Frage: Was denkt er/sie?

Unsere 3 jährige Tochter hat seit einiger Zeit eine ganz interessante Angewohnheit. Wenn ich ihr etwas erzähle oder erkläre hört sie ganz konzentriert zu und fragt dann: Was denkt Mama, was denkt Papa, was denkt.... Sie möchte von allen wissen, was sie zu davon halten und denken. Was bedeutet dieses Fragen?

Mitglied inaktiv - 23.10.2006, 13:35



Antwort auf: Was denkt er/sie?

Stichwort: magische Phase Hallo, Sie stellen mir da eine sehr kniffelige Frage. Ich will sie so beantworten: zunächst besitzt ein Kleinkind keine Vorstellug davon, daß es überhaupt ein Denken gibt. Es empfindet so, als ob alles, was geschieht, sich unmittelbar in seinem Kopf abspielte. Anders gesagt, das Kind empfindet so wie sie in einem Film, wenn Sie als Erwachsener vergessen, daß es sich nur um einen Film handelt (also der Sog, der von der Leinwand ausgeht). Woody Allen hat in seinem Film "The purple rose of Cairo" aus diesem Verwechselspiel der Welten (also illusionär und real) eine wahrhaft phantastische Geschichte gemacht. Der Film lohnt sich anzusehen! Zurück zum Kind: irgendwann mit Fortschreiten der Loslösung und der Erfahrung, ein eigenes Selbst zu besitzen, fällt dem Kind auf, daß sich die Welt in Wahrheit "da draußen" abspielt und daß es eine Sicht dieser Welt bei ihm selbst gibt, die willentlich auch etwas anders sein kann. Filmisch gesprochen heißt das, das Kind versteht plötzlich, daß die Welt, die es erlebt, sich wie ein Film vor ihm abspielt und es selbst der Zuschauer ist. Dabei wird ihm klar, daß es die Welt vor sich im Inneren immer auch ein bißchen anders sehen kann, als sie tatsächlich ist. Es kann mit seinem Kopf den "Film" manipulieren (so etwas empfindet ein Kind nur intuitiv und diese Darstellung hier ist natürlich das interpretierende Geistesprodukt eines Erwachsenen, der die kognitive Entwicklung des Menschen beleuchtet). Dieser erlebte und gefühlte Unterschied zwischen der eigenen Welt und der wirklichen Welt verleiht dem Kind Macht, die es liebend gerne ausnutzt bis hin zu ganzen Phantasiewelten (jedes Kind nutzt Macht sofort aus). Dazu pendelt es in spielerischer Form zwischen diesen Welt hin und her. Das ist die Ursache für die sogenannte magische Phase. Aber wir sind noch nicht am Ende! Jetzt will das Kind wissen, ob die Macht, die es selbst hat, auch die anderen Menschen besitzen. Da es verstanden hat, daß das, was es in diesem Zusammenhang empfindet, "denken" heißt, fragt es nun alle Anderen (natürlich zunächst die Hauptbezugspersonen), ob sie das auch können. Dabei geht es zunächst davon aus, daß der eigene RFilm auch genau derselbe Film in den Köpfen aller anderen ist. Erst mit 4 Jahren begreift es dann, daß dieser Film bei jedem anderen Menschen etwas anders aussehen kann (sog. Perspektivwechsel). Dadurch ist ihm einer neuer Horizont in der Weltsicht eröffnet, der jeden Menschen lebenslang auf diese Weise die Wirklichkeit begreifen läßt. Jetzt erst kann das Kind so denken wie wir Erwachsenen, und alle seine frühkindlichen Ängste, Sorgen und Befürchtungen können auf einmal relativiert werden und Schritt für Schritt vernünftig bearbeitet. Das ist der Grund dafür, daß wir Eltern und Erwachsene die Kinder bis etwa 4 Jahre mit unserer permanenten Nähe und unserer geduldigen Steuerung ihres Gefühlslebens die Sicherheit und das Vertrauen geben müssen, die sie für ihre psychische Gesundheit lebenslang brauchen. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 26.10.2006