Hallo Herr Dr. Posth,
Wenn ich Sie richtig verstehe, sollten Babies zunächst eine sichere Bindung zur primären Bezugsperson aufbauen. Um das erste Jahr herum beginnt die wichtige Loslösung, im Rahmen derer sich das Kind vermehrt einer anderen wichtigen Bezugsperson, meist Vater, zuwendet und von der Mutter löst. Was aber ist, wenn es nicht EINE Primärbezugsperson gibt, sondern beide Eltern gleichwertig anerkannt sind: beide pflegen, Sohn lässt sich von beiden trösten, traurig bei beiden, wenn sie Raum verlassen, Freude wenn zurückkehren, aber alles nicht bei Dritten). Gibt also sozusagen zwei primäre Bezugspersonen. Ist dann die Loslösung behindert? Wird eine dritte Person hierfür benötigt? Sollte der Vater sich im ersten halben Jahr vielleicht besser etwas zurückhalten? Vielen Dank für Ihre tolle Arbeit!
von
Dezemberbaby2012
am 16.09.2013, 07:51
Antwort auf:
Verständnisfrage zur Loslösung
Hallo, das Szenario, das Sie aufzeigen, ist das der konkurrierenden Bindungspersonen. Es ist richtig und auch wichtig, was Sie fragen. Das Psychologen-Ehepaar K. und K. Grossmann an der Universtät Regensburg hat sich mit diesen Fragestellungen befasst. Sie sind durch Beobachtungen zu dem Schluss gelangt, dass der Säugling und das junge Kleinkind versuchen, sich vor einer solchen "Bindungsverwirrung" zu schützen, in sie Rollenzuweisungen vornehmen und eine Bindungshierarchie bilden. Das heißt, die Mutter soll immer nur diese Aufgaben für das Kind ausführen und der Vater oder vielleicht die Großmutter jene Aufgaben. Die Mutter wird immer zum Trösten angesteuert und zum Zubettbringen gewünscht, der Vater soll das Wickeln und Füttern übernehmen und bestimmte Spiele mit dem Kind ausführen usw. Folgerichtig kommt es zum Protest, wenn die Eltern oder Ersatzbezugspersenen plötzlich ihre Rollen wechseln. die Kinder können dann sehr grantig und auch unglücklich erscheinen.
Vielleicht haben Sie ja auch solche Beobachtungen bei Ihrem Sohn schon gemacht. Dass er unglücklich ist, wenn Sie beide den Raum verlassen und glücklich, wenn Sie beide zurückkehren, ist eher noch das kleinere Problem. Schwieriger wird es bei der eigentlichen Vorbildfunktion. Denn der Bindungsrepräsentant signalisiert Abhängigkeit und wird in vorläufiger Personalunion mit dem Selbst gesehen, der Loslösungsrepräsentant signalisiert Autonomie und führt zum unabhängigen Selbst und in die damit verbundene Selbstständigkeit. Es gibt keine Möglichkeiten, diese Prozesse, die sich im Gehirn des Kleinkindes abspielen, zu messen.
Wenn also Bindungsperson und Loslösungsvorbild nicht klar voneinander abgegrenzt werden können, geschieht sicher etwas anderes im Gehirn, aber es funktioniert auch so. Das lehrt die Erfahrung. Nur genau messen kann man das nicht. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 17.09.2013