Hallo Birgit,
ich habe eine Frage zum Thema nachts stillen. Habe mich mal durch deine vielen Antworten und auch durch die von Dr. Posth im Entwicklungsforum gelesen. Wenn ich Dr. Posth richtig interpretiere, befürwortet er nächtliches Stillen nach dem ersten Lebensjahr nicht, und empfiehlt das Stillen nachts nach dem 6.Monat langsam aufzugeben, da die Brustentwöhnung sonst extrem schwierig wird.
Ich bin jetzt völlig verwirrt. Meine Tochter ist ein halbes Jahr alt, und wir fangen gerade ganz langsam mit Beikost an. Ich glaube, ich möchte nicht die nächsten 2-3 Jahre noch stillen, aber zur Zeit sehe ich da keine Alternative. Stille momentan meist gegen 12 und gegen 4 Uhr noch mal.
Was mache ich denn da jetzt am Besten? Überlasse ich alles einfach sich selbst, und sehe wie es sich entwickelt? Oder muss ich anfangen langsam darauf hinzuarbeiten, das nächtliche Stillen zu reduzieren? Ist es wirklich so, dass wenn man nicht frühzeitig aufhört nachts zu stillen, man das dem Kind für sehr lange Zeit nicht abgewöhnen kann?
Wie ist denn deine Meinung dazu? Würde mich freuen, wenn du mir da was zu sagen könntest.
Danke und viele Grüße, May
Mitglied inaktiv - 12.05.2009, 21:27
Antwort auf:
nachts stillen - abgewöhnen?
Liebe May,
die These, dass das Langzeitstillen die Loslösung beeinträchtige oder ein Problem in Hinblick auf die Theorie des Übergangsobjektes darstellt, ist keineswegs bewiesen. Dieser Vorstellung liegt eine Hypothese zugrunde, für die es keinen Beweis gibt. Diese Überlegungen beruhen auf Beobachtungen in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe die vor langer Zeit gemacht wurden. Dem Stillen oder gar dem längeren Stillen wurde dabei überhaupt keine Aufmerksamkeit entgegengebracht (wohl auch, weil kaum bzw. nicht lange gestillt wurde).
Die neueste Verlautbarung der American Academy of Pediatrics ist übrigens sehr eindeutig. Dort steht nämlich "There is no upper limit to the duration of breastfeeding and no evidence of psychologic or developmental harm from breastfeeding into the third year of life or longer". (Es gibt keine Obergrenze für die Stilldauer und keinen Beleb für Schädigungen hinsichtlich der Psyche oder der Entwicklung, wenn bis in das dritte Lebensjahr oder länger gestillt wird).
Es ist immer wieder interessant wie unterschiedlich Menschen die Entwicklung von Kindern betrachten und wie sehr doch die Vorstellung davon, was in der kindlichen Entwicklung als "normal" bezeichnet wird, sich unterscheiden kann. Gerade die Themen "Loslösung" und "Bindung" sind hier ein gutes Beispiel für etwas, was sehr stark kulturell und vom Zeitgeist geprägt ist.
In Deutschland gibt es eine starke Tendenz, Kinder von Anbeginn an möglichst "selbständig" sein zu lassen, enge Bindung - die sich nicht zuletzt ja auch in körperlicher Nähe zeigt - wird als eher negativ angesehen und Mütter/Eltern haben oft Befürchtungen, dass das Zulassen von (körperlicher) Nähe und enger Bindung, das "Kleben" des Kindes an der Mutter bestärkt und die "Loslösung" erschwert. Aus diesem Grund wird von einigen Seiten dafür plädiert, Kinder möglichst früh abzustillen, von Anfang an oder spätestens mit wenigen Monaten alleine schlafen zu lassen, nicht zu tragen usw. Um die Trennung von Mutter und Kind voranzutreiben gibt es seit einiger Zeit sogar so genannte Loslösegruppen, in denen das Kind lernen soll, ohne Mutter auszukommen.
