Rüdiger Posth, Berg. Gladbach, 23.11.2006 In den Medien wie Fernsehen und Zeitung sowie in anderen Veröffentlichungen ist immer wieder die Rede von dem fehlenden Verbindungsglied, dem missing link, zwischen dem unerwarteten Auftreten extremer Gewaltbereitschaft eines Menschen, seinen aktuellen Lebensumständen und seiner Biographie. Die zeitnahen Lebensumstände passen meist noch mit dem antisozialen Ausbruch der Täterperson gut zusammen, das Rätselraten fängt aber dann bei den zur Verfügung stehenden, biographischen Lebensdaten an. Einfach wird die Lebensgeschichte wieder, wenn eine zerrüttete Familie auszumachen ist. Aber völlig unbegreiflich wird sie, wenn zumindest nach außen ein vollkommen normales Elternhaus im Hintergrund steht. Immer wieder hört man von Zeugen aus dem früheren Leben des Täters die Beschreibung einer unauffälligen Persönlichkeit. Wie ist das möglich? Es sollte unbedingt der Versuch unternommen werden, den hier entstandenen Erklärungsbedarf aus den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie zu befriedigen. Solche Erkenntnisse über die Gefühlswelt der kleinsten und der größeren Kinder, sowie über die Verbindung von Fühlen, Denken und Handeln auf der Basis frühkindlicher emotionaler und kognitiver Entwicklungsprozesse sind in der Lage, das scheinbar widersprüchliche Täterprofil in neuen Zusammenhängen und das nötige Verständnis hervorbringend einzuordnen. Vier bekannte Faktoren aus der Psychologie der frühen Kindheit sind zu untersuchen, um die gestellte Aufgabe zu lösen: erstens die bindungstheoretischen Grundsätze der Säuglingszeit, erweitert um die Loslösungsprozesse im Kleinkindalter. Zweitens die innerpsychischen Vorgänge der Selbstentstehung. Drittens die Einflüsse des Aggressionstriebes und viertens das komplexe Geschehen der Gewissensbildung. a) Die Bindungstheorie, erweitert um die Schritte der Loslösung, gibt Auskunft über den Zustand der Psyche des Kindes beim Erwerb des eigenen, von der primären Bezugsperson losgelösten Selbst. Für die weitere Entwicklung gilt: Je günstiger die Gestaltung von Bindung und Loslösung verlaufen ist, desto stabiler kann sich das frühkindliche Selbst ausbilden. Das Selbst des Kindes ist der Spiegel seines Ich, den es der Gesellschaft entgegen hält. Das Kind will damit sagen: seht her, das bin ich und so sollt ihr mich sehen. Unschwer ist es sich vorzustellen, dass dieses Selbst sowohl überzeugte und damit stolze, als auch wenig überzeugte und damit schambesetzte Anteile besitzt. b) Die Selbstentstehung 1. Wie viel S t o l z nun im Selbst mitschwingt, hängt von vier Voraussetzungen ab: erstens von einer sicheren Bindung und einer erfolgreichen Loslösung. Zweitens von einem starken und „freien“ Willen. Der freie Wille, also der kontrollierbare und entscheidungsfreudige Wille (der, der auch sich selbst verneinen kann), ist Ergebnis einer günstigen, emotionalen Integration. Das heißt: Je mehr positive Empfindungen der Säugling in der primären Bindung und Mutter-Kind-Dyade aus seinen negativen Ursprungsgefühlen entwickelt hat, desto „stärker“, d.h. besser steuerbar wird dieser Wille. Drittens von einer das Selbst stärkenden Erziehung, die den Erwerb positiver Zuschreibungen oder Attribute (Achtung, Anerkennung, Lob, etc.) seitens der Eltern gewährleistet (später auch anderer wichtiger Personen im Leben des Kindes). Viertens vom