Sehr geehrter Hr. Dr. Posth,
Ich bin begeisterte „Mitleserin" hier im Forum und möchte mich herzlich für Ihre Arbeit bedanken - Ihre Antworten und Langtexte haben mir schon sehr geholfen!
Ich habe auch eine Frage bezgl. des Verhalten meines Sohnes (10 Monate)
Schreibaby, s. temperamentvoll, s. sensibel, ersten 6 Monate rund um die Uhr im TT, Familienbett…Habe mich sehr bemüht - leider war ich jedoch auch öfters gestresst, müde, überfordert…
Wenn er bei seiner Oma war (bis max. 1 Std.), die er gut kennt und mag, verhält er sich sehr zurückhaltend: bei der Begrüßung sieht er mich nur sehr aufmerksam an, fast so als würde er mich nicht erkennen, erst nach ein paar Augenblicken reagiert er auf mich, krabbelt auf mich zu bzw. will zu mir auf den Arm..Dieses Verhalten ist mir nur in dieser Situation aufgefallen…Normalerweise sehr auf mich bezogen und recht anhänglich, zur Zeit auch leichtes Fremdeln…Was bedeutet dieses Zögern? Vielen Dank! Schöne Adventszeit! Mfg
von
ClaudiaJonas
am 09.12.2013, 07:14
Antwort auf:
Zögerndes Verhalten
Hallo, nach meiner Auffassung, aber auch der vieler anderer Autoren aus dem Bereich der Psychoanalyse, besitzt eine Säugling noch kein Ichbewusstsein in dem uns bekannten Sinn. Das heißt, der Säugling braucht immer eine feste und konstante Bezugsperson, um sich selbst irgendwie zu begreifen. Diese Person ist die primäre Bezugsperson oder 1. Bindungsperson (in der Regel die Mutter). Ist diese Person vorübergehend nicht verfügbar, benötigt der Säugling eine vertraute und zuverlässige Ersatzbezugsperson, sonst bekommt er -je nach Veranlagung- Angst und schreit. Echte Schreibabys schreien sogar bei der Mutter, solange keine innere Beruhigung einsetzt. Sie sind mit Sicherheit äußerst empfindsam und sicher auch sehr ängstlich veranlagt. Kolikbabys schreien auch, aber aus Gründen des Schmerzes, auch weil Schmerz Angst bereitet.
Im 2. Lebenhalbjahr setzt nun eine Ahnung ein, dass es doch ein Leben außerhalb des Überwachungskreises der Mutter gibt, ein Getrenntsein (wird z.B. durch Fortkrabbeln erfahren oder eben durch Verbleiben bei einer Ersatzbezugspersonen). Auch das setzt Ängste frei und verursacht -wieder je nach individuellen Voraussetzungen, wozu jetzt auch schon die ersten Lebenserfahrungen zählen, mehr oder weniger große Anhänglichkeit. Bei Rückkehr der Mutter setzt jetzt aber ein kurzer Erkenntnisprozess ein, der einer emotionalen Abstimmung innerer Erfahrungen und Gefühle entspricht. Man könnte das als eine Reorientierung in der primären Bindung bezeichnen. Sensible Kinder zeigen diese Reaktionen sicher sträker als seelisch robustere. Wenn man aber sehr genau hinguckt, dann zeigen eigentlich alle Kinder solche Verhaltensmuster. Spaßenhalber könnte man sagen, man sieht, wie das Kind nachdenkt. Viele Grüße und danke für Ihr Lob
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 10.12.2013