Frage: Ergotherapie bei schlechter Selbstregulation?

Liebe Frau Windisch, mein Sohn ist Vorschulkind und wird im Juli 6 Jahre alt. Er war schon immer auffällig im Verhalten, was aber von diversen Kinderärzten mit "das verwächst sich" abgetan wurde. Mittlerweile ist das Familienleben dadurch aber stark belastet und ich möchte wissen, ob Sie nach u.a. Schilderungen eine Ergotherapie empfehlen würden? Nach meinen Recherchen könnte ein offener Moro-Reflex verantwortlich sein? Zumindest treffen (bis auf seine gute Motorik und seine Sprache) sehr viele Punkte zu. Ich habe wirklich Bedenken, dass ihm sein Verhalten in der Schule massive Probleme bescheren wird. Ein Termin beim Kinderarzt ist bereits vereinbart, aber ich befürchte eher, dass er uns da nicht ernst nehmen wird. Hier der Übersichtlichkeit halber ein paar seiner Auffälligkeiten: Geburt: sehr stressig, 38h, Saugglocke, daraus resultierendes Ödem am Kopf Empfindlichkeit bei auditiven Reizen: schon als Baby sehr Geräuschempfindlich (panisches Weinen bei Alltagsgeräuschen wie Staubsauger, Mixer, Anbraten in der Pfanne oder dem Singen der Kursleiterin der Krabbelgruppe), schnell überreizt (zeigte sich in den Nächten - wurde im SPZ dahingehend behandelt), bis heute Geräuschempfindlich (obwohl er selbst sehr laut ist – Hörtest war unauffällig)  Empfindlichkeit bei taktilen Reizen: Essen wurde als Baby/Kleinkind direkt mit dem Mund vom Teller aufgenommen, wollte Sand, Rasen, Farbe, Schaum nicht anfassen – weder mit den Händen noch mit den Füßen) Große Angst vor Kontrollverlust: verweigerte von ca. 2-3,5 Jahren vehement die Badewanne nachdem er dort einmal fast Pipi gemacht hätte, wollte partout nie ohne Windel laufen und teils war es ihm unangenehm oberkörperfreie Kinder anzuschauen (war schlagartig weg nachdem er trocken war), niemand darf in sein Zimmer außer der Papa zum Vorlesen oder ich zum Wäsche einsortieren – sein Bruder (2) darf überhaupt nicht rein oder seine Sachen anfassen sozial-emotionales Verhalten: Abneigung gegenüber allem Neuen/Veränderungen, Verweigerung von Medikamenten (egal wie groß seine Schmerzen sind), reagiert in augenscheinlich harmlosen Situationen (zuhause und in der KiTa) massiv über (schreit, brüllt, tritt, beleidigt), ist in seinen Reaktion sehr unreguliert und unverhältnismäßig, wird nicht gerne angefasst (rastet aus, wenn er unbeabsichtigt von jemandem berührt wird, sucht wenig Körperkontakt, sein Bruder (2) darf ihm nicht mal einen Kuss geben) sonstiges: extrem geruchsempfindlich Wirkt durch seine Lautstärke und sein Vokabular sehr selbstbewusst, traut sich aber wenig zu (sagt oft er habe keine Lust auf etwas, fragt man aber näher nach kommt oft er könne es eh nicht und will es deswegen gar nicht erst lernen) Musste nachts gepuckt werden, weil ihn bei der kleinsten Bewegung der Moro Reflex geweckt hat Hatte eine stark ausgeprägte Trotzphase (mehrmals wöchentlich Wutanfälle von bis zu 1 Stunde, oft ohne ersichtlichen Grund) gilt laut Kita als sehr pfiffig, hat ein großes Allgemeinwissen und hört gerne und viel "bildende" Hörspiele (wie was ist was Junior etc), TV gibt es nur 1x pro Woche, Tablet/Handy gar nicht Ich hoffe sie können hier eine Einschätzung geben und mir vllt auch Argumente/Alternativen nennen, sollte der Kinderarzt keine Dringlichkeit sehen. Herzlichen Dank und viele Grüße! Lisa

von LiR86 am 30.01.2024, 10:12



Antwort auf: Ergotherapie bei schlechter Selbstregulation?

