Tiara84
Hallo Frau Neumann, das Essverhalten unseres Sohnes (wird im Mai 2,5 Jahre alt) bereitet uns echt Sorgen. Egal, was wir kochen (und wir kochen meistens sehr bodenständig und kinderfreundlich), er weigert sich, überhaupt mal zu probieren. Stattdessen besteht er immer noch auf seinen Mittagsbrei (Gläschen ab 8. oder 12. Monat), aber auch da nur bestimmte Sorten, unbedingt ungesalzen und KALT. Wir haben schon alles mögliche versucht: Lustig angerichtet, Geschirr und Besteck wie die Großen, lustige Cocktailspieße zum aufpieksen, kalt werden lassen, fertige Kleinkindmenüs...keine Chance. Lasse ich die Gläschen ganz weg, endet es mit Leberwurstbrot und Leberkäsewürfel, was er sowieso schon ständig isst. Mit dem Brei bekommt er wenigstens noch eine kleine Portion Gemüse, welches er frisch überhaupt nicht isst. Obst mag er frisch lediglich Apfel, Banane und Mango, lieber ist es ihm auch da in Form von Obstgläschen oder Quetschie (da ist er allerdings dann auch nicht heikel und mag alle Sorten). Am Kauen kann es nicht liegen, denn er isst durchaus feste Sachen. Brot (v.a. Knäckebrot, Leicht&Cross), Würstchen ohne Pelle, Fleischwurst und Leberkäse in Stückchen, Breze, Kleinkindknabbereien (Maisstangen und ähnliches), Keks, Salzstangen/-brezeln. Zähne hat er auch bis auf den letzten Backenzahn alle (der letzte bricht gerade durch). Und Salz stört ihn nur im Brei. Momentan sieht sein Essensplan meistens so aus: Frühstück: Joghurt mit Obstmus und Hirsebrei gemischt, dazu knabbert er meistens Cini Minis oder isst ein Butterbrot Zwischenmahlzeit: manchmal Apfel/Banane oder Mango oder ein Stück Breze oder ein Quetschie (wenn wir unterwegs sind) oder Früchteriegel Mittags: Gläschen Mittagsbrei (220-250g), meistens noch einen 150g Becher Vanillejoghurt zum Nachtisch zum Sattwerden Nachmittags: die gleichen Snacks wie Vormittags Abendessen: Brot mit Butter und Leberwurst, Leberkäse, Breze mit Kräuterquark und meistens noch ein süßes Gläschen (Obstmus mit oder ohne Joghurt/Quark) Wie kann ihm vor allem Mittags das Gläschen abgewöhnen und an ein warmes, gekochtes Essen heranführen? Ich habe das Gefühl, dass es weniger der Geschmack ist, der ihn stört, als die Konsistenz und die Tatsache, dass das essen heiß ist/war. Könnte das ein psychisches Problem sein? Oder sollen wir ihm weiter den Brei geben und hoffen, dass er eines Tages von selbst zum Familienessen wechselt? Vielen Dank schon mal.
Hallo Tina84 der Essplan eures Sohnes ist abgesehen von seiner Vorliebe für Babygläschen zum Mittagessen durchaus gewöhnlich und durchmischt. Soweit ich das überblicken kann, sind alle Lebensmittelgruppen enthalten. Dein Kind hat ein nahezu vollständiges Gebiss, er kaut und er isst selbstständig mit einem guten bzw normalen Appetit, sofern er seine gewohnten Speisen bekommt. Euer Sohn zeigt zwar auch hier ganz spezifische Vorlieben, aber er isst. Soweit ich also hier, im Rahmen meiner Arbeit im Forum für Kochen für Kinder anhand deiner Schilderung das Verhalten deines Sohnes beurteilen kann, ist soweit alles in Ordnung. Wenn du allerdings weiterhin den Eindruck hättest, dass etwas nicht stimmen könnte, dann müsstest du natürlich mit eurem KiA sprechen. Er kennt dein Kind und kann den Entwicklungsverlauf (Ausbildung der motorischen Fähigkeiten, Reife, etc) u.a. besser bewerten. Hier folgt nun noch eine ausführlichere Antwort auf deine Frage: Ich beginne zunächst mit ein paar Fakten, die ich kürzlich gelesen* habe. Vereinfacht kann man sagen, dass ca 3/4 aller Kinder eine sog. Neophobie (eine Angst, neue Speisen zu probieren) haben, ergo sind nur ca 25% aller Kinder so