"Grenzgänger"?

Dr. med. Ludger Nohr Frage an Dr. med. Ludger Nohr Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Frage: "Grenzgänger"?

Hallo Dr. Nohr, im Entwicklungsgespräch meines 3,5 Jährigen wurde er als "Grenzgänger" bezeichnet. Soweit ich den Begriff klären konnte geht es dabei wohl darum, dass er seine Gefühle sehr offensiv auslebt. Konkret - auch Zuhause - ist er sehr laut und "aktiv", aber er ignoriert einen z.B. auch gern komplett. Wenn man ihn anspricht, dann zeigt er keinerlei Reaktion und beschäftigt sich einfach weiter mit dem, was er gerade tut oder geht einfach weg. Er ist vollkommen ignorant gegenüber dem, was man sagen will. (Gehör ok) Abgestuft wurde er in der Bewertung eben deswegen und weil es ihm egal ist, wenn z.B. andere Kinder weinen - so lange er nicht Schuld daran oder sonstwie involviert war. Sonst überall volle Punkte. Weder die Erzieher noch wir wissen, wie wir mit dieser Ignoranz seinerseits umgehen sollen. Geraten wurde uns, es erst weiter zu beobachten ob es sich in den nächsten Monaten ändert. Zuhause haben wir damit aber vor allem abends, wenn er müde ist zunehmend Probleme, weil es zu starken Konflikten führt. Ist dieses Verhalten lediglich eine Phase oder wie können wir dem gegensteuern? Ich will ihn nicht zum dressierten Dackel machen, aber er könnte ja wenigstens mal registrieren, dass man mit ihm redet. Wenn er dann "nö" sagt könnte ich besser mit umgehen als dieses Reden gegen eine schweigende Wand. Vielen Dank! Lilly

Mitglied inaktiv - 05.07.2018, 08:59



Antwort auf: "Grenzgänger"?

Liebe Lilly, ich weiß nicht genau, was mit dem Begriff "Grenzgänger" gemeint ist. Was Sie beschreiben ist ein Junge, der sich emotional abschottet. Das ist keine Ignoranz, sondern ein Schutz. Nicht in Kontakt gehen bedeutet auch, nicht berührt, verletzt oder bewertet zu werden (neben vielem anderen). Rückzug in die eigene Welt, in der nur er entscheidet, was passiert und was nicht. Das ist auch eine Fähigkeit, bedeutet aber auch, dass Kontakte für ihn nicht besonders positiv besetzt sind. Welche negativen Erfahrungen hat er da gemacht? Wenn Sie ihn wirklich ansprechen wollen, tun Sie das deutlich und mit Nachdruck, nicht so nebenbei. Versuchen Sie mal Situationen und Kontakte aus seiner Sicht zu sehen. Was passiert da für ihn, wie könnte er das erleben? Wir handeln meist aus "Sachzwängen", die die Welt der Kinder wenig ernst nimmt ("ist ja nur spielen"). Das ein bißchen zu verändern könnte hilfreich sein. Dr.Ludger Nohr

von Dr. med. Ludger Nohr am 06.07.2018



Antwort auf: "Grenzgänger"?