erfolgreichen Agieren des Kindes in der altersgleichen Gruppe und später in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen. 2. Wie viel S c h a m nun mitschwingt ergibt sich folgerichtig aus dem jeweiligen Gegenteil dazu, also: unsichere Bindung und erschwerte oder misslingende Loslösung, „unfreier“, das heißt dranghafter, schwer korrigierbarer Wille, selbstschwächende Erziehung durch eine hohe Zahl negativer Attribute (Demütigung, Abqualifizierung, Vernachlässigung, Misshandlung) sowie Erfolglosigkeit in der Gruppe und der Gesellschaft. Mit dieser letzten Entwicklung in der Gefühlswelt des Kindes gelangen wir auf die Spur zur Entwicklung von Gewaltbereitschaft. Dazu brauchen wir aber noch den nächsten Punkt. c) die Aggression. Die Stärke der Aggressivität eines Kindes ist zunächst einmal eine Frage seiner genetischen Veranlagung. Normalerweise dient die Aggression dem Kind dazu, seinem Selbstbehauptungsbestreben im Trotz, wenn es nötig erscheint, Nachdruck zu verleihen. Weiterhin dient sie dazu, sein gerade erworbenes Selbst in Zukunft gegen Anfeindungen zu schützen. Es gibt stark und weniger stark aggressiv veranlagte Kinder. Interessant im Rahmen einer Entwicklung zur Gewaltbereitschaft sind vor allem die letzteren Kinder, die mit hoher Aggressionsbereitschaft. Diese greifen sehr viel schneller zu aggressiven Mitteln der Selbstverteidigung als die anderen. Sie greifen aus vier Gründen dazu: erstens wenn sie sich aus der Mutter-Kind-Bindung nur erschwert haben loslösen können (fehlendes Loslösungsvorbild und stark rückbindende Mutter sind die beiden Hauptgründe). Zweitens wenn sie vielfach negativ attributiert werden, was das Ergebnis einer zu harten und rigiden oder völlig strukturlosen Erziehung ist. Also Vernachlässigung wirkt sich ähnlich ungünstig aus, wie zu große Strenge, emotionale Kälte oder Demütigung und Misshandlung. Drittens wenn ihr Wille zu schwach ist und sie zwanghaft immer das umsetzen müssen, was ihnen als Wunsch und Bedürfnis gerade in den Kopf kommt. Automatisch ecken sie so immer wieder in der Gruppe und der Gesellschaft an und erzeugen dadurch ein hohes soziales Spannungspotential. Kommen alle diese Komponenten zusammen und erlebt das Kind jetzt auch noch Gewalt in der Familie oder bei anderen ihm als Vorbild dienenden Personen, dann ist der Weg in die aggressiven Verhaltensweisen geradezu vorgezeichnet. d) Die Gewissensbildung Nun hat die Natur so etwas wie eine zentrale Sicherung in die psychosoziale Entwicklung des Menschen eingebaut, das Gewissen. Die Gewissensbildung basiert jedoch auch wieder auf den persönlichen Empfindungen von Stolz und Scham, da das Gewissen Strukturbestandteil des Selbst werden muß, um wirksam in die Handlungsstrategien eingreifen zu können. Das Gewissen arbeitet immer stärker mit geistigen bzw. verstandesmäßigen Fortschritten des Gehirns, um die Gefühlswelt in ihrer Organisation und Strukturierung zu unterstützen. Schuldempfindung, Reue und das Bedürfnis nach zukünftiger Unterlassung sowie Wiedergutmachung folgen dem inneren Leidensdruck, den ein begangener Fehler im sozialen Handeln oder ein Versagen gegenüber dem elterlichen oder gesellschaftlichen Anspruch auf rechtmäßiges Tun verursacht. Emotionaler Antrieb dieser Empfindungen ist die Scham über das persönliche Versagen. Die Kraft zu diesen Empfindungen entnimmt das Kind seiner inzwischen