Frage im Expertenforum Entwicklung von Babys und Kindern besser verstehen an Dr. med. Ludger Nohr:

Fehlende Bescheidenheit / Wertschätzung

Dr. med. Ludger Nohr

Dr. med. Ludger Nohr
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Frage: Fehlende Bescheidenheit / Wertschätzung

Mami_seit_2015

Sehr geehrter Herr Dr. Nohr, ich habe eine Frage zu meiner 6-jährigen Tochter. Mir fällt seit längerer Zeit auf dass es ihr an Wertschätzung fehlt. So gab es am vergangenen Samstag zwei Situationen: Sie war an ihrem Adventskalender und in dem Säckchen war eine kleine Schoko-Kugel, ein Aufkleber und Haarspangen. Nachdem sie die Sachen ausgepackt hatte, ging sie wortlos weg. 2. Beispiel: Als etwas kaputt gegangen ist hat sie festgestellt dass das ja nicht so schlimm sei weil man könnte es ja neu kaufen. Ich muss dazu sagen dass es uns finanziell nicht schlecht geht. Wir versuchen sie aber trotz unserer guten Situation materiell nicht zu verwöhnen. Heute am Nikolaustag hat sie sich darüber gewundert warum der Nikolaus dieses Jahr so wenig gechenkt hat. Es gab ein Buch, 2 Haselnüsse, eine Mandarine und ein Ü-Ei. Das ist eigentlich auch das übliche an Nikolaus. Jeweils in den Situationen habe ich verärgert reagiert. Wie können wir ihr Dankbarkeit beziehungsweise Wertschätzung beibringen? Ich freue mich auf Ihre Antwort. Liebe Grüße, Julia aus Berlin.


Liebe Julia, die fehlende Wertschätzung ist leider ein gesellschaftliches Phänomen geworden. Die Kinderzimmer sind voll, Neues ist nur für kurze Zeit interessant, der Wunsch nach allem was käuflich ist, wird immer größer. In einer solchen Zeit ist es schwer (aber möglich) dazu zu erziehen, dass Geschenke wertgeschätzt werden können. Der dauernde Vergleich mit anderen Kindern "die alles dürfen und alles haben" macht es den Kindern sehr schwer, sich auch ohne diese materiellen "Stützen" ausreichend wertvoll zu finden. Man braucht auch Selbstbewusstsein, um sich auch ohne all diese Konsumgüter im sozialen Umfeld zu behaupten. Viele Kinder leiden unter dem "weniger haben" und verwechseln es mit "weniger sein". Das ist nur durch das Vorleben und Hinführen auf andere Werte zu erreichen und auch da muß man die Enttäuschung und Verärgerung der Kinder oft aushalten. Eigentlich braucht man eigene Werte die man vermittelt und die man mit den Haltungen der Jetztzeit so verbinden muß, dass die Kinder nicht aus dem sozialen Kontext fallen. Es geht also um das richtige Maß. Dies ist ein hoher Anspruch und viel schwieriger, als einfach alles zu kaufen und zuzulassen. Aber es ist m.E. langfristig ungeheuer wichtig und hilfreich, dass die Kinder Wertschätzung lernen können. Dabei sollte man ihre Wünsche nicht entwerten, sie kommen aus der sozialen Umgebung und sind an sich nicht schlecht, müssen aber von den Erwachsenen eingeordnet werden. Das ist unsere Aufgabe, wie später auch das Gespräch über andere Wünsche, Ideen und Haltungen. Der altersgerechte Dialog (nicht die Dis-kussion)ist dabei wesentlich, damit man im Gespräch bleibt. Ziel ist nicht die jederzeitige Zufriedenheit der Kinder, sondern der Weg zu einer Haltung der Wertschätzung von Materiellem und Immateriellem oder, wenn man religiös ist, Gottes Schöpfung. Soweit in Kürze zu einer wesentlichen Frage des Umgangs mit unseren Kindern und der Welt, die ganze Bücher füllt. Dr.Ludger Nohr


Mary-Dori

Hallo, ich habe noch eine Idee, die ich für sehr wirkungsvoll halte: Umgebt euch mich Menschen, die bescheiden und wertschätzend sind. Häufig findet man Einstellungen bei den Menschen, die schon mal wirklich große Entbehrungen erlebt haben. engagiert euch mit eurem Kind gemeinsam in Flüchtlingseinrichtungen oder werden Patenfamilie für eine Familie mit psychisch krankem Elternteil, schaut mal gemeinsam bei der Obdachlosenhilfe vorbei und schaut, wie ihr mit an diesen Stellen betreuten Familien in Kontakt kommen könnt. Wenn euer Kind erlebt, wie ihr euch ernsthaft für die Bedürfnisse von Menschen, die nicht viel haben interessiert, wenn euer Kind strahlende Gesichter von denen sieht, die sich über ein Ü-Ei für jedes der Kinder und etwas emotionale Nähe wirklich freuen, dann denke ich das die Erkenntnis vom Wert der Dinge sich ganz allein einstellt. Mir wirken die Reaktionen eurer Tochter sehr passend zu ihrer Lebenswelt. Ich wünsche euch viel Freude und viele schöne Erfahrungen beim etdecken ganz anderer Welten direkt vor eurer Haustür. ;-)


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