Lieber Herr Dr. Posth,
unser Sohn (viereinhalb Monate) schreit sich schon immer in jeden Tages- und Nachtschlaf, obwohl wir ihn immer dabei auf dem Arm wippend tragen oder versuchen, ihn zu stillen (die Brust will er leider nicht immer zum Einschlafen). Er bäumt sich dabei von uns weg, kratzt sich heftig am Ohr, wenn wir ihn nicht festhalten und lässt sich nicht beruhigen.
Er nimmt keinen Nuckel. Einfach nur mit ihm ins Bett legen oder ihn sanft wiegen oder mit ihm sprechen, singen verschlimmert das Schreien. Rituale sind nicht möglich- er fängt urplötzlich an zu schreien, wenn er müde ist, egal, was wir gerade mit ihm machen, immer zu anderen Zeiten. Wir lassen ihn nie allein im Zimmer, tragen ihn auch ansonsten sehr viel am Körper, schlafen in einem Bett mit ihm, stillen nach Bedarf, beschäftigen uns den ganzen Tag mit ihm, reagieren immer sofort auf Unmutsäußerungen usw.
Das Schreien dauert tagsüber jedes mal ca. 10 Minuten und abends bis zu einer halben Stunde. Ansonsten schreit er nicht mehr, ist aber sehr schnell unzufrieden, braucht ständig neue Beschäftigung, ist ein ziemlich unruhiger Zeitgenosse, wacht manche Nacht alle 1-2 Stunden auf.
Leider haben wir in den ersten 2-3 Lebenswochen aufgrund von Ratschlägen und eigener Unwissenheit probiert, ihn zirka 10 mal für jeweils nie länger als 3 Minuten allein schreien zu lassen, ohne Erfolg natürlich.
Unsere 2 Fragen sind nun, ob unser Sohn von diesen wenigen Versuchen einen Vertrauensverlust o.ä. bekommen haben kann, weshalb er nun immer beim Einschlafen trotz unserer Körpernähe schreit?
Und ob dieses Einschlafschreien ihn auf Dauer in seiner Entwicklung beeinträchtigen kann wegen der diesbezüglichen Stressreaktionen in seinem Gehirn. Wir haben das Gefühl, das Schreien ist zu einer Angewohnheit für ihn geworden, die er allein ohne irgendwelche wie auch immer geartete Hilfe nicht mehr beenden kann.
(Er ist laut Kinderärztin sehr gesund und wohl ein bisschen in seiner Entwicklung voraus).
Vielen Dank
Jenny
Mitglied inaktiv - 13.09.2004, 19:45
Antwort auf:
Einschlaf-Schreien
Liebe Jenny, diese Form des Schreiens ist die komplizierteste, da wie Sie sagen von Ihnen alle Möglichkeiten zur Beruhigung richtig angewandt werden. Vorausgesetzt ist natürlich, daß kein körperliches Mißbehagen vorliegt. Wie Sie vielleicht inzwischen wissen, halte ich durchaus etwas von der "Theorie" der Dreimonats- oder Trimenonkoliken, da ich als "leidgeprüfter" Kinderarzt ständig mit solchen Kindern zu tun habe. Und therapieren kann man die auch, was ein Beweis für die tatsächliche Existenz ist. Auch Stillfehler, z.B. zu häufiges Anlegen kann die Ursache für unergründliches Schreien sein. Man muß also in jedem Fall genau hinschauen.
Das Schreien macht Streß, ganz klar auch bei den Eltern, was meist zu ungünstigen Zuwendungsreaktion führt und das Gefühl der Geborgenheit beim Säugling schmälert. Dadurch potenziert sich dann wieder das Schreien, usw. dieser Teufelskreis muß durchbrochen werden, denn Schreien ist auch für den Säugling Streß und dieser Streß wirkt sich ungünstig auf die Reifungsvorgänge im Gehirn aus.
Man sollte einen schreienden Säugling untersuchen und wiegen lassen. Zu viel Nahrung kann wie gesagt ebenso Probleme schaffen wie zu wenig. Beides erkennt man nur am Gewicht! Das Ernährungsproblem muß zuerst beseitigt werden. Dann wird das Verdauungssystem behandelt, dabei nur im äußersten Fall mit lactosefreier Milch. Parallel dazu werden alle Beruhigungsmaßnahmen, vor allem auch das Tragen eingesetzt. Jegliche Form von Schreikonditionierung ist untersagt! Sogar die hardliner auf diesem Gebiet haben sich bis auf die Halbjahresgrenze mit solchen Empfehlungen zurückgezogen.
Man muß heute davon ausgehen, daß Schreien lassen im Säuglingsalter die Veranlagung zum ADHS ("Hyperkinetisches Syndrom") verstärkt.
Im hartnäckigsten Fall wird man sich an eine sogenannte Schreiambulanz wenden, wie sie inzwischen an vielen großen Kinderkliniken eingerichtet ist. Melden Sie sich ruhig wieder, wenn Sie nicht klar kommen. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 16.09.2004