Frage: "Machtkampf"???

Lieber Dr. Posth! Heute brauche ich auch mal Ihren Rat, denn ich bin etwas verunsichert. Melissa ist jetzt 19 Monate, ein liebenswertes, aufgewecktes Mädchen. Neuerdings "geraten" wir jedoch häufiger aneinander, denn Melissa geht an Dinge, z.B. Gartenblumen, von denen sie eigentlich weiß. dass sie tabu sind. Es gibt nicht viele Dinge, die sie nicht darf, aber gewisse Grenzen sind halt vorhanden und diese Blumen sind, es mag blöd klingen, sowas wie meine Privatsphäre. Sie guckt mich an, ist am ganzen Körper angespannt und- zack- eine Blüte abgerupft. Sie weiß genau, dass ich schimpfe, aber sie macht es immer wieder. Nun überlege ich, dies eine Zeitlang komplett zu ignorieren, da ich mittlerweile das Gefühl habe, Melissa KANN nicht anders. Aber wie kann ich ihr am besten vermitteln, dass manches im Leben nicht für sie geschaffen ist? Wie weit kann sie das "Nein" mit 19 Monaten verstehen? Welche Konsequenzen kann ich ihr in diesem Moment zeigen? Mir fällt nichts mehr ein. Hauen und anschreien würde ich niemals tun, im Gegenteil, ich rede und erkläre und gebe ihr Alternativen. Gleich nach dem Rupfen nickt sie schuldbewußt, versteckt ihre Augen hinter ihren Händen und sagt: lieb! Wie gesagt, vielleicht haben Sie einen Rat für mich. Natürlich gibt es auch noch andere Situationen als diese Blumengeschichte, aber es sind immer Dinge, die meinem Mann und mir wichtig sind, sie spürt es genau und es scheint sie zu stören. Danke im voraus! Gruß Heidi

Mitglied inaktiv - 15.07.2003, 12:47



Antwort auf: "Machtkampf"???

Liebe Heidi, liebe Katja, über dieses Thema, nennen wir es einmal "gehorchen", habe ich in anderen Zusammenhängen schon viel geschrieben. Mal im Suchlauf unter "Nein", "Nein-sagen" oder dem berühmten "Grenzen setzen" nachschauen. Grundsätzlich ist es wichtig zu wissen, daß das Kleinkind in dieser Phase einige schwierige Klippen zu überwinden hat. Die will ich hier noch einmal schildern, und deshalb wird der Text etwas länger (er muß eben beispielhaft dienen). Zwei Geschehen bestimmen jetzt das Verhalten der Kinder: erstens der inzwischen ganz auf sich bezogene, schon weitgehend anwendbare Wille und zweitens die Erfahrung der Ichzentrale mit der Darstellung des persönlichen Selbst. Um mit diesen, letztlich ja existenziellen, Empfindungen und Gefühlen umgehen zu lernen, bedarf es gewisser Herausforderungen. Diese kommen zu diesem Zeitpunkt automatisch aus dem familiären Sozialgefüge durch die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern (oder Geschwister). Das ist unausweichlich, und es passiert überall so oder so ähnlich. Natürlich spielt das Temperament eines Kindes eine gewichtige Rolle und die Toleranzbereitschaft der Eltern oder Erzieher. Besondere Herausforderungen für das Kind sind dabei (unglücklicherweise?) jene Dinge/Handlungen, auf die die Eltern besonders schnell und empfindlich reagieren. Flugs hat das Kind heraus, daß es hier ums "Eingemachte" geht. Der Selbstgewinn ist dadurch natürlich ungleich höher, und es erscheint mehr als logisch (wir sind ja intelligente Wesen!), daß das Kind hierher öfter zurückkehrt. Dazu kommt ja noch das Machterlebnis, daß zum erstenmal im Leben der nun weitgehend Losgelöste seine ursprüngliche Bezugsperson in ihren Reaktionen steuern kann. Es ist töricht von uns Erwachsenen, diesen elementaren Vorgang in der Entwicklungspsychologie als oppositionelles Verhalten zu interpretieren und daraus die Konsequenz abzuleiten, nun endlich Grenzen zu setzen oder das Kind abzustrafen. Stellen Sie sich die kindliche Erfahrung hierzu vor. Nämlich: Macht wird regelmäßig durch größere Macht unterworfen. Größere Macht ist Fortgerissen-werden, Beschimpft-werden, Ein-Weggesperrt-werden, Geschlagen werden, usw. Diese unangenehmen, selbstdemontierenden Konsequenzen erzeugen Gefühle von Ohnmacht und Angst. Das jedenfalls ist ja auch ihr geheimer Zweck. Das Kind lernt aber, daß auf den Genuß von Selbstwert und Macht über die Bezugsperson (harmlose kindliche Macht!) Strafe, Ohnmacht und Angst folgen. Geschieht das zu oft oder permanent, wird aus diesem Gefühlsgemisch das jetzt erfahrungsmäßig überformte Gefühl (sekundäres Gefühl) der Trauer. Erste Anzeichen dessen erleben Sie ja bei Ihren Kindern im unmittelbaren Affekt, nämlich Augenreiben, Weinen, Betteln um Ihre erneute Gunst, stilles Abwarten, bis es wieder freigelassen wird, usw. Was wäre besser? Das ist die häufig etwas auftrumpfende Gegenfrage. Es müssen doch alle Kinder gehorchen lernen! Richtig, aber wie? Und was ist eigentlich Gehorchen? Eigentlich müßten alle Menschen Ihrer Vernunft und Einsicht gehorchen und sonst nichts und niemandem. Vernunft und Einsicht sind aber hauptsächlich verinnerlichte Moral. D.h. ein reifes, selbstbestimmtes Gehorchen geht erst dann, wenn Vernunft und Moral integraler Bestandteil des menschlichen Denkens geworden sind. Glauben Sie ein zweijähriges Kind erfüllte schon dieses Kriterium? Ich sage ganz klar nein! Das Kleinkind fängt erst an, die Strukturen von Vernunft und Moral zu verstehen. Und zwar einerseits über die Reaktion seiner Eltern und Erzieher durch Vorbild, zweitens durch Konsequenzen, die aus seinem Handeln resultieren und drittens aus der Identifikation mit dem Leid eines anderen (Empathie). Also müssen wir Eltern und Erzieher für alle drei Faktoren lebensnahe Beispiele liefern und mit den Kindern ausleben. Die abgerissenen Blüten erzeugen Trauer und Schmerz bei der Mutter, aber möglichst keine heillose Aufregung und Empörung. Ein paar Krokodilstränen dürfen fließen. Ein paar Blütenköpfe müssen wohl dran glauben. Eine Geschichte muß her, warum die Blüten so wichtig sind. Kinder lernen über erzählte Geschichten, die den Raum des Realen durchaus verlassen dürfen, wenns der "Wahrheitsfindung" dient. Leid anderer muß durch Beobachtung erfahrbar gemacht werden. Auf Trösten und Verzeihung bitten muß geachtet werden. Kinder tun das übrigens gerne. D.h. aber auch, daß wir Erwachsenen als Vorbilder trösten und um Verzeihung bitten. V.a. letzteres fällt uns zugegeben ziemlich schwer bei unseren Kindern, sind wir doch gewohnt zu denken, wir seien im Recht mit unseren Aktionen und Handlungen. Das hier sind nur Beispiele. Erziehungsfragen müssen immer individuell und vor Ort besprochen und geklärt werden. Natürlich spielen auch die Möglichkeit und Fähigkeit des Erziehers mit. Grundlegende Erklärungen sind immer nur der Einstieg in eine Verhaltensänderung. Daher kann ich in diesem Forum nicht ale Erziehungsprobleme im Einzelnen lösen. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 16.07.2003



