Ab wann sind Kinder eigentlich in der Lage, ihr Gefühlsleben selbst unter Kontrolle zu kriegen? Sohn, 2 1/2, ist im Großen und Ganzen friedlich, wird aber bei Frust oder Müdigkeit immer noch sehr weinerlich, was aber sicher alterstypisch ist (Trotz). Wann sind Kinder gelassener und in solchen Situation zugänglicher, ohne gleich in Tränen oder Geschrei auszubrechen? Ausreichend Selbstbewusstsein und gute Loslösung mal vorausgesetzt, aber da sind wir auf einem guten Weg, meine ich.
Also, wann wird es alles ein bisschen einfacher, sowohl für Eltern als auch für das Kind?
Danke
Lina
Mitglied inaktiv - 03.04.2006, 12:57
Antwort auf:
Umgang mit Gefühlen
Stichwort: selbständige Gefühlsregulation ab wann?
Liebe Lina, die Antwort auf diese außerordentlich wichtige Frage in der Entwicklung des Kindes wird sehr unterschiedlich gegeben. An dieser Frage entzünden sich die verschiedenen Richtungen in der Beurteilung frühkindlicher emotionaler Zustände und den sich daraus ergebenden Empfehlungen, wie Eltern damit umgehen sollten. Denn die Selbstregulation oder auch Affektregulation des autonomen Kindes ist der grundlegende Ansatz für psychopädagogische Standarts.
So geht die "Münchener Schule" (Regulationsstörungstheorie) von einer frühen Affektregulationsfähigkeit des Kindes aus, die es schon in der Säuglingszeit herauszufordern und zu nutzen gilt. Dabei bezieht man sich auf entwicklungspsychologische Studien, z.B. von G.Gergely, daß schon der Säugling in der Lage sei, (durch die Wahrnehmung differentieller Kontingenzen - ziemlich kompliziert!) eigene Erkenntnisvorgänge zu vollziehen und Empfindungen auf sich selbst beziehen zu können, ohne die regelmäßige Spiegelung in der primären Bezugsperson beanspruchen zu müssen. Diese Fähigkeit verschaffe ihm die Möglichkeit, turbulente innere Gefühle außerhalb der Dyade (Mutter-Kind-Beziehung) regulieren zu können (wobei eigentlich immer der bequeme Zustand des selbstzufriedenen Säuglings gemeint ist). Gestritten wird noch, wie alt der Säugling genau zu sein hat, bis er das kann.
Mein Ansatz ist ein anderer. Ich sehe die Dinge so, daß der Säugling keine Chance hat, sein Gefühlsleben außerhalb der Dyade in den Griff zu bekommen, weswegen er auf die prompte und zuverlässige, resposive (antwortende) Affektspiegelung bei seinen Bezugspersonen immer angewiesen ist. Vor allem die negativen Gefühle müssen in der Dyade aufgefangen und in positive Gefühle umgewandelt werden. Aus diesem Geschehen bezieht der Säugling seine zunehmende Selbstwahrnehmung und entwickelt seinen persönlichen Willen.
Erst dadurch erwächst ihm die Möglichkeit, die Loslösung von der primären Bezugsperson und die Herauslösung aus der Dyade zu vollziehen, um sein geistiges Ich zu finden und sein autonomes Selbst zu konstituieren.
Wenn ihm das gelungen ist, ist das Kind aus dem Säuglingsalter heraus gewachsen und ein Kleinkind von etwa 1 1/2 Jahren. Jetzt kann es langsam sein Selbst reflektieren und Gefühlszustände als in allen Menschen vergleichbare Empfindungen verstehen. Diese Fähigkeit ist der Beginn der Empathie.
Aber das ist erst die erste Stufe in der Entwicklung zur Affektregulation. Zwar weiß es jetzt, daß das Gefühlsleben eine wichtige Sache in der Verständigung und der sozialen Interaktion mit den anderen Menschen ist, aber noch braucht das Kind immer wieder die Bezugsperson, um seine eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen.
Erst im zweiten entscheidenden Schritt, der etwa zwischen 3 und 4 Jahre einsetzt, lernt das Kind zu verstehen, daß die eigenen Gefühle in Bezug auf ein bestimmtes Erlebnis sich nicht zu decken brauchen mit den gleichzeitigen Gefühlen einer anderen Person. Um diese Erkenntnis zu vollziehen, muß das Kind verstandesmäßig in der Lage sein, das Gefühl, das es selbst hat, und dasjenige, das der Andere hat, zu bennen. Denn sonst kann es sich mit dem Anderen gar nicht über die eigene und die seine Gefühlswelt im Dialog austauschen. Also würde es gar nicht erfahren können, wie es dem Anderen im selben Augenblick ergeht. Das bezeichnet man als die Mentalisation der Gefühle. Ich nenne das das kategoriale Fühlen.
Das kategoriale Fühlen versetzt das Kind in die Lage, nicht nur die eigenen Gefühle zu verstehen und ursächlich zuzuordnen, sondern auch den Perspektivwechsel zu vollziehen , d.h. die Gefühle eines anderen zu verstehen. Erst wenn diese emotionalen und kognitiven Voraussetzungen herangereift sind, ist ein Kind in der Lage, seine Gefühle ohne die ständige Anlehnung an die Bezugsperson zu regulieren und zugleich auch Verständnis in und für die Gefühlslage eines anderen Menschen zu entwickeln.
In einem weiteren Schritt verselbständigt sich diese Erlebnisweise in der kindlichen Welt und wird zu einem Grundgerüst für sein gesamtes Sozialverhalten. Hierauf aufbauend formiert sich das Gewissen auf der emotionalen Seite und die Vernunft auf der kognitiven. So jedenfalls wird die psychosoziale Entwicklung des Kindes in der emotionalen Integrationstheorie formuliert. Ds Kind ist jetzt deutlich über vier jahre und bewegt sich langsam auf das Schulalter zu. Viele Grüße (und sorry für soviel Theorie, ohne die es aber nicht geht und die Antwort nicht verständlich würde)
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 06.04.2006