Stillen bei Bedarf und zur Beruhigung

 Biggi Welter Frage an Biggi Welter Stillberaterin der La Leche Liga Deutschland e.V.

Frage: Stillen bei Bedarf und zur Beruhigung

Liebe Biggi, erstmal vielen Dank, dass du hier so viel Zeit investierst und so liebevoll und ausführlich die Fragen beantwortest. Ich habe schon viele Einträge aus dem Forum gelesen und habe so viel gelernt, sowohl zum Thema Stillen als auch über Baby-spezifische Verhalten. Also nochmal ein großes Dankeschön, dass du dieses Wissen mit uns teilst! Nun würde ich gezielt zu deiner Expertise greifen. Es geht mir um das Stillen nach Bedarf und Stillen als Beruhigungsmaßnahme. Ich habe eine 3 Monate alte Tochter, sie ist mein erstes Kind. Ich stille sie von Anfang an nach Bedarf. Sie trinkt schon von Anfang an alle 1,5 bis 2 Stunden, in der Nacht sind die Pausen auch etwa länger. Am Abend hat sie immer wieder Episoden von Clusterfeeding. Ich finde das Ganze voll in Ordnung. Ich denke immer z.B. an mich, ich habe auch weder Durst noch Hunger nach Plan. In den letzten Wochen, seitdem sie mehr von ihrer Umgebung wahrnimmt und manchmal vielleicht etwas überreizt ist, will sie immer wieder auch tagsüber häufiger an die Brust, manchmal auch eine Stunde oder sogar schneller nach der letzten Mahlzeit. Mich stört das prinzipiell nicht, ich finde eigentlich schön, dass sie sich so an der Brust beruhigen kann. Das Stillen ist allerdings nicht die einzige Beruhigungsmaßnahme, sie bekommt allgemein viel Körpernähe - wird viel getragen (sowohl von mir als auch vom Papa), schläft neben mir im Familienbett, es gibt reichlich Kuscheleinheiten, jedoch keinen Schnuller, keine Flasche. Unsere Tage sind nicht besonders spannend jedoch auch nicht langweilig, ich integriere sie in meinem Alltag, nehme sie zum Einkaufen, Spazieren etc. mit, mache den Haushalt mit ihr in der Trage etc. Nun meint mein Mann, ich würde ihr zu oft die Brust anbieten. Er meint, dass sie gar nicht so häufig Hunger hat, wie ich meine und, dass, wenn es um Beruhigung geht, ich sie auf anderer Weise als durch Stillen beruhigen könnte. Er meint, dass wenn er mit ihr unterwegs ist, hält sie länger ohne zu trinken aus. Aber das ist doch keine Überraschung, oder? Denn auch ein so kleines Baby weißt, dass das Stillen nur an Mamas Brust möglich ist und nicht beim Papa... Mein Mann argumentiert, ich würde mir selber das Leben schwierig machen, dadurch dass ich die Kleine so oft stille. Ich denke schon, dass ich mittlerweile gut unterscheiden kann, zwischen Situationen wo sie tatsächlich Hunger (oder vielleicht auch "nur" Durst) hat und Situationen wo sie einfach Beruhigung braucht. Und ich kann mir echt nicht vorstellen, dass sie was anderes braucht, wenn sie z.B. in der Trage aus ihrem Schlaf aufwacht und Hungersignale gibt... Trotzdem hat mich die Diskussion mit meinem Man verunsichert... Kann es tatsächlich sein, dass ich meiner Tochter zu oft die Brust anbiete und dass sie sie nur aus "Höfflichkeit" nimmt? Oder macht es Sinn, anstelle der Brust auf anderer Weise Trost zu spenden? Ist als Stillen nach Bedarf nicht auch die beruhigende Wirkung gedacht? Vielen Dank im Voraus! Liebe Grüße!

