Hallo Herr Dr. Posth
Sie beschreiben in Ihren Antworten sehr gut die Folgen von "schreien lassen" bei den Kindern.
Diese Erziehungsmethode ist ja nun schon über mehrere Generationen üblich und müßte demzufolge in den vorherigen Generationen Störungen verursacht haben. Gibt es Studien oder sonstige Literatur zu dem Thema?
Wenn ich in meiner Familie argumentiere wie schädlich das "schreien lassen" ist, heißt es nur dass da ja viel mehr psychische Auffälligkeiten bei unseren Eltern u Großeltern sein müssten. Es ja eher so ist dass die heutige Elterngeneration und die heutigen Kinder vermehrt psychische Probleme hat.
Für eine Antwort zu dem Thema bin ich Ihnen sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Bee97
von
bee79
am 03.11.2014, 08:01
Antwort auf:
"schreien lassen" Folgen in vorherigen Generationen
Hallo, dies ist eine sehr komplexe Diskussion, das so ohne Weiteres keine sinnvollen Ergebnisse produziert. Man muss sich immer erst einmal darüber unterhalten, was man als psychische Auffälligkeit ansieht, wie man sie diagnostiziert und wie man den Zufriedenheitsgrad einer Generation überhaupt festgelegt. Die Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, von der wir zunächst einmal nur reden können, war und ist durchaus eine Generation mit einer auffallend hohen Zahl psychischer Störungen, wie sich aus Krankheits- und Arbeitsausfallstatistiken ergibt. Dabei ist die Zahl der psychosomatischen Erkrankungen besonders hoch. Das sind solche Krankheiten, die sich körperlich manifestieren aber psychisch verursacht sind. Diese Verbindung übersehen viele Menschen, wenn sie davon reden, ob eine Generation psychisch belastet ist oder nicht.
Natürlich ist nicht das Schreien-lassen allein die Ursache solcher späteren Störungen, aber das Schreien-lassen charakterisiert eine Umgangsweise mit dem Kind, die sich im weiteren Verlauf auch in anderen Be- und Erziehungsfehlern Ausdruck verleiht.Man kann es also als Vorhersagefaktor benutzen.
Ein weiteres Problem erschwert solche Vergleiche. Die Bindungstheorie entwickelte sich erst nach dem 2. Weltkrieg, übrigens auch durch die Erfahrungen mit den vielen Kriegswaisen (weltweit), die unter schweren Bindungsstörungen zu leiden hatten. Kinder in "Heimen" waren damals keine Seltenheit. Sie waren fast immer klassische Beispiele für gestörte Bindungen (durch Deprivation oft bis zur Desorganisation). Sie sind heute, wenn sie das alles überstanden haben, schon relativ alte Menschen. Aber erst jetzt erheben sie ihre Stimme und klagen die Betreuer an, die ihnen dieses Leben aufgebürdet haben. Bislang hat sie niemand mitgezählt.
Und dann ist da noch der massive Verdrängungsmechanismus bei den jetzt erwachsenen gewordenen, einstigen Kindern. "Was nicht sein darf, das nicht sein kann". Es wird sich schön geredet, was schrecklich war, weil es sonst nicht ertragen werden kann. Die strenge (autoritäre) Erziehung insgesamt hat diese Verdrängungsfähigkeit nur noch gefördert.
Was die Beziehungs- und Bindungsstörungen in der Kindheit an Folgen im Erwachsenenalter verursacht, lässt sich mit AAI (Adult attachment Interview) einigermaßen sicher erfassen. Aber wer hat sich dieser Untersuchungsmethode schon gestellt? Wer von den Erwachsenen hat sich überhaupt schon ernsthaft gefragt, ob seine Lebens-Unzufriedenheit, seine Beziehungsprobleme mit anderen Menschen, seine Ängste oder seine Neigung zu Depression etwas mit den Ereignissen in seiner Kindheit zu tun hat. Weiß er sie noch.oder kann er noch jemand fragen, der Zeuge von damals gewesen ist?
Sicher, das was hier in meinem Forum propagiert wird, muss sich auch erst in späteren Jahren als besser als das Frühere erweisen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Ergebnis sehr gut ausfallen wird. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 05.11.2014