Mucksilia
"...Wir bewundern, wir ihr das macht und wollen nicht tauschen" ... hören wir leider immer wieder, auch von (eigentlich) lieben Menschen, die es nicht böse meinen. Gerade letzte Woche. Weiß nicht. Sehe ich nicht so. Er hat einen Pflegegrad und könnte vllt auch einen GdB bekommen. Aber trotzdem. Was meint ihr?
Laß sie reden. Niemand will mit irgendwem hier tauschen - denn es steht auch gar nicht zur Debatte. Wir haben unsere Kinder, die haben ihre! Und: Nein, unser Sohn hat keine Behinderung. Ich bin inzwischen ein großer Fan des Neurodiversitätsansatzes und habe unserem Kind klar gemacht, dass es nicht krank oder behindert sondern einfach anders ist. Und das Anderssein erstmal nichts schlimmes oder krankhaftes ist. Die Hochsensibilität der großen Schwester ist ihm ein gutes Beispiel dafür gewesen. Wenn die Etiketten im T-Shirt zu Heulkrämpfen führen und die Nähte an den Socken zu Blasen - dann ist das sehr anschaulich. Anschaulicher als das eigene ADHS. Liebe Grüße, Marén
Ich vermute bei mir auch ADHS (unser Sohn hat die Diagnose) und empfinde das sehr wohl als Behinderung. Eine Behinderung ist für mich etwas, das Menschen daran hindert, in dieser Welt gut zurecht zu kommen. Ich habe schon mein Leben lang das Problem, zu verplant, zu langsam, zu ungeschickt, zu vergesslich, zu impulsiv, zu wenig belastbar, zu verträumt, wenn es nicht passt, zu überempfindlich, zu schnell reizüberflutet, zu wenig in der Lage einzuschätzen, wie lange eine Aufgabe dauert, zu wenig multitasking-fähig... Hochsensibilität gibt es für die meisten ADHSler gratis noch oben drauf. Damit wurde ich ebenfalls "beglückt". Die Schule und das Arbeitsleben ist mit solchen Eigenschaften ein Problem. Ich selbst bin zur Zeit schon mit einem läppischen 20-Stunden-Job bedient, der mir eigentlich Spaß macht, mich aber trotzdem so fordert, dass ich nach Feierabend das Gefühl habe, mich hätte ein LKW überfahren. Ich werde mit dem Alter auch immer weniger belastbar. Unser Sohn (15) kann in der Schule sein Potential nicht abrufen. Er liegt knapp unter der Hochbegabung. Wenn man die ADHS-bedingte grottenschlechte Verarbeitungsgeschwindigkeit rausrechnet, wäre er hochbegabt. Er ist wie ein Ferrari, bei dem während der Fahrt immer die Handbremse angezogen ist, außer wenn er mal super motiviert ist und in den Hyperfocus geht. Dann sieht der Rest der Welt nur noch die Rücklichter des Ferraris. Seine Schusseligkeit und Antriebslosigkeit etc. stört ihn mittlerweile auch selbst ziemlich. Je älter man wird, umso mehr wird einem das bewusst. Ich hoffe, wir bekommen für ihn demnächst Medikamente, die diesen Mist endlich einigermaßen in den Griff bekommen. Wenn man das für sich als "einfach anders" betrachten kann, herzlichen Glückwunsch. Wenn man das aber schon so definiert, gibt es überhaupt keine Behinderungen, jenseits von sehr schweren Behinderungen, mit denen man quasi gar nichts machen kann. Blinde, Rollstuhlfahrer, Menschen mit Down-Syndrom etc. sind alle nur "einfach anders". Das Problem ist immer das Umfeld, das nicht auf diese Menschen zugeschnitten ist. (Sollte ich irgendwo Buchstaben oder Worte vergessen haben, das gehört ebenfalls zu meinen Problemen. Deswegen muss ich alles, was ich schreibe, noch mindestens 3 mal durchlesen. Auf der sicheren Seite bin ich eher bei 5 bis 6 mal. Die Zeit, die das frisst, fehlt mir im Job anderswo. Aber das ist wohl auch "einfach nur anders".)
Mein Bruder hat ähnliche Probleme wie du. Nimmst du für dich Medikamente? Vielleicht würde Dir das sehr viel bringen. Hast du für die Müdigkeit und Schlappheit bei dir andere Ursachen ausschließen lassen (B12, D, Eisen, Schilddrüse)?
Ich habe ja schon der anderen Schreiberin geantwortet.