Mitglied inaktiv - 04.05.2023, 23:45



Antwort auf: Stillen bei Bedarf und zur Beruhigung

Liebe VeritaSaga, mit der Brust kannst du dein Kind nicht zustöpseln. Kein Kind lässt sich an die Brust zwingen und wenn dein Kind nicht gestillt werden will, sondern ein anderes Bedürfnis hat, dann wird es dies unmissverständlich kundtun. Stillen ist eine aktive Sache von beiden Partnern und ohne dass das Kind mitmacht, geht es nicht. Stillen ist viel mehr als nur eine Form der Ernährung: es ist Trost, gibt Nähe, Geborgenheit und Zuwendung. Deshalb ist das Stillen in keiner Hinsicht mit dem Flaschegeben zu vergleichen. Ein Baby sollte nach Bedarf gestillt werden. Alle Stillexperten sind sich einig, dass Stillen nach Bedarf für Mutter und Kind am besten ist. Das Verhalten deines Kindes wird sicher von manchen Menschen als extrem anhänglich oder mutterfixiert bezeichnet, doch es ist ein vollkommen normales Verhalten für ein Baby. Dein Baby ist gerade erst drei Monate alt! Es ist sogar wichtig, dass ein Kind zunächst eine feste und verlässliche Bindung zu einer Person aufbaut (und diese Person ist bei einem gestillten Kind naturgemäß fast immer die Mutter). Aufbauend auf dieser Erfahrung kann das Kind dann später seinen Horizont erweitern und Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Doch das "Fundament" der engen Beziehung zur ersten Bezugsperson sollte fest sein und so zum Fundament der Beziehungsfähigkeit und Bindungsfähigkeit überhaupt zu werden. Seit Anbeginn der Menschheit werden Kinder an der Brust der Mutter getröstet und Essstörungen sowie die ganzen (angeblichen) Schlafstörungen bei Kindern sind ein recht neue Erscheinung, die es in unserer modernen Welt gibt, in der die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht oder nur kurz gestillt wurden. Es wird immer wieder behauptet, dass Stillen nach Bedarf und auch Langzeitstillen zu Abhängigkeiten führe oder gar irgendwelchen Verhaltensstörungen oder der Sucht Vorschub leiste. Es ist jedoch genau das Gegenteil der Fall. Durch die Befriedigung der Bedürfnisse muss das Kind keinen Ersatz suchen und somit verringert sich die Suchtgefahr. Sucht bedeutet ja, dass ein Ersatz gesucht und verwendet wird, weil ein Bedürfnis nicht gestillt wurde. Dein Kind kann nicht "verwöhnt" werden, wenn es viel Nähe und Zuwendung bekommt. Eine Kollegin von mir hat dazu einen schönen Text geschrieben, aus dem ich jetzt einen Abschnitt zitiere: "Das Kind wird verwöhnt und verzogen. "Ja, das ist jetzt schon total verwöhnt" "Ihr verzieht das Kind, nachher will es nur noch auf den Arm" "So lernt das Kind ja nie alleine einzuschlafen, alleine zu spielen, sich mit sich selbst zu beschäftigen ..." "Wie soll das Kind denn seinen Rhythmus finden, wenn Du es ständig mit der herumziehst". So und ähnlich lauten viele Aussagen wohlmeinender Freunde, Verwandte und auch wildfremder Menschen, von denen man auf der Straße angesprochen wird. Was ist dran an dieser Theorie, dass das Baby durch die Zuwendung, die es erhält verwöhnt und verzogen wird? Bernadette Stäbler beschreibt in ihrem Buch "Mama" die Angst, sein Kind nicht richtig zu erziehen: "Und schon ist sie da, diese Angst, sein Kind zu verziehen. Welche Ursachen hat sie? Denn, wer dieses unschuldige Baby anschaut, fühlt sich sehr glücklich. Niemand kann sich vorstellen, dass es eines Tages unerwünschte Handlungen vollbringen wird. Wenn wir also von "verziehen" sprechen, haben wir ein älteres Kind vor Augen. Das Kind im Trotzalter, das immer "nein" ruft, lässt seine Mutter denken: "Was für einen Dickkopf habe ich mir großgezogen. Sicher habe ich es falsch gemacht!" Ist es wirklich so wichtig, dass unsere Kinder vor der Zeit lernen, alleine zu schlafen, alleine zu sein und sich mit sich selbst zu beschäftigen? Ist es notwendig, dass wir Erwachsenen unseren Lebensrhythmus ändern und an das Baby anpassen, damit sich das Kind gut entwickelt? Auch hierzu möchte ich wieder aus dem Buch von Bernadette Stäbler zitieren: "In vielen ursprünglich lebenden Kulturen, die wir "primitiv" nennen, wurden inzwischen Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse eine Umwälzung unserer Ansichten über die herkömmliche Kindererziehung mit sich brachten. Ich möchte eine afrikanische Studie herausgreifen und vereinfacht darstellen: Die erste Gruppe gebar ihre Babys zuhause und ließ diese keinen Moment allein. Geborgen bei der Mutter, wurden sie nach Bedarf gestillt und mussten niemals schreien. Bald