Frage im Expertenforum Entwicklung von Babys und Kindern besser verstehen an Ingrid Henkes:

Geschwisterkrise

Ingrid Henkes

 Ingrid Henkes
Analytische Kinder- und Jugendlichen­psycho­therapeutin

zur Vita

Frage: Geschwisterkrise

Lilly03

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Sehr geehrte Frau Henkes, zunächst möchte ich mich herzlich für die Möglichkeit bedanken, hier meine Frage zu stellen. Wir haben seit jeher sehr mit der Impulsivität unseres großen Sohnes (4,5 Jahre) zu tun. Die Schreibabyzeit ist quasi direkt in eine heftige Autonomiephase übergegangen. Unternehmungen sind schon immer durch starke Wutanfälle begleitet, die teils bis zu einer Stunde andauern und dann nur noch in einer völligen Erschöpfung münden. Zudem ist er auch sonst schnell überreizt und hat ein eher "unzufriedenes Gemüt". Wir versuchen seine schlechte Laune wenig zu thematisieren, er wird aber von anderen Personen oft darauf angesprochen, warum er "so ein Miesepeter" sei. Extreme Ausmaße nimmt es nun seit der Geburt seiner kleinen Schwester (4 Monate) an. An einem Tag purzelt er quasi von einem Ausraster in den nächsten und ist gefühlt nie zufrieden. Zudem testet er momentan sehr unsere Grenzen und versucht Regeln im Familienalltag ständig zu übergehen. Man kann eigentlich fast sagen, dass sein Alltag Zuhause aktuell nur aus wüten, zerstören und aggressivem Verhalten besteht. Leider macht er da auch vor seiner kleinen Schwester nicht Halt, was mich natürlich oft in Anspannung versetzt (ich lasse die beiden natürlich nie alleine und begleite die Kontaktaufnahme zum Baby). Besonders triggern ihn hierbei Situationen, in denen sie meine Aufmerksamkeit einfordert, weil sie beispielsweise weint oder gestillt werden muss. Bisher konnte ich seiner Impulsivität i.d.R. ruhig und feinfühlig begegnen. Auch aktuell versuche ich mit ihm viel über die neue Situation zu sprechen, ihm jeden Tag Exklusivzeit einzuräumen (wir basteln, spielen oder gehen ohne Baby auf den Spielplatz). Allerdings geht es dann wieder los, sobald mich das Baby "vereinnahmt" und das macht den Alltag aktuell sehr schwer für mich, da natürlich auch die kleine Schwester Bedürfnisse hat. Die Kita zeichnet ein komplett anderes Bild von ihm. Dort wird er als introvertierter Junge beschrieben, der lieber beobachtet, zuschaut und nur mit wenigen Kindern spielt. Ansonsten ist er dort - was die psychischen Bedingungen betrifft - nicht auffällig (außer dass er seit Geburt seiner Schwester wieder einnässt und Windeln trägt - medizinisch haben wir das bereits abklären lassen, hier liegt aber kein gesundheitliches Problem vor). Allerdings hat er seit jeher sprachliche Entwicklungsverzögerungen und hinkt gleichaltrigen Kindern dort etwas hinterher. Da mich die Situation sehr belastet und ich ihm (und uns) gern helfen möchte, habe ich mich an eine Erziehungsberatungsstelle gewandt. Die hat mir nun empfohlen, mich aufgrund seines impulsiven Verhaltens an einen psychiatrischen Dienst zu wenden und eine Diagnostik zu veranlassen. Ich bin da allerdings etwas zwiegespalten, da ich ihm aktuell nicht noch mehr Baustellen zumuten möchte und ihm auch ungern das Gefühl geben möchte, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Würde eine Diagnostik in diesem Alter überhaupt was bringen oder ist sein Verhalten altersgemäß und mit Blick auf die aktuelle Situation sogar normal? Sofern relevant: Großeltern gibt es keine, Bezugspersonen sind ausschließlich mein Mann und ich. Mich würde Ihre Einschätzung zu unserer Situation sowie zur Empfehlung der Erziehungsberatungsstelle sehr interessieren. Herzlichen Dank!


Ingrid Henkes

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Guten Tag,  Ihr Sohn leidet sicherlich noch unter der Entthronung durch die Schwester und ist in heftiger Rivalität zu ihr. Darauf sind auch seine Aggressionen ihr gegenüber zurückzuführen. In dieser Phase haben die meisten älteren Kinder enorme Angst vor dem Liebesverlust der Eltern, der auf das Baby übergehen könnte. Sie versuchen daher, intensiv die Aufmerksamkeit der Eltern zu erlangen. Negative Aufmerksamkeit für unerwünschtes Verhalten sichert diese oft wirkungsvoller als positive Aufmerksamkeit. Ich finde das Verhalten Ihres Sohnes daher nicht ungewöhnlich. Ihr Umgang mit dieser Problematik Ihres Sohnes erscheint mir sinnvoll und hilfreich für ihn. Die Beobachtungen in der Kita zeigen, dass Ihr Sohn auch andere Verhaltensmöglichkeiten hat und nicht aggressiv reagieren muss. Es ist vorstellbar, dass er selber sich wünschen würde, in der Familie nicht so heftig und aggressiv reagieren zu müssen. Daher könnte eine Diagnostik durchaus hilfreich sein, zumal die Probleme bereits vor der Geburt der Schwester bestanden und sich nicht weiter verfestigen sollten. Sie können eine Diagnostik in einem sozial-pädiatrischen Zentrum oder bei niedergelassenen Kindertherapeut/innen durchführen lassen. Einen Kinderpsychiater müssen Sie dazu nicht aufsuchen. Ein Vierjähriger muss noch nicht genau wissen, um was es bei der Diagnostik geht. Sie können bestimmt eine Erklärung für Ihren Sohn finden, die für ihn keine neue Baustelle bedeutet. "Da arbeiten Leute, die herausfinden, was Kindern gut tut." Um dem möglichen Eindruck Ihres Sohnes, dass mit ihm etwas nicht stimmt, entgegenzuwirken, sollten sie sich verbitten, dass andere Leute Ihren Sohn einen Miesepeter nennen. Dem sollten Sie sofort und energisch widersprechen.  Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ingrid Henkes


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