Guten Morgen Hr. Dr. Posth,
wie kann es sein, dass ein Kind welches als Säugling schreien gelassen wurde, mit autoritären Mitteln und offensichtlicher Vernachlässigung "erzogen" wurde sich dennoch in jeglicher Hinsicht (jetzt 3,5 Jahre) zu einem in der heutigen Gesellschaft "perfekt" angesehen Kind (brav am Tisch, sozial integriert, immer lieb und "hört" sehr gut) entwickelt und ein Kind welches forumsgerecht behandelt wurde, sich schwieriger (normaler Trotz, soziale Integrationsschwierigkeiten) entwickelt?
Vielen Dank und schöne Grüße
ela
von
ela8
am 05.12.2011, 07:10
Antwort auf:
Welche Auswirkungen hat Schreien lassen?
Liebe Ela, dieses Thema hatten wir schon mehrfach hier im Forum, und ich habe mich dann regelmäßig bemüht, einen entscheidenden Unterschied in der frühkindlichen Entwicklung herauszustellen. Einmal gibt es das durch Vermeidung eigener Gefühle und Bedürfnisse erzielte, angepasste Verhalten beim Kind, welches von ihm zum Wohlgefallen der Eltern und anderer Erwachsener in kontrollierten sozialen Zusammenhängen gezeigt wird. Die Frustration aber, auf der dieses Verhalten aufbaut, wird mit den Jahren immer schmerzlicher, weil Unterdrückung im Gehirn Energie aufzehrt und zutiefst unzufrieden macht. So wie es im Gehirn ein Schmerzgedächtnis gibt, gibt es auch ein Angst- und Stressgedächtnis. Für beides sinkt die Schwelle bei zusätzlichen negativen Einflüssen.
Zum anderen gibt es das im Inneren des Kindes als harmonisch empfundene, auf der Basis eigener Gefühle und Bedürfnisse aufbauende Verhalten, das vielleicht etwas ungeschliffener erscheint, aber die Reife und soziale Anpassungsbereitschaft des Kindes auf Dauer fördert. Dieses Verhalten ist authentisch, also mit den Persönlichkeitszügen des Kindes in Übereinstimmung und führt zu einer gesunden Selbstkonstruktion. Das Selbst ist jener Teil unserer Persönlichkeit, denn wir alle der Gesellschaft präsentieren. Je mehr er unseren Anlagen und Reifezuständen entspricht, desto ausgewogener und verträglicher ist er, und zwar für immer.
Die einen Kinder werden mit der Zeit immer unglücklicher und unzufriedener und bauen diese Spannungen gegen sich selbst gerichtet oder gegen die Gesellschaft gerichtet ab (in schwerwiegenden Fällen Autoaggressionen, Depressionen, Suchtverhalten usw.). Die anderen aber empfinden viele Glückgefühle und ein seelisches Wohlbefinden und sind bereit, viel für die Gemeinschaft zu tun. Sie entwickeln sich auch neuesten Forschungserknenntnissen zufolge auch geistig viel besser. Wenn also die Seele nicht zieht, dann muss der Verstand her. Seit man das weiß, fangen auch autoritäre Erzieher an, sich über den richtigen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern Gedanken zu machen. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 05.12.2011