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ein bisschen schwere Kost für (Hobby)-Soziologen

ein bisschen schwere Kost für (Hobby)-Soziologen

Mitglied inaktiv

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https://kure.hypotheses.org/839 Das möchte ich Euch aber nicht vorenthalten, auch wenn es ein Fachartikel und daher etwas schwer zu lesen ist


Esmeralda

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Interessant. Auch wenn ich diesen Satz "Welchen Sinn macht es, zwischen den Menschen der eigenen Bevölkerung und jenen anderer Staaten zu unterscheiden, wenn jeder jeden anstecken kann und allen gedient ist, wenn alle irgendwann Immunität erlangen, sei es durch das Überstehen der Infektionskrankheit, sei es durch Impfungen, sobald sie zur Verfügung stehen?" etwas dumm bzw. inhaltlich falsch finde. Der Gedanke stützt zwar die Argumentation Herrn Baeckers, aber Grenzschließungen sind sicherlich in einer Pandemie sinnvoll. Trotzdem insgesamt recht schlüssig, wenn auch nicht so überraschend, sondern die Gesellschaft eben analytisch in Teilnehmer und Prozesse zerlegt. Der Artikel berührt erst gegen Ende etwas in mir. Denn eine Gesellschaft mit Regelung der Geschlossenheit, ohne Datensicherheit und Anonymität, mit Teilnahme nur durch virtuelle Identität, das möchte ich nicht. Ob der Weg tatsächlich dorthin geht und ob das so mit Corona zu tun hat, wie der Artikel das herleiten möchte, davon bin ich noch nicht überzeugt. Hoffen wir das Beste!


Korya

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Danke fürs Teilen! Ein interessanter Exkurs, wenn ich manchmal auch über Baeckers Begrifflichkeiten stolper. Vermutlich fehlt mir einfach die Kenntnis des soziologischen Vokabulars, aber ich finde seine Wortwahl und Satzverschachtelungen nicht immer eindeutig. Was soll z.B. heißen, dass "der Differenzierungsmodus der Ge- sellschaft im Zuge ihrer Digitalisie- rung nicht mehr die Funktionssys- teme mit ihren Kompetenzen, son- dern Netzwerke in einem noch un- bestimmten Plural ist"?? Man erahnt, was er meint, aber eine gelungene, präzise Zusammenfassung von Castell ist das nicht). Von den Begrifflichkeiten mal abgesehen, war ich zugegebenermaßen etwas enttäuscht, weil ich mir nach seinen Eingangsworten eine soziologische Position zu der Frage gesellschaftlicher Ausgrenzungen erwartete, die mich gerade privat sehr beschäftigt, und die dann aber irgendwie nie kam (ja auch nicht Hauptpunkt seiner Betrachtung, aber immerhin wichtiger Nebenschauplatz). Beim Lesen stellte sich mir mehrfach die Frage, ob sich mein laienhaftes Verständnis des Begriffs der "Gesellschaft" mit dem deckt, was Baecker darunter versteht - und ob ich demnach nicht alles, was er darüber sagt, mit der falschen Brille lese: etwa wenn er von "Grenzziehung der Gesellschaft gegenüber den Menschen" spricht. Und dasselbe Gefühl beschleicht mich bei seinem Absatz über die Abkehr liberaler Anonymität: "Die menschliche Umwelt wird personalisiert, und an Namen und Adressen kenntlich macht." Ich bin mir nicht ganz sicher: Ist das jetzt sein erhobener deutscher Zeigefinger gegen den gläsernen digitalen Menschen, der im öffentlichen Diskurs gerade eine Rolle spielt? Oder meint er die erzwungene Scheinidentität von Usernamen in Foren und Internetplattformen, die so personalisiert werden? Oder bezieht er sich auf etwas ganz anderes, das wieder an mir vorbeiging (und wenn ja, auf was)? Zum Abschluss (und das ist jetzt wirklich mein letztes Fragezeichen) stolperte ich über Baeckers Ansicht, dass in Coronazeiten "der Blick auf die eigene Bevölkerung Aufmerksamkeiten und Maßnahmen diktiert, die auf die Bevölkerung jenseits nationaler Grenzen kaum noch Rücksicht nimmt." Die Aussage erstaunt mich. Denn für mich ist das keine neue Erkenntnis, sondern eine Selbstverständlichkeit: diese Sicht bestand (meiner Ansicht nach) mehrheitlich schon immer, und in jeder mir bekannten Gesellschaft - sie wird durch Corona nur verstärkt, aber sicher nicht neu geschaffen? Oh je, wie du siehst, blieb ich schon bei ganz elementaren Dingen hängen, bevor ich auch nur in die Nähe des Inhalts kam, lach :-D Aber solche Texte würde ich dann immer gerne über einer Tasse Kaffee mit einem Soziologen direkt diskutieren, hier nur schriftlich ist etwas mühsam. LG


Mitglied inaktiv

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Guten Morgen an Euch beiden, Ich bin keine Soziologin, mein neuer Kollege jedoch und er versorgt mich mit den jetzt langsam ankommenden Texten. Ich bin dann doch eher die Hobbysoziologin. Aber mir macht es Spaß und ich nutze unsere Flurgespräche in dieser faden Zeit, um weiter zu kommen, während ich dem Soziologen eher (lebens)praktische Dinge nahe bringe eine winwin-Situation. Ich lese es tatsächlich so, das er auch die "Gesellschaft" in Foren meint, die sich von der Gesellschaft unterscheidet. Er spricht zwar hauptsächlich von der Gesellschaft im herkömmlichen Sinne, aber halt auch von Netzwerke.


