Lieber Hr. Dr. Posth, eine allgemeine Frage: Sie schreiben, Babys könnten nicht lernen, alleine einzuschlafen, da das eine Frage von Reifungsprozessen im Gehirn sei. Auch ich lasse meinen Sohn nicht schreien und halte nichts von "Ferbermethoden", frage mich aber, warum sie zunächst "funktionieren"? Wie ist es möglich, dass "geferberte" Kinder nach einiger Zeit doch alleine einschlafen können; was passiert bei diesem "Antrainieren" im Gehirn, das den Reifungsprozess "ersetzt"? Ist das überhaupt der Fall? Und warum verliert sich die Konditionierung mit der Zeit wieder?
Und kennen Sie ländervergleichende Studien zum Auftreten der Störungen, die Ihrer Meinung nach aus Bindungsstörungen resultieren können? Danke und Gruß aus Frankreich!
von
Alouette
am 06.02.2012, 11:12
Antwort auf:
Schlafen "lernen" vs. Konditionierung
Hallo, die Antwort lautet "Anpassung". Die Verhaltenstherapie setzt Anpassung über Reifung. Ausgehend von der uralten, nichtsdesto weniger falschen These der Mensch käme als unbeschriebenes Blatt zu Welt erscheint es möglich, jeden Menschen zu jeder Verhaltensweise zu konditionieren, die wünschenswert ist. Diese Mär hat sich bis heute unausrottbar gehalten. Nicht Genetik, nicht Epigenetik, nicht Psychoanalyse und nicht Tiefenpsychologie könnten diese Fehlansicht aus der Welt schaffen. Und das verrückte ist: Selbst überzeugte Genetiker und Epigenetiker favorisieren die Verhaltenpsychologie. sie merken ihren eigenen fundamentalen Widerspruch nicht, weil sie etwas nicht wahrhaben wollen, das ein Umdenken gerade für die Entwicklung von Kindern fordert. Nämlich hingucken, was ein Kind mit auf die Welt bringt und herausspüren, was ein Kind wann und wie braucht.
Der Mensch ist auf Anpassung von der Evolution trainiert und mit dieser Fähigkeit ausgerüstet. In der Natur selbst funktioniert das Wechselspiel aus Anpassung und Reifung wunderbar. Beim Menschen mit seinem Bewusstsein nicht mehr. Er strebt das reibungslose Funktionieren der Welt und des andeen Menschen um seines persönlichen Vorteils willen an und erzwingt Anpassung wo Reifung hingehörte. Die daurch entstehenden Nachteile für den anderen Menschen nimmt er gerne in Kauf, wenn sein persönlicher Vorteil gesichert erscheint.
Das Kind als das schwächste Wesen in der Natur (den es hat praktisch keinen Instinkt mehr) ist diesem Anpassungsdruck auf Gedeih und Verderb ausgliefert. Das nutzt der erwachsene Mensch aus.
Kinder sind zu einer erschreckenden Anpassung bereit. Sie nehmen z.B. schlimmste Verhältnisse in Kauf, um bei ihren Eltern zu bleiben und diese zu schützen. Sie lassen sich auch zu schrecklichen Taten manipulieren. man muss nur ausreichend Druck erzeugen. Dafür unterdrücken sie aber Gefühle in sich und töten zwangsläufig bestimmte prosoziale Verhaltensweise in sich ab. Denn wer nicht mehr reifen darf, sondern sich anpassen muss, kann nicht mehr auf die in ihm angelegten Fähigkeiten hören.
Der mit der zu frühen und falschen Anpassung verbundene Stress verhindert den harmonischen Werdungsprozess des Kindes und führt Schritt für Schritt zur Verdrängung. Reifungsprozesse wie Empathie und Mitleid sowie Reue und Schuldbewusstsein haben keine stabile Basis mehr. Denn nur das wachsame Erkennen der eigenen Gefühle und die Erfahrung eines respektvollen Umgangs der Anderen mit diesen Gefühlen erzeugt das Vertrauen in die Gesellschaft und die Bereitschaft, sich dieser anzudienen. Das alles steckt hinter dem "Ferbern" und den anderen Methoden, Kinder zu einem praktischen und in der Gesellschaft funktionierenden Verhalten durch rechtzeitige Anpasung zu zwingen. Reifung dagegen braucht Zeit und garatiert nicht immer das wünschenswerte Ergebnis. Aber der Kleine Mensch wird viel authentischer und weiß, dass er um seiner selbst gliebt wird. Viele Grüße
PS. von Länder vergleichenden Studien sind wir noch weit entfernt. Wir sind froh, ein paar einigermaßen valide nationale Studien zu haben. Frankreich auch?
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 09.02.2012