Antwort auf: "Machtkampf"???

aber mein Monsterchen, jetzt auch fast 19 Monate alt ist zur Zeit genauso. Bei uns geht es aber immer um das Futter unserer Tiere, sie weiß ganz genau, daß sie da wegzubleiben hat. Auch sie hat sehr viele Freiheiten und ich nehme vieles nicht so erst. Aber irgendwie wollen die Zwerge in diesem Alter einfach testen ob man abends auf die selbe Sache noch genauso reagiert wie morgens. Ich habe jetzt als Konsequenz, wenn sie mal wieder versucht das Futter auszukippen oder Wasser reinzuschütten, einfach angefangen sie "auszusperren" bis die Tiere gefressen haben. Dann muß sie hinter dem Zaun zuschauen. Das gibt zwar dann Geschrei aber....... ich hoffe daß es so einmal reichen wird sie zu stören. Also ich bin der Meinung, sie versteht ganz genau, wenn ich sage: Laß das Futter stehen, die Tiere haben Hunger, oder du mußt raus. So ähnlich habe ich es auch geschafft, daß sie auf der Terrasse ihren Hut aufbehält:-) Da hieß es einfach: Hut an oder rein und ich war da auch konsequent. Es gab drei Tage Gebrüll, wenn ich sie dann einfach reingeholt und die Tür zugemacht habe, aber seit dem sagt sie immer schon selbst: Nana raus Hut und zieht ihn sich selbst an:-) Versuche es doch auch einmal so, wenn sie sich nicht stören läßt: Wenn Du diese Blumen nicht in Ruhe läßt mußt Du halt reingehen. Aber dann auch konsequent sein, auch wenn das Gemecker lautstark wird:-) Die Monsterchen verstehen mehr als man glaubt. Liebe Grüße Katja

Mitglied inaktiv - 15.07.2003, 13:06



Antwort auf: "Machtkampf"???

Hallo Katja! Danke für Deine lange Antwort. Ist immer tröstlich zu wisse, dass es anderen auch so geht. Ich glaube auch, dass diese Grenzen immer wieder neu ausgetestet werden. Sie könnten sich ja verändern... Ich schicke Melissa auch rein, wenn sie Blumen rupft, aber länger als 1-2 Minuten mag ich es nicht tun. Sie weint dann noch nicht einmal, sondern "sitzt" ihre Zeit ab und freut sich, wenn sie wieder raus darf! LG Heidi

Mitglied inaktiv - 15.07.2003, 13:24



Ähnliche Fragen ähnliche Fragen

Wie lösen wir den Machtkampf beim Einschlafen

Hallo, Unsere T. ist 4,5 Jahre alt und wir haben sie bis ca. vor einem Jahr immer in den Schlaf begleitet. Das Ritual: Umziehen, Lesen, Licht aus, ein bisschen erzählen, dann ruhig werden und warten, bis sie eingeschlafen ist. Dann haben wir festgestellt, dass sie immer länger brauchte, um einzuschlafen, da sie unsere ANwesenheit offenbar als Auffo...


Machtkampf beim Essen?

Unser Sohn ist knapp 10 Monate alt und war früher ein guter Esser, hat gut zugenommen, schön gewachsen und sich super entwickelt. Zunehmend verweigert er die Breimahlzeiten. Ausser Früchte und Fläschchen nimmt er von allem nur noch einige Löffel und schreit dann. Dabei strampelt er wie wild im Hochstuhl und mir kommt es vor, als ob er trotzt. D...