Mitglied inaktiv

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"der Differenzierungsmodus der Ge- sellschaft im Zuge ihrer Digitalisie- rung nicht mehr die Funktionssys- teme mit ihren Kompetenzen, son- dern Netzwerke in einem noch un- bestimmten Plural ist"?? Über diesen Satz bin ich auch gestolpert, weil er grammatisch nicht kongruent ist. Meines Erachtens meint er, dass die digitalisierte Gesellschaft nicht mehr nach bisherigen Funktions-/Kompetenzbereichen (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesundheit...) unterscheidet - wir haben hier ja auch im Forum erlebt, wie diese Kompetenzbereiche in Zusammenhang mit Corona aneinanderrasseln - sondern nach Netzwerken differenziert, deren Plural (Anzahl? Größe?) noch nicht genau abzusehen ist. Ich habe den Artikel gestern auch gelesen, bin aber zu keiner abschließenden Meinung gekommen, weil er für meine Begriffe zwar manches sehr stark analysiert/seziert, aber auch auf eine Weise kategorisiert, die ich nicht unterschreiben würde. Und ich finde ihn sprachlich auch nicht wirklich transparent, sondern so stark abstrahierend, dass ich Mühe habe, seinen Gedankengängen zu folgen. Was natürlich auch daran liegen mag, dass ich wenig mit soziologischen Texten zu tun habe, das höchste der Gefühle, womit ich mich mal beruflich auseinandergesetzt habe, waren kulturgeografische Fachtexte zu städtebaulichen Modellen. Auch die Analyse, dass in der jetzigen Pandemie-Situation: "der Blick auf die eigene Bevölkerung Aufmerksamkeiten und Maßnahmen diktiert, die auf die Bevölkerung jenseits nationaler Grenzen kaum noch Rücksicht nimmt." erschien mir jetz nicht als plötzliche, bisher nicht dagewesene Erscheinung, weil ich der Ansicht bin, dass gerade das auch Aufgabe zumindest eines Staates als politisches Gefüge (wenn auch nicht unbedingt einer Gesellschaft) ist. Vielleicht trennt er einfach nicht sauber zwischen der "nationalen Gesellschaft als politische Einheit" und der Gesellschaft als Gemeinschaft menschlicher Wesen. Oder ich verstehe es nicht. Interessant zu lesen war es aber allemal, zumal ich den Grundgedanken mit der "pulsierenden Gesellschaft", in der mal der eine, mal der andere Kompetenzbereich den Ton angibt, interessant fand. Vielleicht auch deshalb, weil ich in Zusammenhang mit der Pandemie öfter den Eindruck hatte, dass es die meisten der aktuellen Konflikte vor allem deshalb gibt, weil sich situationsbedingt Deutungshoheiten verschieben (womit zum Beispiel das Rechtswesen, die Wirtschaft, aber auch die Presse ihre Probleme haben).


pflaumenbaum

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Baecker ist ein Luhmann-Schüler und daher eigentlich nur zu verstehen, wenn man Luhmanns Systemtheorie kennt. Luhmann geht - und da folgen ihm viele andere in der Soziologie - davon aus, dass die moderne Gesellschaft eine funktional differenzierte ist. Horizontale Differenzierung heißt Differenzierung nach Funktionsystemen (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, etc.) die nach funktionsspezifischen Codes operieren. Frühere Gesellschaften waren stratifiziert, das heißt vertikal differenziert nach Klassen oder Ständen und die oberste Klasse bildete zugleich die politische, wirtschaftliche UND wissenschaftliche Elite. Diese Stratifizierung gibt es heute zwar natürlich immer noch, wird aber durch funktionale Differenzierung unterbrochen. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie die Digitalisierung funktionale Differenzierung beeinflusst. Und da geht Baecker eben von einer zunehmenden Vernetzung aus (z.B. über die Plattformen). Zugleich - und da folgen Luhmann viele nicht mehr - besteht die Gesellschaft für Luhmann aus Kommunikationen, die an Kommunikationen anschließen. Individuen sind nicht Teil der Gesellschaft, sondern nur die Kommunikationen. Baecker bringt nun den Modus der Personalisierung ins SPiel, diesen Gedanken finde ich sehr interessant. Das würde bedeuten, man könnte nur noch inkludiert werden, wenn man eine digitale Adresse hat.