Hallo Dr. Nohr, vielen Dank für Ihre Antwort. Ich werde auf jeden Fall erst einmal probieren, die Situationen, in denen es besonders auffällt näher zu betrachten dahingehend, wie er die erleben könnte. Ich vermute, dass er manchmal denkt, man wolle mit ihm schimpfen, auch wenn das gar nicht der Fall ist, denn mitunter hilft es, wenn man extra betont, dass man ihn nur etwas fragen möchte - allerdings auch nicht immer. Er wurde/wird bei uns nicht auffällig oft geschimpft, wenn dann wird er eigentlich eher ermahnt eben weil er nicht reagiert. Allerdings bin ich ziemlich sicher, dass er vor seinem Wechsel im Kindergarten in der Krippe öfters mal geschimpft wurde von den Erziehern, da die mit ihm dort teilweise wohl etwas überfordert waren (sehr aktiv, sehr fordernd was geistigen und körperlichen Input betrifft). Er ist auch schon recht früh (2 Jahre, 5 Monate) in den KiGa gewechselt, weil er mit den Krippenkindern unterfordert war. Im KiGa war er dann aber sofort glücklich, weniger aggressiv und liebt auch die Erzieher in seiner Gruppe sehr. Es gibt ein, zwei Kinder mit denen er nicht so gut klarkommt in der Gruppe (ein Mädchen, das ihn schon mehrmals gebissen hat und ein Junge, der auch gern schlägt). Ansonsten ist er "fremden" Kindern gegenüber eher zurückhaltend, hat aber einen stabilen Freundeskreis von etwa 6-8 Kindern in seinem Alter bzw. etwas älter (3,5-4,5 Jahre). Mit denen spielt er täglich, sowohl im KiGa als auch, wenn das Wetter es zulässt, auf dem Spielplatz oder im Sportverein. Auch die Erzieherin meint, dass er an sich ein sehr "liebes" Kind ist, mit dem die anderen Kinder gern spielen - und der im Gegenzug gern mit den anderen Kindern spielt - alleine würde er quasi nie spielen. Wenn er kein Kind zum spielen hat, holt er sich eine Erzieherin dazu. Ich hätte ihn deshalb nicht so eingeschätzt, dass er Kontakt wirklich meidet. Wenn ich jetzt genauer drüber nachdenke würde ich allerdings sagen, dass sein "Nicht-Reagieren" sich ausschließlich gegen Erwachsene richtet. Ich würde nicht sagen, dass er bei anderen Kindern nicht reagiert, wenn ihn jemand anspricht - außer er ist wirklich mal extrem vertieft in das, was er tut, aber das ist eher selten. Meistens würde er selbst wenn er ins Spiel vertieft ist, das andere Kind eher zum Mitspielen auffordern oder einfach sagen "ich kann jetzt nicht, ich spiel gerade...". Wenn Sie sagen "nicht im Vorbeigehen", meinen Sie damit, dass man ihn bewusst aus der anderen Situation holt bevor man ihn anspricht? Also z.B. ihn erst berühren? Wenn wir ihn ansprechen, dann immer bewusst mit Namen, also nicht "in den Raum gefragt". Würde es helfen, wenn wir ihn öfters ansprechen in "neutralen" Situationen, also wo er nichts bestimmtes tun (oder nicht tun) soll, sondern... ihn einfach fragen, wie sein Tag war? Was er zum Essen will? Kann man das Reagieren "üben"? Wie gesagt, mir geht es nicht darum WIE er dann reagiert - also dass er "macht was man ihm sagt", sondern mir geht es darum, dass ich weiß, dass er mich jetzt überhaupt wahrgenommen hat, denn meistens hat man den Eindruck nicht (und auf Nachfrage weiß er auch nicht, was man gerade gesagt hat - oder sagt zumindest, dass er es nicht weiß). Vielen Dank Lilly

Mitglied inaktiv - 06.07.2018, 14:36



Antwort auf: "Grenzgänger"?

Liebe Lilly, ich nahm schon an, dass sich sein Verhalten eher auf Erwachsene bezieht und die Frage meinte, was hat er für Erfahrungen mit Erwachsenen. Gut dass er sozial so eingebunden ist, das ist wichtig und hilfreich. Ich würde das nicht in "neutralen Situationen" üben wollen, aber Ihre Fragen sind ja auch wertvoll, z.B. wie sein Tag war. Dann wird der Kontakt zu Erwachsenen nicht nur belastet, sondern auch positiver. Und mit Nachdruck bedeutet, wenn ich wirklich brauche, dass er mit zuhört und sein Spiel unterbricht, dann sollte das eindeutig und klar werden. Das kann man mit Worten oder berühren o.ä. erreichen. Dr.Ludger Nohr

von Dr. med. Ludger Nohr am 07.07.2018