papa oder Oma ist es problemlos. Dennoch machen mir dieses Verhalten und ihre Aggression mir gegenüber Sorgen, ob ich unsere eigentlich so innige Beziehung zerstört habe.
Ich habe schon überlegt mit ihr zu einem Kinderpsychologen zu gehen, aber ich will mich in nichts verrennen und die Nadel im Heuhaufen suchen..
Mit der Bitte um eine Einschätzung oder einen Rat,
Liebe Grüße
Stefanie
von
Stefanie153
am 12.04.2019, 21:20
Antwort auf:
Unsichere Bindung oder Temperament?!
Liebe Stefanie
Ich gebe Deiner Vermutung Recht, dass Dein Kind Dich sehr intensiv braucht und Deine Nähe sucht, weil es sich über den Durchschnitt schnell entwickelt. Häuftig kollidieren hier die körperliche Entwicklung vs. der sozial/emotionalen Entwicklung. Dies kann man bei älteren Kindern ebenso beboachten. Verbaler Ausdruck, kognitive Transferleistungen und körperliche Entwicklung zeigen sich älter und reifer als das der eigentliche Altersdurchschnitt- das Resultat aus der Perspektive eines Erwaschsenen ist; dass eine entsprechende ( unbewusste) Erwartungshaltung des sozial/emotionalen Verhaltens an das Kind gerichtet wird in z.B. Bereichen wie Verantwortung, Konsequenzen ziehen, Umsicht etc..
Gerade Kinder, die eine sehr offensichtliche "Disbalance" in diesen Entwicklungsparametern aufweisen, brauchen und suchen die intensive Nähe und den Schutz der Eltern oftmals viel stärker, als andere Kinder, die immer wieder in einen Ausgleich kommen oder nur vereinzelt Phasen haben, wo sie sich in einem erheblichen Ungleichgewicht der Entwicklung befinden.
Im Rahmen der rasanten Entwicklung Ihrer kleinen Tochter, vermute ich auch eine vorschnelle ICH Entwicklung- die sog. Trotzphase ( ich mag das Wort nicht)... besser: Willensbildung. Ihre Tochter zeigt sehr klar, dass Sie auf eine Verweigerung Ihrerseits mit einer deutlichen Einforderung dessen einhergeht. Plastisch übersetzt: die Szene an der Supermarktkasse o.ähnliche..
Was also kann getan werden?
- Du als Mutter stellst die Regeln auf
- bei körperlichen Aggressionen heisst es, ganz klar NEIN zu sagen und zwar authentisch. Ich habe Dich sehr lieb, aber mir tut es weh! Ich will! das nicht! Lass es bitte sein!
Begleitet von körperlichem Kontakt: setzen Sie sich z.B. aufrecht hin, nehmen die Hand weg und schau Deine Tochter an. Ggf. das Licht anmachen, so dass die Situation einen klaren eindeutigen Rahmen bekommt.
Ich vermute, Du verhälst Dich bereits genauso oder ähnlich. Und NEIN, es schädigt Eure Bindung nicht! Im Gegenteil, es zeigt Deiner Tochter klare Grenzen, an denen sie sich orientieren kann.
Deiner Tochter geht es gut :), andernfalls würde sie sich auch im Kindergarten oder bei den Großeltern verändert verhalten. Deine Kleine nimmt vermutlich sehr viele Informationen auf, hat eine ho he Wahrnehmung und braucht Deinen Schutz, um all dass zu verarbeiten.
Für Euren Weg daheim habe ich folgende Ideen:
- schau einmal nach dem Stichwort " High-need Baby oder hochsensibles Kind". Es ist nicht ganz identisch mit der Beschreibung Deiner Tochter- kann Dir aber dennoch hier und da ein paar Anregungen geben
- suche Dir eine Gruppe von " Langezeitstillenden". Hier gibt es ganz sicher praktische Erkenntnisse und Austauschmöglichkeiten, die Euch helfen können. Ggf. kann auch eine Telefonberatung schon eine Möglichkeit sein, die Euch Tipps bringen.
- desweiteren halte ich viel von einer Kinesiologischen Begleitung. Hier kann sehr umfassend bei Mutter und Kind geschaut werden, WARUM und WO eine Angst/ Sorge so vordergründig ist und Blockaden können gelöst werden
- Als Literaturtipp halte ich viel von zwei Büchern mit sinnhaft gleichem Titel:
" Erziehen in/ mit Gelassenheit" von Jesper Juul und/oder Christiane Kutnik
Diese Bücher nehmen sehr viel Druck aus bestimmten Situationen und bestätigen, dass das intuitive Handeln im " kleinen System" der Familie i.d.R. genau richtig ist.
Es wird auch die Perspektive eines Kindes eingenommen und geschaut, was ein Kind- insbesondere heute- an Einflüssen, Bezugsmenschen ( einer hohen Energie) tagtäglich ausgesetzt ist.
Ich wünsche Euch eine gute Zeit.
Bis bald und liebe Grüße von Katrin
von
Katrin Simon
am 14.04.2019