Hallo Hr. Dr. Posth,
1. Kann sich eine im Säuglingsalter entstandene sichere Bindung später noch in eine unsichere Bindung wandeln (zB falsche Vorgehensweise bei Eingewöhnung)?
2. Ist es möglich, dass eine Loslösung von der Mutter nicht gut klappt, weil die Loslösungsperson selbst unsicher gebunden ist ?
3. Wie äussert sich denn eine unsichere Bindung im Erwachsenenalter ?
4. Kann man unsichere Bindungen noch im Erwachsenenalter zu "heilen" ?
Ich habe viel über die Bindungstheorie nachgedacht. Früher hat man doch eher Säuglinge schreien lassen, Vorsatz unterstellt usw. Ich kenne noch den Satz "Kinder sind stumm wie Fische". Lässt sich hier in der Vorgeneration eine Tendenz zu unsicher gebundenen Menschen erkennen und wenn ja, welche Auswirkungen hat das auf die Kindergeneration (Scheidungsraten ?)?
Viele theoretische Fragen.. ich würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Gedanken dazu schildern könnten.
Dankeschön, Aurora
von
Aurora1979
am 07.11.2011, 07:15
Antwort auf:
Kann sich eine sichere Bindung später noch wandeln?
Stichwort: Bindungsstörung
Hallo, Ihre Fragen richten sich auch an diejenigen, die sich mit Bindungsstörungen im Erwachsenenalter beschäftigen. Da gibt es z.B. Prof. Bernhard Strauss am Universitätsklinikum Jena, der sich intensiv mit diesen Dingen beschäftigt und darüber publiziert. Es kann heutzutage als gesichert gelten, dass frühere Generationen darunter gelitten haben, überwiegend keine sicheren Bindungen zu ihren Eltern in der frühen Kindheit erlebt zu haben. Es war auch gar kein Erziehungsziel, eine solche sichere Bindung herzustellen. Im Gegenteil, man setzte darauf, dass die Kinder frühzeitig ihre Gefühle zu unterdrücken lernen, damit sie im späteren Leben "hart" genug waren, die Belastungen, die zu erwarten gewesen sind, auszuhalten.
Sichere gebundene Kinder wären tendenziell zu "weich" oder zu schwach gewesen für das, was auf sie zukam, nämlich Krieg, Krankheiten, Wegsterben der eigenen Kinder, Verlassenheit, Vertreibung, eventuell soziales Elend u.v.m. Dabei machten auch die eher wenigen Reichen in der Bevölkerung kaum eine Ausnahme. Aber man dachte über solche Zusammenhänge auch gar nicht nach, weil es a) die Psychologie und Soziologie dazu gar nicht gab und b) schon das Nachdenken darüber die gefürchtete Schwäche hervorrufen konnte. Die Kinder sollten ja hart werden.
Dass aber diese Härte mit die Ursache für all das schon immer gewesen ist, das mit ihr bekämpft werden sollte, ist eine Erkenntnis der heutigen Tage. Vielleicht ein Chance, einmal die soziale Welt ein wenig zu verändern.
Im Vordergrund standen die vermeidend unsicheren Bindungen, die diese Härte sich selbst gegenüber und dann auch den anderen gegenüber verkörperten. Sie waren wahrscheinlich die häufigste Bindungsform. Die ambivalent unsicheren Bindungen mit ihrem Wechselverhalten von Bindungsbedürfnis und Vermeidungsattitüde galten wahrscheinlich als die Neurotiker oder übel ausgedrückt "Spinner" in der Gesellschaft. Sie wurden durchaus als seelisch schwach angesehen und man blickte verächtlich auf sie. Die doch einigermaßen sicher gebundenen Kinder hatten eine Chance dann, wenn sie ein bisschen vermeiden gelernt hatten. Und das lernten sie spätestens in der Loslösungsphase, wenn ihnen der Wind der Zeit schon heftiger um die Nase wehte und kein sicheres Loslösungsvorbild vorhanden war. Allerdings entstanden dann auch zugleich Beziehungsstörungen oder sogar frühe Bindungsstörungen, was in Unkenntnis des Sachverhalts jedoch nicht wahrgenommen wurde. Das Ablösen in die Ki-gä spielte noch keine so große Rolle, da man die Kinder intuitiv erst mit 4 Jahren in die Gruppenbetreuung gab.
Bindungsstörungen von Grund auf heilen kann man meines Erachtens nur in der frühen Kindheit selbst, in der sie entstehen. Das versuche ich z.B. hier im Forum mit den Ratschlägen für die Eltern, wie sie mit Beziehungsstörungen und frühen Bindungsstörungen so geschickt umgehen können, dass sich das Kind innerlich erholen kann. Aber es gibt natürlich auch andere Bemühungen in diese Richtung. In meinem zweiten Buch "Gefühle regieren den Alltag" ist das das Kernthema. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 07.11.2011