ging die Mutter wieder auf das Feld, um die gewohnte Arbeit zu verrichten, das Neugeborene in ein Tragetuch geschlungen. Die Kontrollgruppe bekam ihre Babys im Krankenhaus mit aller medizinischen Hilfe, einschließlich schmerzlindernden Medikamenten. Gleich nach der Geburt wurden Mutter und Kind getrennt, um zu ruhen. Die Babys bekamen Fläschchen und Schnuller, weil dies "das Moderne" war. Daheim schliefen die Kinder in ihrem Bettchen, in ihrem eigens dafür hergerichtetem Zimmer. Allein, ohne Körperkontakt. Alles ging recht zivilisiert zu, nämlich nach einem genauen Zeitplan, denn die Kinder sollten sich früh an ein geordnetes Leben gewöhnen und weder kleine Tyrannen noch nervös werden. Ein Jahr später offenbarte sich das Unerwartete: Die Kinder der ersten Gruppe waren in allem den anderen voraus: Sie waren intelligenter in ihren Verhaltensweisen und auch viel sozialer eingestellt, selbst die körperliche Entwicklung war besser, obwohl sie die ganze Zeit "festgebunden" waren. Ähnliche Ergebnisse ergaben vielseitige Studien in den verschiedensten Kulturkreisen. Wenn wir versuchen, dies mit einer natürlichen, einfühlsamen Intelligenz nachzuvollziehen, wissen wir, warum das Ergebnis so ausfallen musste. Das Baby fühlt sich bei seiner Mutter geborgen. Es muss seine Kräfte nicht für das Weinen verbrauchen. Der mütterliche Körper gibt ihm Wärme. Wenn das Baby sich an seine Mutter schmiegt, fühlt es ein wenig von dem Glück, das es neun Monate lang im Mutterleib haben durfte. Es kennt von daher ja auch schon die Herztöne seiner Mutter, es kennt sogar schon ihre Stimme und nun sieht es endlich ihr Gesicht, ihre Augen und darf an der Brust trinken, wenn es möchte. Das ist das Glück, die mütterliche Liebe, die Impulse gibt für die Intelligenz und das soziale Verhalten. Wenn das Baby sich an die Körperbewegungen der Mutter anpassen muss, während sie ihre alltägliche Arbeit verrichtet, übt es in wundervoller Weise seine Muskeln und den Gleichgewichtssinn." (Aus: Denise Both: „Tragen") Auch ich war damals verunsichert und wurde als Glucke und sonst was bezeichnet ;-). Heute sind meine Kinder meine größten Stützen und ich weiß, dass Achtsamkeit nichts mit Verwöhnen zu tun hat. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass niemand fragt „Wann muss das Kind selbstständig atmen lernen" oder „Wann muss das Kind frei laufen können"? Beim ersteren geht jeder davon aus, dass dies eine Fähigkeit ist, die ein gesundes Kind selbstverständlich beherrscht und bei zweiten wird eine große Zeitspanne von vorne herein als normal angenommen. Nur beim Stillen, da wird dem Kind nicht die Kompetenz zugestanden, dass es auch diese Fähigkeit selbst und in dem für es passenden Tempo entwickeln wird. Da wird immer wieder behauptet, dass die Eltern das Kind entsprechend „trainieren" müssen. Wenn es DICH also nicht stört, dann schenke deinem Kind diese Zeit. Wie traurig ist es doch, dass wir unseren Menschenkindern kaum noch die natürliche Zeit gönnen, die sie zum gesunden Gedeihen brauchen. Es gibt keinen Grund, dass du etwas daran ändern musst, dass du dein Baby nach Bedarf stillst und auch in den Schlaf stillst, es sei denn DICH persönlich stört etwas daran. Auch die immer wieder geäußerten Argumente, das Baby würde auf diese Weise verwöhnt oder es würde so nie lernen alleine einzuschlafen bzw. nie wieder aus dem Elternbett ausziehen, sind nicht stichhaltig. Babys in diesem Alter können noch nicht verwöhnt werden und Kinder, die sich den Platz im Elternbett nicht erkämpfen oder ertrotzen mussten, ziehen von selbst aus dem Elternbett aus, sobald sie reif genug dafür sind. Im Gegensatz dazu wollen viele Kinder, die als Babys alleine schlafen mussten noch lange ins Elternbett, weil ihr Bedürfnis (noch) nicht gestillt wurde. Sobald ein Baby die nötige Reife hat, lernt es alleine (ein)zuschlafen und wird auch längere Schlafphasen haben. Dein Kind wird von ganz alleine lernen, alleine einzuschlafen, ohne Druck und ohne Brüllen. Es hat seinen Grund, warum stillende Mütter die besten Einschlafhilfen SIND. Beim Saugen an der Brust findet ein Baby das, was es braucht: Trost, Nahrung, Sicherheit. Es liegt vermutlich an einer gewissen neurologischen Unreife, wenn einige Babys das mehr brauchen als andere, und es "verwächst" sich wirklich von alleine!! Ich hoffe, die Antwort hilft dir weiter. Liebe Grüße Biggi

von Biggi Welter am 05.05.2023



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