neugierig, dass sie alles probieren und ggf essen, was man ihnen anbietet. Unter den 75% der Neophobiker gibt es nochmals 3 Untergruppen: 1. Kinder sagen "nein" – aber probieren doch 2. Kinder sagen "nein - probieren und bleiben bei "nein, mag ich nicht" 3. Kinder sagen "nein" und bleiben bei "nein, mag ich nicht" - ohne überhaupt zu probieren. Das zu essen, was Kinder kennen und ihnen schmeckt, gibt ihnen Sicherheit, und vermittelt ihnen Geborgenheit. Das ist einfach so. Es ist die oben erwähnte sog. Neophobie. Es ist die angeborene und evolutionär begründete Angst vor neuem und unbekanntem Essen. Die Neophobie wird am besten überwunden, wenn Kinder viele Gelegenheiten haben, andere essende Personen zu beobachten. Durch den vorhandenen Nachahmungsinstinkt wollen sie das gleiche essen und sie probieren kleine Mnegen von den Speisen, die andere Esser "voressen". Jede Anstrengung die Kinder zum Probieren bringen zu wollen sei es verbal oder durch Fütterversuche verstärke die Neophobie sogar. Je mehr euer Kind also in eure Tischgemeinschaft integriert ist, je selbstverständlicher das Essen ist, desto besser. Habt Spaß bei Tisch, esst leckeres Essen, gemeinsam, haltet die Atmosphäre bei Tisch gut, deckt den Tisch hübsch ein und nehmt euch Zeit. Dein Kleiner sollte viele verschiedene und vielfältige Esseindrücke sammeln können - ungezwungen und auf spielerische Art. Es darf alles dabei sein - von der salzigen Olive über Naturjoghurt, über Schokolade über scharfe Kresse über ... bis hin zum Hamburger. Und probieren ist überall erlaubt, wo sich die Gelegenheit bietet. Häufig ist es gar nicht Esstisch, sondern andernorts in unerwarteten Momenten. Alls das mündet in sog. gustatorische Erfahrungen - Essen, die Nahrung wird spielerisch erlebt - mit alle Sinnen. Eine Speise im Cafe findet häufig schneller Zuspruch, weil die ganze Atmosphäre mitwirkt. Eine entspannte Mama, freundliche Menschen ringsum, der Kuchenduft in der Luft, Zeit... Kinder verknüpfen all diese Erfahrungen mit dem Lebensmittel und dem Geschmack, einschließlich seiner Wirkung. Das prägt und Macht Spaß. Es geht um einen Eindruck. Wenn etwas gefällt, wird mehr gefordert . Es geht darum, den Geschmackssinn, die Geschmackswahrnehmung zu fordern und zu schulen. Je mehr Eindrücke dein Kleiner erhält, desto besser können sich sein persönlicher Geschmack, seine persönlichen Vorlieben herausbilden. Dein Kind braucht dafür keine große Menge zu essen. Sinnvoller ist hierfür vielmehr, dass die Speisen, an die sich dein Kind langfristig gewöhnen soll(te), immer und immer wieder auf den Tisch kommen und in kleinen Mengen probiert werden. Für die Gewöhnung und das Kennenlernen von neuen Speisen ist die Kontinuität wichtiger als die Quantität. Habe nun ganz viel Vertrauen in dein Kind, dass er sein Essensrepertoire langsam immer weiter ausbauen wird. Mein Tipp für dich: Lass die Gläschen weg. Diese braucht dein Kind nicht. Um die Umstellung etwas sanfter zu gestalten, kannst du an einem Tag in der Woche die Routine mit der Gläschenmahlzeit noch lassen. Mittelfristig solltet ihr auch diese abschaffen. Dein Kind ist groß genug, um sich an gewöhnliche Mahlzeiten zu gewöhnen. An neue Mahlzeiten kann er sich nur gewöhnen, wenn er immer wieder ausreichend Gelegenheiten bekommt, sich in die Tischgemeinschaft zu integrieren. Damit dein Kind nicht in eine Außenseiterrolle gedrängt wird, damit dein Kind frei an der Tischgemeinschaft teilhaben kann, muss er lernen, gewisse Regeln einzuhalten. Dazu gehört auch das Teilen. Wenn dein Kind beim Mittagessen Gläschen bekommt, solltet auch ihr Eltern davon etwas bekommen. Ihr