Frage: Unabhängigkeit?

Lieber Herr Posth, Als Selbständige mit einem schwer kranken Mann bin ich leider gezwungen, meine jetzt 12,5 Monate alte Tochter Amelie seit ihrem siebten Lebensmonat die Woche über zu wechselnden Betreuungspersonen (insgesamt sind es inzwischen fünf verschiedene, was mich nicht glücklich macht, aber aufgrund der zeitlichen und finanziellen Situation nicht anders geht) zu geben. Glücklicherweise macht sie das sehr unkompliziert mit. Vor allem, wenn andere Kinder dabei sind, ist sie sehr zufrieden. Dann bleibt sie auch bei fremden Leuten, während ich außer Sichtkontakt im Garten nebenan bin (so unlängst geschehen bei meinen Eltern). Bisher war es immer so, dass sie mir gleich die Ärmchen entgegengestreckt hat, wenn ich kam, um sie abzuholen, und dann teilweise noch weitergespielt, mich aber in das Spiel eingebunden hat. Heute war sie bei der Tagesmutter, die sie zugegebenermaßen besonders mag, die anderen Kinder waren schon im Bett, sie saß auf dem Arm der Tagesmutter und hat einfach überhaupt keine Notiz von mir genommen. Sie hat sich auch nicht gewehrt, als ich sie dann übernommen habe, aber etwas irritiert hat mich das Ganze schon. Es geht mir hier nicht um Eifersüchteleien oder gekränkten Stolz, sondern schlicht und einfach darum, ob das normal sein kann oder hier Frühzeichen einer psychischen Störung vorliegen könnte. Ich habe da einen Artikel über "sicher gebundene" Kinder im Hinterkopf, der besagte, in einem gewissen Alter sei es einfach normal, dass Kinder mit Freude auf das Wiederkommen ihrer Mutter reagieren. Dass unsere Bindung gestört ist, glaube ich nicht, ich hatte nach der Entbindung 8 Wochen ausschließlich für sie Zeit, sie ist gern bei mir, wollte sonst auch immer gern in meiner Nähe sein, wenn ich da bin. Leider bleibt mir neben Beruf, Arbeit und Pflege meines Mannes wenig Zeit, exklusiv Zeit mit Amelie zu verbringen. Ist denn jetzt schon ein Alter erreicht, in dem ein Kind seine Mutter nicht mehr unbedingt mit Freude begrüßt? Ich hätte das ja eher in einem höheren Alter angesiedelt... Über eine Antwort würde ich mich freuen, weil ich einfach nichts verpassen möchte. Viele Grüße von Susanna

Mitglied inaktiv - 09.04.2003, 23:07



Antwort auf: Unabhängigkeit?

Liebe Susanna, Ihre bedauerliche familiäre Situation läßt natürlich nicht den gewünschten Spielraum zu, den ein Säugling und Kleinkind haben sollte, um alle Bindungsphasen ungestört durchlaufen zu können. Sicher ist ein Säugling anpassungsfähig und wenn die Übergänge zwischen den wechselnden Bezugspersonen unter Beachtung der kindlichen Bedürfnisse vollzogen werden, wird das Problem auf jeden Fall abgefedert. Aber es wäre Schönfärberei, wollte man dabei von Problemlosigkeit reden. Wechselnde Bezugspersonen sind immer zugleich auch konkurrierende Bezugspersonen, das darf man nicht übersehen. Nichtbeachtung der wiederkehrenden Mutter gehört zum vermeidenden Verhalten, das grundsätzlich von großer innerer Spannung gekennzeichnet ist. Aber der Sgl./das KK. vermeiden es, diese Spannung deutlich zutage treten zu lassen. Offenbar ahnen sie, daß sie keine Chance hinsichtlich einer Änderung der Situation haben. Ob es dadurch später zu Verhaltensauffälligkeiten kommt, hängt sicher stark von dem weiteren Verlauf ab. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür wird meines Erachtens größer. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 12.04.2003