Frage: Zu viel stillen - geht das?

Hallo, liebe Stillberaterinnen, erst einmal vielen lieben Dank für die bereits gelieferte, kompetente Antwort, die mich vor einigen Wochen doch sehr beruhigt hat. Inzwischen bin ich allerdings wieder einmal nahe an der Verzweifelung und hoffe auf Ihre guten Ratschläge. Meine sechs Wochen alte Tochter wird unheimlich gerne gestillt und ich kann mir auch kaum Schöneres vorstellen. Langsam sieht man meiner Tochter das Übergewicht allerdings schon aus der Ferne an ... auch damit hätte ich kein übermäßiges Problem, dicke Babys sind meiner Meinung nach sehr süß, dummerweise bringt uns das aber schon kritische Blicke von meinen französischen Schwiegermüttern ein, die mich schrecklich verunsichern. Weiterhin finden die beiden es absolut verzogen, wenn ich die Kleine stille, um sie zum Schlafen zu bringen oder um sie zu beruhigen. Dadurch wird nämlich keineswegs ein zweistündiger Rhythmus gewährleistet. Angesichts dieser Situation hätte ich folgende Fragen: - Ist es Ihrer Ansicht nach in Ordnung, das Kind zu stillen, um es wieder zur Ruhe zu bringen oder zwinge ich ihm so Milch auf, die es gar nicht braucht? Trinkt ein Kind, auch wenn es gerade keinen Hunger hat? - Wie könnte ich es schaffen, meine Tochter nach dem Einschlafstillen dazu zu bewegen, in ihrem Bett zu schlafen? Sobald ich sie nämlich vom Arm ins Bett lege, ist sie sofort wieder wach und fordert sofort wieder Milch oder eben andere Aufmerksamkeiten. Ich wäre Ihnen für eine Antwort wirklich furchtbar dankbar! Liebe Grüße aus Paris, Isi samt Amélie.

von isi1980 am 31.08.2012, 18:30



Antwort auf: Zu viel stillen - geht das?