Hallo, ja unbedingt, das klingt nach einem taktil und auditiv überempfindlichen Kind und sollte auf jeden Fall ergotherapeutisch behandelt werden! Das hat auch nichts mit "verwachsen" oder abwarten zu tun, denn 1.bestehen die Auffälligkeiten durchgehend seit dem Säuglingsalter und 2.automatisiert sich das Problemverhalten so nur weiterhin. Schildern Sie der Ki.arztpraxis den täglichen Leidensdruck vom Kind im Alltag, sprich Kita und häusliches Umfeld und bitten um eine ergotherapeutische Befundung der Sinnesbereiche (sensorische Integration, Reflexablärung, Regulationsstrategien). Sollte dies nicht ausreichen, bitten Sie die Kita um einen schriftlichen Bericht für den Ki.arzt/ärztin mit den Beobachtungen und Schilderung der Problemsituationen des Kindes und der Empfehlung zur ergotherapeutischen Abklärung. Das Verhalten des Kindes erzeugt einen Leidensdruck bei ihm und schränkt die Teilhabe in der Kita und die soziale Integration ein. Notfalls klappern Sie alle Kinderärzte der Umgebung ab. Nach Saugglockengeburten empfiehlt sich eine osteopatische Abklärung, da dies Auswirkungen auf den kleinen Körper hat (je eher desto besser, aber selbst jetzt würde ich das noch abklären lassen). Geben Sie in die Kita einen Lärmschutz mit, den er sich jederzeit selber holen kann, wenn es ihm zu laut wird, denn das beugt agressivem Verhalten vor. Taktil und/oder auditiv überempfindliche Kinder reagieren auf eine Überreizung oft mit aggressivem Verhalten, da Sie mit der Reizintensität überfordert sind. Sprechen Sie mit dem Erzieherteam ab, ob sich ihr Kind in "vollen" Situationen einen kleinen Extrabereich schaffen kann, z.B.beim Anziehen in der Garderobe, beim Sportraum, etc. damit weniger Berührungsreize und somit weniger Aggressionen entstehen oder es sich vor/nach dem Großteil der Gruppe anziehen kann. Wegen den Verhaltensauffälligkeiten bei seinem Zimmer und Veränderungen können Sie hier im Expertenforum Frau Henkes um eine Einschätzung bitten, ob eine psychologische Unterstützung für ihr Kind sinnvoll wäre. Auditiv überempfindliche Kinder sind selbst laut, was nur scheinbar nicht zusammenpasst, denn es gilt: Eigenaktivität hemmt Überempfindlichkeit. Sprich, ein Kind, welches Lautstärke von außen überfordert, ist selber laut, da es dann besser erträglich ist, denn das Gehirn ist nun selber aktiv mit der eigenen Steuerung beschäftigt und das macht die Außenreize erträglicher. Also ist bspw.das Haare gekämmt bekommen, abtrocknen,eincremen etc.schwierig, dann lassen Sie ihr Kind dies selber tun, da es dann als Reize für sein Gehirn besser erträglich ist. In Situationen, in denen er sich unwohl fühlt (weil laut,voll,nah,überfordert), bieten Sie ihm folgende Regulationsstrategien an: einen Knautschball ganz oft drücken, 2-3 Kaugummi gleichzeitig kauen (zuckerfrei, Druck auf den Kiefer), alles was mit Ziehen (z.B.Tauziehen), springen, drücken zu tun hat, bietet Tiefendruckreize und reguliert den Körper, also z.B. Schubkarre als Körperspiel, Hände kneten, Armdrücken, Körper abklopfen, Hampelmann, Sport, klettern, etc. Einfach gesagt wirkt es der Überreizung entgegen. Taktil überemfindliche Kinder tolerieren sanfte leichte Berührungen schlechter/es sind feste Berührungen wie bei einer intensiven Massage besser erträglich, da es wieder Tiefendruck bietet, also als Ritual tägl.z.B.abends einmal Pizza backen (mit Teig durchkneten auf dem Rücken) spielen, Abklopfen des Körpers, Abrubbeln, oder mit festem Druck ringförmig mit den Händen die Körperteile umfassen und drücken. Alles Gute, Kristin Windisch

von Kristin Windisch am 31.01.2024