Parallel zu dieser Tendenz, sich möglich früh vom Kind abzugrenzen und dies als "positiv für die Loslösung" zu verkaufen, zeichnet sich ein Trend ab, dass es immer mehr bindungsunfähige und in ihrer Gesamtheit unsichere Jugendliche und Erwachsene gibt.
Ganz anders sieht es in Kulturen aus, in denen Nähe zwischen Mutter und Kind gefördert wird, in denen es normal ist, das Kind im wahrsten Sinne des Wortes an sich zu binden indem ihm zum Beispiel durch weit über das Säuglingsalter hinaus andauerndes Tragen, gemeinsames Schlafen und auch langes Stillen anhaltender Körperkontakt vermittelt wird. Gerade in punkto stillen sei hier angemerkt, dass es sich hier um weit mehr als reines Ernährung handelt.
Und nun kommt der wichtige Punkt: Die älteren Kinder und Erwachsenen aus den Kulturen, in denen es keinen forcierten Loslöseprozess gibt, sind keineswegs psychisch oder sozial gestört, unselbständig oder lebensunfähig, sondern im eher das Gegenteil ist der Fall.
Die Praxis zeigt, dass langzeitgestillte Kinder nicht unselbständiger sind als kurz oder gar nicht gestillte Kinder und auch keine vermehrten Probleme mit der Loslösung haben, im Gegenteil: Oft haben sie ein so starkes Vertrauen in sich und die Welt, dass sie recht forsch die Welt entdecken wollen. Außerdem spricht gegen diese Theorie, dass es dann weltweit gesehen sehr viele Kinder Probleme mit der Selbstregulation haben müssten, denn es gibt ja nun mal viele Kulturen, in denen das lange Stillen deutlich über das Babyalter hinaus üblich ist und es gibt Kulturen, in denen keine Übergangsobjekte bekannt sind.
Das lange Stillen führt definitiv nicht zu einer verspäteten Loslösungsphase.
Ein sicher gebundenes Kind, dem die Mutter erlaubt, sich gemäß seinem eigenen Zeitplan zu entwickeln, braucht keine "Unterstützung" im Loslöseprozess durch Loslösegruppen, forciertes Abstillen oder gezielt geplante Trennungen von Mutter und Kind. Im Gegenteil: Erhält das Kind die Gelegenheit, eine gute und verlässliche Bindung zu Mutter (und Vater) aufzubauen, zu wissen, dass es diese(n) Menschen restlos vertrauen kann, dann wird es aus seinem eigenen Antrieb heraus beginnen, sich für die Welt "außerhalb" zu öffnen. Es wird seine natürliche Neugierde ausleben und die Umgebung erforschen, Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen und seinen Aktionsradius zunehmend vergrößern und sich dabei natürlicherweise von der Mutter/den Eltern "lösen". Und ja, es wird sich auch selbst abstillen, wenn es so weit ist. Allerdings ist es nicht so, dass eine Mutter, die einfach nicht mehr stillen kann oder will, "ewig" weiterstillen muss, es ist durchaus möglich, ein Kind liebevoll abzustillen und dabei gleichzeitig seine Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Sicherheit und Bindung weiter zu erfüllen.
Dein Kind zeigt dir doch ganz deutlich, dass es DICH jetzt sehr braucht. Es braucht jetzt keine forcierte Loslösung, sondern ein Eingehen auf sein Bedürfnis nach Nähe und Bindung. Wird dies nicht erfüllt, dann kann zwar eine scheinbare Selbständigkeit des Kindes erzwungen werden, denn jedes Kind wird sich früher oder später darin einfügen, was die Eltern als Rahmenbedingungen vorgeben, aber dies hat nichts damit zu tun, dass das Kind selbst einen weiteren Entwicklungsschritt gemeistert hat.
Langer Rede kurzer Sinn: Wenn Du jetzt abstillen magst, dann ist das absolut getrennt davon zu sehen, dass dein Kind sich von dir "löst". Das Abstillen wird nichts an dem Bedürfnis deiner Tochter nach deiner Nähe und einer engen Bindung zu dir ändern, auch wenn das von außen gesehen so scheinen mag.
LLLiebe Grüße,
Biggi
von
Biggi Welter
am 13.05.2009