Liebe Amélie, seit Jahrtausenden und in unzähligen Kulturen ist es so, dass Mütter ihre Babys in den Schlaf stillen. Das Saugen wirkt beruhigend und nicht umsonst wurden im Laufe der Zeit die verschiedensten Brustattrappen (z.B. Schnuller s.o.) erfunden. Von der Natur ist es nicht vorgesehen, dass ein Baby oder Kleinkind allein ist und alleine einschläft. Nur passt dieses „natürliche" Verhalten des Babys nicht in unsere derzeitige Zeitströmung und damit haben wir ein (von uns selbst produziertes) Problem: Babys wissen nicht, was zur Zeit „Mode" ist und benehmen sich so, wie sie es seit Anbeginn der Menschheit getan haben. Leider geht der Trend zu immer früherer Anwendung sogenannter Schlaftrainingsprogramme und Eltern von Babys, die sich nicht dieser „Norm" anpassen, wird mehr oder weniger direkt vermittelt, dass sie selbst schuld sind, ja manchmal kommt unterschwellig sogar dazu, dass dies Eltern sich als Versager fühlen sollten. Ein Baby schläft ohne Brust ein, sobald es reif genug dazu ist. Das bedeutet jetzt aber nicht, dass Du noch die nächsten Jahre damit verbringen musst, dein Baby in den Schlaf zu stillen, wahrscheinlich wird es sogar schneller vorbei sein, als Du es dir jetzt vorstellen kannst. Menschenbabys sind Traglinge, die den Kontakt zur Mutter brauchen. Es ist von der Natur nicht vorgesehen, dass sie alleine sind und auch nicht, dass sie alleine schlafen. Das widerspricht dem Bild vom süß in der Wiege schlummernden Baby, das fast alle Frauen (zumindest beim ersten Baby) haben. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Ihr Kind nicht pausenlos schlafen will und ständigen Körperkontakt sucht. Außerdem schlafen die meisten Babys sehr viel weniger als es von den Eltern angenommen wird. Babys sind soziale Wesen, die die Welt, in die sie hineingeboren wurden erkunden und kennenlernen wollen und das geht nicht im Schlaf. Es gibt auch noch weitere Gründe, warum dein Kind aufwacht, sobald Du es hinlegst. Es wird einfach deshalb wach, weil es durch die Lageveränderung von senkrecht zu waagerecht geweckt wird. Eine solche Lageveränderung reizt das Gleichgewichtsorgan im Ohr und kann dazu führen, dass das Baby aufwacht. Wenn ein Baby liegend (an der Brust) einschläft und liegen bleiben kann, die Lageveränderung also wegfällt, sind die Chancen, dass es weiterschläft erheblich besser. Möglicherweise wird Ihr Kind auch wach, weil das Bett kälter ist als der Körper von Mutter oder Vater. Diese Temperaturunterschiede können ebenfalls zum Aufwachen führen. Hier hilft es, das Baby in eine Decke zu wickeln und in die Decke eingewickelt hinzulegen. Auch der Kopf sollte in der Decke liegen. Und nun noch zum Gewicht. Die Statur der Kinder ist genetisch festgelegt und bei einem Kind das nach Bedarf gestillt wird, ist nicht zu befürchten, dass dadurch der Grundstein für ein späteres Problem mit Übergewicht gelegt wird. Im Gegenteil, Stillen schützt vor Übergewicht. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch ein gestilltes Baby zwischendurch wie ein kleiner Buddha aussehen kann. Im Gegensatz zur (industriell) stark weiterverarbeiteten Nahrung enthält Muttermilch keine leeren Kalorien. Es gibt keinen Beweis dafür, dass ein gestilltes Kind, das rasch zunimmt, als Erwachsener Gewichtsprobleme haben wird. Im Gegenteil es gibt mehrere Untersuchungen, die zeigen, dass Stillen eindeutig vor Übergewicht schützt und dass dieser Schutz nicht nur im Kindesalter sondern auch beim Erwachsenen anhält. Das Fett, das sich in der relativ passiven Phase vor dem Krabbelalter möglicherweise ansammelt, stellt einen Vorrat für die sehr aktive Phase dar, in der das quirlige Krabbelkind keine Zeit zum Essen haben will. Im Alter von ein bis zwei Jahren werden die Kinder, die schnell zugenommen haben, gewöhnlich von alleine schlanker. Gerade Kinder, die nach Bedarf gestillt werden, behalten ein gutes Gefühl dafür, wann sie satt sind, denn sie entscheiden ja selbst, wann und wie viel sie trinken. Also keine Sorge, durch das Stillen nach Bedarf wird sicher nicht den Grundstein für spätere Gewichtsprobleme gelegt. Alle Stillexperten sprechen sich für das Stillen nach Bedarf und nicht nach Zeitplan aus. „Zu meiner Zeit hat man das aber ganz anders gemacht“ scheint der Schlachtruf (fast) aller Mütter, Schwiegermütter, Omas, Tanten usw. zu sein. In der Generation unserer Eltern hat in Deutschland fast keine Frau gestillt! Wenn doch, dann war sie meist ein ziemlicher Exot. Die damals üblichen Wiegeproben und der Vier Stunden Rhythmus haben bei den meisten Frauen, die es überhaupt versucht haben mit dem Stillen, sehr schnell dazu geführt, dass sie „keine Milch mehr hatten“. Nur einige wenige Frauen hatten das Glück, dass ihre Babys trotz der üblichen Einschränkungen (es gab damals noch viel strikter als es heute manchmal noch vorkommt auch die höchsten Fünf bis zehn Minuten Regel) gut zunahmen und ihre Stillbeziehung über einen längeren Zeitraum (sechs Wochen war schon sehr lange) Bestand hatte. Der vielbeschworene Vier Stunden Rhythmus stammt übrigens aus einer Zeit, in der es noch keine adaptierte Säuglingsnahrung gab. Die in dieser Zeit übliche Flaschennahrung konnte zu einer Überfütterung führen und durfte deshalb nicht wie bei der Brusternährung nach Bedarf gegeben werden. Nachdem die Flasche ihren Siegeszug angetreten hatte, wurde dieser Rhythmus dann auch auf das Stillen übertragen und so hält sich heute hartnäckig immer noch der Mythos des Vier Stunden Rhythmus. Die Stillprobleme, die sich aus all diesen Einschränkungen ergeben haben und die Tatsache, dass das Wissen über die Kunst des Stillens nicht mehr von der Mutter auf die Tochter weitergegeben wurde hat zur Gründung der La Leche Liga geführt. 1957 haben sich sieben Frauen in den USA zusammengefunden, um sich gegenseitig bei Stillproblemen zu helfen und sich vor allen Dingen gegenseitig gegen Rückhalt zu geben, weil sie gegen die allgemein verbreiteten Regeln, die zu so vielen Stillproblemen geführt haben, gehandelt haben. Ich wünsche dir gute Nerven, wenn es zur nächsten Auseinandersetzung zum Thema „aber bei uns war das alles anders und ihr seid auch groß geworden“ kommt. Vielleicht hilft es dir daran zu denken, dass es DEIN Kind ist und nicht das der Verwandtschaft. LLLiebe Grüße Biggi

von Biggi Welter am 31.08.2012