NoName
Liebe Frau Henkes, Ich möchte Ihnen gerne einige Informationen über meine Tochter mitteilen, die im nächsten Monat 5 Jahre alt wird. Sie war von Anfang an ein herausforderndes Kind und benötigte viel Co-Regulation. Obwohl sie häufig geschrien hat, war sie in allen Entwicklungsbereichen, außer der Sprache, deutlich weiter entwickelt. Ihre sprachliche Entwicklung kam etwas verspätet, und ihre Aussprache war für Fremde oft undeutlich. Für mich als Mutter jedoch war es von Anfang an klar, dass sie komplexe Satzstrukturen und korrekte Syntax verwendet. Mit 3 Jahren begann sie zu schreiben und zeigte ein frühes Interesse an Mathematik, indem sie Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20 beherrschte. Aktuell liest sie bereits auf dem Niveau eines Erstklässlers und greift mit Begeisterung zu Erstlesebüchern. Es scheint, als ob sie sehr bestrebt ist, die Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu erfüllen. Zudem scheint sie eben sehr kognitiv orientiert zu sein. Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal ist ihr ausgeprägtes Autonomiestreben. Bereits mit 18 bis 20 Monaten machte sie deutlich, wenn sie bestimmte Kleidungsstücke nicht anziehen wollte. Seitdem zeigt sie eine klare Präferenz für maskulin gelesene Kleidung, Frisuren und Interessen. Mit 2 Jahren äußerte sie zum ersten Mal den Wunsch nach einer Glatze. Nachdem sie diesen Wunsch über ein Jahr lang wiederholt hatte, rasierten wir ihr kurz nach ihrem dritten Geburtstag die Haare ab. Dies gab ihr einen enormen Schub an Selbstbewusstsein. Darüber hinaus ist sie sehr interessiert an ihrer Sexualität und beschäftigt sich intensiv mit ihren äußeren Genitalien. Sie entblößt sich regelmäßig, vor allem zu Hause, und scheint stolz darauf zu sein. Zweimalig hat sie gesagt, dass sie gerne einen Penis hätte. Es scheint, bis auf die Obsession mit ihrer Vulva, als würde sie alles Weibliche ablegen. Diese Abneigung hat sich etwas gemildert, als wir mit ihr darüber sprachen, dass Frauen nicht unbedingt Mütter werden müssten, wenn sie es nicht wollen. Anders als einen Kinderwunsch kann sich eine Frau den Wunsch, kein Kind zu gebären, aussuchen. Dies schien sie damals (mit 3 Jahren) beruhigt zu haben. Wir akzeptieren sie so, wie sie ist, allerdings ist es schwer, sich neutral zu verhalten. Wenn wir ihr anbieten würden, sie mit einem Jungennamen zu adressieren, würde sie dies wahrscheinlich bevorzugen. Allerdings kommt mir der Gedanke schon vor, als würden wir ihr die Idee einer Transidentität einpflanzen. Auf der anderen Seite besteht nunmal die Möglichkeit, die Geschlechtsidentität, also den Vornamen und das eingetragene Geschlecht, anzupassen. Grundsätzlich ist sie ein beliebter Spielpartner im Kindergarten, bevorzugt hierbei aber deutlich Mädchen, die sie dann jedoch eher in die Richtung von Jungen-Spielen (Räuber, Diebe, Waffen) überzeugt, selbst wenn diese Mädchen-Sachen (Pferde, Einhörner) spielen möchten. Bei Spieleverabredungen mit Jungen fällt mir auf, dass sie kaum Überschneidungen mit den Interessen von etwas älteren Jungen hat. Sie bevorzugt dann eher die selbstbewussten Mädchen, die manchmal über die Strenge schlagen. Können Sie mir eine Einschätzung geben, inwieweit das Verhalten noch als normgerecht gilt oder inwieweit es auf eine Transidentität hindeuten könnte? Sollten wir, zu welchem Zeitpunkt, dies ansprechen? Wir haben keine transidenten Personen im Umfeld unserer Kinder, ich habe jedoch immer mal wieder Kontakt. Ich würde mich freuen, Ihre Gedanken zu diesen Beobachtungen zu hören und eventuell weitere Tipps zu erhalten, wie wir sie in ihrer Entwicklung unterstützen können oder zumindest nicht behindern. Vielen Dank für Ihre Zeit und Unterstützung! Herzliche Grüße, Amira
Guten Tag, das beschriebene Verhalten Ihrer Tochter ist bei Fünfjährigen kein Hinweis auf Transidentität. Ihre Tochter beschäftigt sich altersgerecht mir ihrem Geschlecht. Sie weiß, dass es verschiedene Geschlechter gibt und interessiert sich für die unterschiedlichen Geschlechtsmerkmale. Auch wenn Sie den Eindruck haben, dass dies Ihre Tochter besonders intensiv zu beschäftigen scheint, gehört dies doch zur ganz normalen kindlichen Neugier. Auch die Zeigelust der primären Geschlechtsorgane ist in diesem Alter üblich und gehört zur Entwicklung der Geschlechtsidentität. Sie sollten ihr jedoch erklären, dass man das nur zu Hause und bei den Eltern macht, um sie zu schützen. Ihre Tochter hat bemerkt, dass Jungen es hierbei mit dem außen sichtbaren Penis leichter haben als Mädchen, deren primäre Organe eher im Inneren liegen. Für Mädchen ist es oft eine große Hilfe, wenn sie erfahren, dass sie nicht nichts haben, sondern sogar sehr viel, nämlich einen Schatz im Inneren des Körpers. Der bietet ihnen die Möglichkeit, Kinder bekommen zu können, unabhängig davon, ob sie sich dann dafür entscheiden. Für Ihre Tochter ist es von Bedeutung, dass sie ihren individuellen Entwicklungsweg gehen kann, ohne dass Sie ihr "eine Idee von Transidentität einpflanzen". Es ist hilfreich, dass es Ihnen gut gelingt, die eher jungenhaft erscheinende Art Ihrer Tochter zu akzeptieren. An der Gesellschaft von Jungen scheint sie ja kein wirkliches Interesse zu haben. Sie scheint eher ein ungewöhnliches Mädchen mit besonderen Interessen zu sein. Ich halte es nicht für sinnvoll, das Thema der Transidentität bei einer Fünfjährigen anzusprechen. In diesem Alter vollzieht sich Entwicklung noch so rasch und in unterschiedliche Richtungen, dass hier alle möglichen Veränderungen geschehen können. Die Geschlechtsidentität anzupassen ist zudem kein leichter Schritt, bei dem man nur einen anderen Namen und ein anderes Geschlecht eintragen lässt. Es handelt sich um einen komplexen und oft krisenhaft erlebten Prozess. Für Ihre Tochter ist es jetzt ausreichend zu erleben, dass Sie sie so akzeptieren, wie sie ist. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ingrid Henkes