könnt daraus ein Spiel gestalten: Euer Sohn gibt euch etwas von seinem Brei ab. Dafür bekommt er etwas von eurem Teller. Alle müssen alles probieren. Da der Brei sehr fad schmeckt, kannst du deine Portion würzen. Das kommentierst du in authentischer Weise mit einem "hmm, so schmeckt es mir besser, probier mal du, was sagst du? Findest du es so auch noch lecker?" Über einen spielerischen Zugang, im Gespräch, kannst du dein Kind zum Probieren hinführen. Ihr könnt ein Kuscheltier (oder Playmobilfiguren oder was auch immer dein Kind mag) an den Esstisch einladen und das Kuscheltier mit essen lassen. Dein Sohn könnte dem Kuscheltier Mittagessen anbieten. Schaue einmal, wie er das macht und agiere ähnlich. Biete neue Speisen immer auch mit bekannten Speisen an. So wie du es auch jetzt schon mit den Leberwurstbroten machst. Stelle die Brote für alle auf den Tisch. Lass deinen Sohn neue Speisen probieren, so lange und immer wieder, bis er sich an die meisten Sachen gewöhnt hat und mit isst. Das Fachwort dazu heisst: "soziales Lernen". Je mehr euer Kind bei euch Eltern sieht, was und wie ihr esst, desto mehr möchte er dem nacheifern. Dazu ist es gut, wenn es immer wieder die gleichen Sachen gibt. Denn der Gewöhnungseffekt kann dauern. Denn nur über das Probieren können neue Esserfahrungen gesammelt werden. Auf diesen Erfahrungen beruht genussreiches Essen und darauf basiert wiederum die Appetisteuerung. Kinder müssen sogar bis zu 10 mal etwas probiert haben, bevor sie es wirklich gut akzeptieren und sich an den Geschmack gewöhnt haben. Zum Probieren genügen oft schon kleine Mengen. Ein einziges Reiskorn, eine halbe Kartoffel, ein Löffelchen Kartoffelbrei... Ausspucken bei Nichtgefallen ist natürlich erlaubt. Koche also ruhig solche Sachen (kleinkindgerecht), die du und Papa gerne essen. Das ist eure Familientradition, eure Esskultur. Diese kulinarischen Erfahrungen prägen euer Kind langfristig. Er muss sich ein Geschmacksgedächtnis aufbauen. Das braucht Zeit. Es ist aber die Basis für den später daraus resultierenden Appetit. Diese Prägung hält ein Leben lang. Also dann Viele Grüße Birgit Neumann *nach Liliane Hanse, zitiert in Nathalie Rigal: La naissance du Gout
Tiara84
Vielen Dank für Ihre Einschätzung und ausführliche Antwort. Es ist schon mal beruhigend, dass die Essvorlieben meines Sohnes gar nicht so einseitig sind, wie ich dachte. Die Idee mit dem Brei teilen und dem Spielzeug werden wir mal ausprobieren. Allerdings bin ich noch etwas skeptisch, ob er wirklich probieren wird, wenn wir die Gläschen weglassen und stattdessen seine Favoriten bereits mit auf den Tisch stellen. Das haben wir bereits versucht und es endete damit, dass er nur seine bekannten Speisen gegessen hat und neues nicht mal probiert hat. Er ist überhaupt nicht neugierig auf unser Essen. Ich kann sogar Schokolade vor seinen Augen essen, ohne dass er davon abhaben möchte. Lässt er sich doch dazu hinreißen, eine Nudel oder ähnliches zu probieren, beschränkt es sich darauf, dass einmal daran geleckt wird oder mit den Lippen berührt wird. Im Mund landet es nicht, obwohl er weiß, dass er es auch wieder ausspucken könnte/dürfte. Er gehört definitiv in die Gruppe 3 (Kind sagt nein, meint nein und probiert auch nicht). Das ist das, was uns am meisten Sorge bereitet, diese völlige Verweigerung. Trotzdem werde ich die Gläschen ausgehen lassen. In zwei Wochen verbringen wir ein verlängertes Wochenende in einem Kinderhotel. Vielleicht kann er sich in der anderen Umgebung dazu hinreißen lassen, neues zu essen. Auch die Idee, ihm abseits vom Esstisch probieren zu lassen, werde ich ausprobieren.