Wie Ihr mit den Bemerkungen der anderen Menschen umgeht, ist selbstverständlich Eure Sache.
Ich vermute, bei Eurem Sohn wird man auch als Außenstehender bemerken, dass er anders ist als andere. Aber ob man das als Eltern als besondere Belastung empfindet, ist natürlich indivduell, und andere Kinder können auch sehr anstrengend werden, wenn sie z.B. als Teenager in die falschen Kreise geraten oder den Rebellen auspacken.
Ich persönlich fände es hilfreich, wenn andere bei unserem Sohn (15) mal die Probleme sehen würden. Uns glaubt nämlich keiner, dass unser Sohn ADHS mit autistischen Zügen hat, weil der nie über Tische und Bänke gegangen ist und sich auch nicht wie Rain Man benimmt. Er hat vor allem Probleme mit der Konzentration, dem Antrieb, seiner schlechten Frustrationstoleranz und damit, Anschluss bei Gleichaltrigen zu finden, weil es ihm schwer fällt, passend auf andere zu reagieren. Ich persönlich finde ihn zur Zeit deutlich anstrengender als unsere Tochter ohne Diagnose, aber das ist vermutlich die Rache des Universums, weil ich als Kind auch sehr anstrengend war.
Einen Pflegegrad hat er übrigens nicht und den würde er sicherlich auch nicht bekommen.
Hallo, ich frage jetzt erstmal ganz neutral, welcher Teil dieser Aussage Dich stört. a) die Annahme, Euer Kind sei behindert b) die "Anerkennung" Eurer Alltagsleistung mit der gleichzeitigen Aussage: "Bin ich froh, dass es mich nicht getroffen hat." Ich nehme an, es ist eher a) Dazu mache ich mir gerade folgende Gedanken, weil ich quasi mittendrin stecke: Für uns als Familie ist das AD(H)S unserer Töchter erstmal keine Behinderung, so im ganz normalen Familienalltag. Das ADS der Großen macht sich - wenn überhaupt - nur in mangelnder Konzentration über einen langen Zeitraum bemerkbar. Die Kleine mit ADHS, Tourette und den ganzen Begleiterkrankungen hat es da deutlich heftiger erwischt. Sie ist in sehr vielen Bereichen anders als andere in ihrem Alter, das ganze Leben ist eine Herausforderung und viel zu oft auch eine Belastung. Nicht nur für sie, für uns alle. Zehn Jahre lang haben wir den Schulkampf geführt. Nicht wegen Bockigkeit, nein, aus Verzweiflung auf beiden Seiten. Auf den letzten Schulmetern haben wir einen Nachteilsausgleich beantragt. Nicht, dass er ihr faktisch etwas gebracht hätte, aber es ging um die Botschaft: Dieses Kind braucht Unterstützung und Rücksichtnahme. Da ist "etwas", es ist kein pubertäres Gehabe und ne Löwenmutter, die das Kind blind verteidigt (was ich nie getan habe). Für ihre beiden Pflichtpraktika sind wir hunderte Kilometer weit gefahren, haben uns vor Ort ein AirBnB angemietet - damit ihre Bedürfnisse erfüllt werden konnten. Ich kaufe seit 10 Jahren die beiden gleichen Wurstsorten und dasselbe Brot ein. Etwas anderes isst sie nicht. Keine Abweichung vom Bekannt-Bewährten. Ich bestelle Kleidung teilweise in den USA, weil sie mit bestimmten Stoffarten, Verarbeitungen, Schnitten, etc. nicht zurechtkommt. Die simpelsten Situationen werden zur Herausforderung, weil die Stimmung im Raum unerträglich ist - andere Anwesende bemerken das nicht mal ansatzweise. Ich könnte diese Liste ewig fortführen. Für uns ist und war das wie gesagt anstrengend, aber als Behinderung im gängigen Sinn haben wir das nicht empfunden. Unsere Tochter selbst kam vor ein paar Jahren mit dem überraschenden Satz um die Ecke: "Warum sagt eigentlich keiner laut, dass ich eine Behinderung habe?" Ich war baff, so hatte ich das nie gesehen. Aber ihre Begründung war bestechend einfach: Ihr ADHS (be)hindert sie darin, ihr Leben so zu führen, wie sie es gern täte. Seitdem gehen wir lockerer mit dieser Begrifflichkeit um. Dennoch hat es jetzt uns Eltern (ihr nicht) nochmal einen Stich versetzt, als die Ärztin uns dringend ans Herz gelegt hat, ihr im Rahmen der Suche nach einer Ausbildung (bei der sie auch eine gewisse Unterstützung brauchen wird), einen GdB zu beantragen. Es so schwarz auf weiß zu haben, ist dann halt doch nochmal was anderes. Ich habe ausführlich darüber nachgedacht und bin zu folgendem Schluss gekommen: Selbst wenn es in ihrem direkten Umfeld nicht als Behinderung empfunden wird, tut sich die Gesellschaft offenbar leichter mit Rücksichtnehme, wenn das Ganze einen Stempel hat. Gerade, wenn es um neurologische oder andere, nicht sofort sichtbare Einschränkungen geht. Wenn der Stempel "behindert" heißt, dann ist das so. Wir tun alles, was ihr hilft, ein Leben zu führen, das sie glücklich macht. Innen- und Außenwahrnehmung können also durchaus auseinandergehen. Die Frage ist vielmehr, was Euer Umfeld zu der Feststellung bringt, Euer Sohn sei behindert. Das würde ich glaube ich bei Gelegenheit mal ansprechen. Vielleicht hilft das, die Gesellschaftsmeinung ein bisschen besser zu verstehen. Zu b) würde ich sagen: Es ist Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, das, was man eigentlich sagen möchte, auszudrücken. Ich nehme an, man will Euch vermitteln, dass Ihr als Familie einen richtig guten Job macht. Punkt. Sorry, war jetzt ziemlich lang, ich hoffe, man kann rauslesen, worauf es mir ankam. LG daide
Hallo Mucksilia
ich war laaaange nicht mehr hier im Forum, deshalb antworte ich erst jetzt.
Eigentlich weißt du ja glaube ich schon, wie ich das sehe. Wir haben ja vor ca. einem Jahr den GdB beantragt. Pflegegrad hatten wir da schon länger.
Wie bei dir haben wir uns lange Gedanken darüber gemacht. Es fühlte sich irgendwie falsch an, meinen Sohn als "behindert" anzusehen. Es gab dann ja so ein Schlüsselerlebnis im Louvre in Paris, wo er ausgetickt ist angesichts der Menschenmassen und daher sein Lieblingsbild nicht richtig sehen konnte, was mit Behindertenausweis über einen gesonderten Zugang möglich gewesen wäre. Das hat mich zum Umdenken bewegt, denn da wurde mir klar bewusst, dass er in seiner Teilnehme am (in diesem Fall kulturellen) Leben wirklich "behindert" ist. Seine Alternative wäre dann zwar, eben einfach nicht an solche Orte zu gehen. Aber warum? "Nur" weil er ADHS hat? Deshalb kann er sein Interesse an Kunst etc. nicht ausleben?
Wir haben GdB 50 mit H und B zuerkannt bekommen. Manche ADHSler bekommen auch 70 aber wir haben keinen Einspruch eingelegt, weil das in der Praxis nicht viel verändert hätte. Wichtig sind H und B.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. Meinem Sohn habe ich es so erklärt: Wir sehen ihn nicht als behindert an, für uns ist ADHS eine Normvariante. Er IST nicht behindert. Aber er WIRD oft behindert und die Außenwelt versteht nichts von den Schwierigkeiten bei ADHS, sie braucht das Label "GdB", um gewisse Unterstützung zu gewähren. Wir nennen den Ausweis seinen "VIP-Ausweis" und ich achte darauf, ihn diskret zu verwenden.
Bei Lehrergesprächen ziehe ich ihn schonmal beiläufig aus der Tasche und frage neue, renitente Lehrer, ob sie meinen, dass ich den aus dem Kaugummi-Automaten habe. Ich hab den Eindruck, bei vielen macht es erst dann "Klick". Für die Außenwelt ist ADHS leider oft nur "bisschen zappelig und unerzogen" aber was da alles dahintersteht, begreifen die meisten häufig erst mit diesem Ausweis.
Liebe Grüße
Dezemberbaby
Guten MOrgen, ich finde es nicht schlimm zu sagen, daß ein Kindmit ADHS eine Behinderung hat (je nachdem wie stark die Einschränkungen im Alltag sind). Wenn die Kinder durch die Auswirkungen von ADHS nicht so am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können wie Kinder ohne ADHS und damit ihre Teilhabe (massiv) eingeschränkt ist, spricht eigentlich nichts gegen diese Formulierung. Das Kind verändert sich damit ja nicht für die Eltern. Liebe Grüße Kügelchen
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