Guten Tag Herr Dr. Nohr,
letzte Woche hatte ich Ihnen bereits geschrieben wegen der Unsicherheit meines 3jährigen Sohnes in der Kita. Einen Punkt hatte ich noch nicht erwähnt: er ist etwas vorsichtiger als andere Kinder in Bezug auf Höhen (ab 2m), obwohl er motorisch völlig altersgemäß entwickelt ist und sich gern bewegt. Ich finde das o.k., aber laut den Erziehern spielt dies eine Rolle dafür, dass er draußen viel allein ist/spielt. Diese Perspektive stört m. etwas: jemand findet nicht den Anschluss, weil er etwas (noch) nicht kann oder nicht macht (survival of the fittest?), frage mich aber, woher diese Vorsicht kommt.
1) Auf Risiken weise ich ihn hin, z.B. Straßenverkehr u. dass Stecknadeln spitz sind, traue ihm aber viel zu. Allerdings muss ich teilw. bewusst darauf achten, dass ich ihn pos. bestärke und Freude zeige.
2) Kann es erblich sein? Der leibliche Vater ist teilweise recht vorsichtig. Epigenetisch? Papas ält. Brüder starben vor s. Geburt durch Pl. Kindstod und Ertrinken
3) An eine richtige Bindungsstörung (mögl. wg. Trennung v. Papa) glaube ich nicht richtig, da er gern und viel spielt, fröhlich ist.
Was könnte neben abendl. Gesprächen zur Klärung u. Lösung helfen? Ich will nicht, dass er längere Zeit einsam ist, aber Kitawechsel wäre wohl zu belastend.
Danke und Grüße
Mitglied inaktiv - 13.11.2018, 14:00
Antwort auf:
Nochmals Nachfrage zu Unsicherheit in der Kita
Hallo, nein, überfragt fühle ich mich nicht, weil Sie ein sehr häufiges Phänomen ansprechen und durch die Ergänzung auch einen wichtigen Hinweis gegeben haben. Durch Ihre eigene Erfahrung sind sie sensibilisiert und projizieren sicherlich auch eigene Erfahrungen auf Ihren Sohn. Das führt dann oft zu Schutzverhalten, das stützend gemeint ist, gleichzeitig dem Kind aber signalisiert, "du bist da unterstützungsbedürftig". Das verinnerlichen die Kinder vielleicht und es verstärkt ihre Unsicherheit. Diesen Kreislauf zu durchbrechen ist nicht einfach, da Sie selbst evtl.nicht auf ausreichende Erfahrungen zurückgreifen können.
Unterstützen Sie ihn wo es wirklich nötig ist und nicht "vorauseilend", zeigen Sie Freude, wenn Sie sich freuen (nicht bei jedem Alltagsverhalten), versuchen Sie ihm zuzutrauen seinen Weg in der Gruppe zu finden. Und wenn das nicht ausreichend klappt, sind auch die ErzieherInnen gefragt, vorsichtig helfend einzugreifen. Begleiten Sie seinen individuellen Weg, ohne dauernd an Ihre eigene Erfahrung zu denken (geht nie ganz) und Befürchtungen zu haben. Das ermutigt und gibt Raum für selbstbewusstere Erfahrungen.
Wir sprechen hier nicht von Vererbung im biologischen Sinn, sondern von sozialer Vererbung, also Lernen am elterlichen Vorbild. Und auch bindungsgestört scheint er nicht zu sein. Es ist also eine Menge gut und darauf sollten Sie aufbauen.
Alles Gute dabei.
Dr.Ludger Nohr
von
Dr. med. Ludger Nohr
am 14.11.2018
Antwort auf:
Nochmals Nachfrage zu Unsicherheit in der Kita
Unser Kind war mit 3 auch eher noch zurückhaltend, beobachtend. Motorisch hätte er alle Klettergeschichten in der Kita meistern können - hat es aber einfach nicht mit Höhe. Auch wir wurden darauf hingewiesen nach dem Motto "das müsste er aber können bzw. Spaß daran haben - alle anderen haben den doch auch". Ganz ehrlich? Ich habe dazu höflich genickt und mir gedacht "das wäre ja ganz schön langweilig, wenn alle Kinder gleich wären. Außerdem kann er es ja, er macht es nur nicht gerne - genau so wie ich selbst auch Dinge kann, aber nur tue, wenn es sein muss". Hätte ich das Gefühl gehabt, er möchte gerne, traut sich aber nicht, hätte ich ihn natürlich unterstützt - aber er fand das vollkommen ok, nicht mit der ganzen Horde auf dem Klettergerüst zu sein. Für mich ist das Individualität - aber ganz bestimmt kein Makel, den man wegerziehen muss. Genau so wie manche Menschen eben erst mal etwas länger brauchen, um ihren Weg in eine Gruppe zu finden und andere mitten rein platzen und laut "hallo, hier bin ich" rufen :-)
von
cube
am 13.11.2018, 15:04
Antwort auf:
Nochmals Nachfrage zu Unsicherheit in der Kita
Hallo Cube,
vielen Dank für Deine Antwort!
Ich lege auch viel Wert auf das Recht auf Individualität und darauf, dass Abweichungen nicht von sich aus als Problem gesehen werden.
Aber es ist eben auch die Frage wichtig, ob jemand unter seiner Situation leidet.
Vielleicht gehe ich auch zu viel von meinen eigenen Erfahrungen aus: ich bin selbst schüchtern bzw. genauer gesagt im Sozialen (teilweise sehr) unsicher, v.a. innerlich, v.a. wenn es um Gruppen geht, in denen ich sozusagen "Fuß fassen müsste". Es bestimmt schon mein Leben stark mit.
Traurig finde ich, dass schüchterne Menschen oft etwas zwischen die Stühle fallen, da ihr Problem nicht auffällt, sie nicht als störend wahrgenommen werden, sie aber möglicherweise ein Leben lang unter Randständigkeit, Kontaktarmut, Unsicherheit o.a. leiden. Je nach Umfeld werden ihre unter dem Schleier der Schüchternheit verborgenen Eigenschaften und Anliegen gar nicht richtig sichtbar/gesehen (Phänomen 'pflegeleichtes' Kind z.B.).
Jetzt sehe ich an meinem Sohn ähnliche Unsicherheiten und Verletzlichkeit wie bei mir und möchte ihm eine lange "Karriere" in dieser Richtung ersparen.
Sehr geehrter Herr Nohr,
vielleicht überfrage ich Sie da jetzt. Wahrscheinlich bleibt nur der lange Atem und Geduld und etwas mehr Sicherheit meinerseits. Ich sehe immer wieder, dass sich das lohnt. Aber ich werde es auch mal bei der Kinderärztlin ansprechen.
Viele Grüße an beide
nnmm
Mitglied inaktiv - 14.11.2018, 13:33