erworbenen Fähigkeit zu Empathie und Mitleid. Sein Verständnis für die Lage des anderen entnimmt es seiner erworbenen Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Der Lohn für diese Bemühungen ist die Anerkennung durch die Gemeinschaft. Aber auch einen ganz eigenen Lohn „nimmt sich“ das Kind für die Unterwerfung seines Handelns unter das Gewissen, den daraus erwachsenden Stolz auf die Zulassung seiner Scham. Das empathische Fühlen ist der ursprüngliche Antrieb zu dieser Entwicklung und entsteht auf dem Boden einer befriedigenden Selbstverwirklichung. Selbstbewußtsein wird zum Inbegriff dieser innerpsychischen Entwicklung. Diese Entwicklung ist aber nur dann möglich, wenn das Selbst überwiegend von Stolz getragen ist und sein Schamanteil auf ein erträgliches Maß beschränkt bleibt. Andernfalls gelingt dieser entscheidende Schritt nur unvollständig oder überhaupt nicht. In solchen Fällen, und besonders diese Fälle interessieren hier in der Besprechung der Entstehung von Gewaltbereitschaft Jugendlicher, bleibt die Gewissensbildung im Keim stecken und verfängt sich in der Anhäufung von Schulderkenntnis und anwachsender Scham. Immerhin kann die Schuld (bei ausreichender Intelligenz) noch verstanden werden angesichts der Vorwurfshaltung der Eltern oder Erzieher, schließlich der ganzen Gesellschaft, aber sie führt nicht mehr weiter zur Gewissenbildung. Die ungehindert weiter anwachsende Scham bildet nun einen fruchtbaren Nährboden für die fortschreitende Abqualifizierung des eigenen Selbst. Die unvermeidliche Folge ist ein stetiges Absinken der Selbstachtung bis in die Wertlosigkeit. Solche Kinder suchen sich, sobald sie meinen, die Eltern als Organisatoren ihrer Gefühlstruktur nicht mehr zu brauchen, andere Kinder und Jugendliche, in deren Gruppen- oder Bandenbildung sie ihr beschädigtes Selbst bereitwillig einfügen. Dort fühlen sie sich wieder aufgehoben. Dadurch sind sie aber allen falschen Vorbildern ausgeliefert. In solchen Banden wächst die Bereitschaft zur Gewalt unaufhaltsam, da ihr Handlungsraum sich bewusst außerhalb der Gesetzmäßigkeiten von Empathie, Mitleid und Gewissen bewegt. Allein die Aggression zählt noch als ein alle zusammen fügendes Gesetz, weil alle gemeinsam ihr beschädigtes und in den eigenen Augen wertloses Selbst zu verteidigen haben. Die innere Not schweißt die Kinder und Jugendlichen zusammen. Alternative Vorbilder gehen verloren oder werden kollektiv der Verachtung preisgegeben. Der Weg in die gemeinsame Gewaltausübung ist bereitet. Aber es gibt noch eine andere Entwicklung. Einige Kinder fügen sich schlecht in solche Gruppen und Banden ein. In ihrer Selbstmissachtung schwingt ein Quäntchen Selbstüberschätzung mit. Dieser Widerspruch rührt her aus extrem starken Rückbindungserfahrungen in die ursprüngliche, primäre Bindung und findet seine Auflösung in der totalen Verachtung aller menschlichen Bindungsstrukturen. Diese Verachtung ist der Preis für das ewig unerreichte, in Scham versinkende Selbst. Sogar die Bande bietet für solche Jugendliche keine Heimat mehr. Sie entwickeln sich zum Einzelgänger und flüchten sich in eine Phantasiewelt der globalen Vernichtung. Angeheizt von ihren ständigen Versagenserlebnissen und beflügelt von ihrer Einzelkämpfernatur werden sie zu jenem menschlichen Sprengstoff, welcher eines Tages wie aus dem Nichts Rache an der Gesellschaft übt.