Frage im Expertenforum Ergotherapie bei Kindern an Kristin Windisch:

Paradoxes Verhalten - Hilfe durch Ergo oder bei Psych.Beratung?

Kristin Windisch

 Kristin Windisch
Staatlich anerkannte Ergotherapeutin
Zertifizierte Fachergotherapeutin für Pädiatrie GfpF

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Frage: Paradoxes Verhalten - Hilfe durch Ergo oder bei Psych.Beratung?

Passion08

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Sehr geehrte Frau Windisch, unser Sohn wird in einem Monat 6 Jahre alt und zeigt seit einem Jahr immer verstärkter einen für uns sehr paradoxen Charakter. Einerseits ist er extrem schüchtern, gegenüber fremden Personen sehr scheu und zurückhaltend, möchte nicht alleine schlafen uvm,, andererseits ist er sehr schnell überaus aggressiv ( va gegenüber mir, Mama ), jähzornig, wirft wenn etwas nicht funktioniert alles durch die Wohnung oder versucht es zu zerstören ( basteln, Spiel das droht mit "verlieren" zu enden ), möchte bei einem Spiel ( wenn er sich mal dazu überreden lässt ein Gesellschaftsspiel zu spielen ) die Regeln selbst erstellen und hält sich nicht an die Vorgaben, kann nicht verlieren, hat insgesamt eine extrem niedrige Frustrationstoleranzgrenze,... Ist er mit einem Kind ( Freund ) auf dem Spielplatz macht es ihm scheinbar Freude andere Kinder zu ärgern. Wird er selbst aber auch nur ausgegrenzt ( was selten ist ) ist er zutiefst verletzt und trägt das tagelang mit sich herum. Seit wenigen Monaten ist er begeistert von der Müllabfuhr - eigentlich nicht schlimm. Leider führt dies aber dazu, dass er alles(!) zu Müll macht, was er finden kann ( er zerstört manche Spielsachen einfach, nur um einen Müllsack verwenden zu dürfen; sammelt Müll beim Spazieren gehen oder nimmt im Supermarkt alle Kartons mit, die für ihn tragbar sind ). Unser Sohn konnte noch nie gut alleine spielen und benötigt schon immer sehr viel Aufmerksamkeit. Die bekommt er auch. Wir sind an sich eine naturnahe - aktive Familie ( er hat keine Geschwister, aber Familienmitglieder jeden Alters im Umkreis von 15 km ) in der wir weder laut gesprochen haben, noch abwertend über andere gesprochen haben. Es wurde "früher" nie geschrien und wir sind eigentlich nicht hektisch ( höchstens mal morgens auf dem Weg zur Arbeit oä ), eher ausgeglichen, ich liebe Spiele, Puzzle, Knobelaufgaben,... Ich gehe Teilzeit arbeiten, mein Mann ebenfalls, wir haben ein gutes Verhältnis zu unserer Familie und gute Freunde mit denen wir respektvoll umgehen. Wir leben ihm also keineswegs Aggression, Ungeduld, Hektik oä vor. Seit einiger Zeit wird der Ton bei uns in der Familie allerdings auch lauter und aggressiver und mein Mann und ich streiten uns sehr oft aufgrund des oft (!) unangemessenen Verhaltens unseres Sohnes. Mein Mann tendiert zu einer autoritären Erziehung, die ich aber nicht für angemessen halte. Ich versuche es mit "gewaltfreier" Erziehung, aber auch ich schreie in letzter Zeit immer öfter und kann das verzweifeln an seinem Verhalten nicht verstecken. Der Tag beginnt schon JEDEN morgen damit, dass wir immer erst betteln müssen, dass er sich erst anzieht und dann zum spielen kann. Der Irrsinn: Sobald er dann fertig ist, steht er gelangweilt da und weiß nicht was er eigentlich spielen soll und ist sofort unzufrieden. Dann beginnt er unsere ( schon sehr alten ) Katzen zu ärgern. Das führt zu Ärger. Er möchte immer nach draußen - auch am frühen Morgen. Wenn ich dann die Katzen in ein anderes Zimmer bringe um sie aus der Situation zu befreien, rennt unser Sohn fast täglich nach draußen ( was ihm zur zeit täglich nasse Strümpfe, Hausschuhe etc. beschert ) und möchte in seinem Garten spielen oder Trampolin hüpfen. Wenn ich ihm sage ( bevor ich die Katzen wegbringe ) er soll bitte drinnen bleiben, scheint er das zu ignorieren. Nur wenn ich ohrenbetäubend hinter ihm herschreie und mit Strafen drohe ( er darf keinen Müll mehr wegbringen,... ) nimmt er mich scheinbar war. Kein Bitte, kein "ich möchte, dass Du nicht nach draußen gehst, da es noch zu kühl ist,... wir gehen heute mittag nach draußen,..." zeigt Wirkung. Ich habe bei der Kinderärztin nachgefragt, ob ADS dahinterstecken könne. Sie meinte aber "mangelndes Selbstvertrauen" und hat mich zur Ergo verwiesen. Hier habe ich in 6 Wochen einen Termin. Diese Zeit scheint mir nahezu ewig, da es täglich mehrmals zu lautstarken Konflikten in unserer Familie kommt und mein Sohn dann oft auch weint. Außerdem möchte ich Sie gerne fragen, ob man solche umfassenden Konflikte alleine/begleitend mit einer Ergotherapie lösen kann? Unser Sohn beschimpft uns auch mit sehr bösen Kraftausdrücken, die wir selbst nicht verwenden, er schlägt nach mir ( und ich muß zugeben sowohl mein Mann als auch ich haben "zart" schon einmal zurückgeschlagen, als er mir zum Beispiel weiderholt ins Gesicht gespuckt hat mir sagte dass er will dass ich bald tot bin und Teile seiner Werkbank und abschließend die Schere sehr zornig-lachend nach mir geworfen hat ). Es ist mir ein Graus mit ihm zB Schuhe kaufen zu gehen, da er auch hier so reagiert,... Gleichzeitig ist es so, dass er sehr sensibel ist. Ich war erst vor zweit Tagen verzweifelt im Auto gesessen ( nachdem er im Minutentakt etwas angestellt hat, dass in keinster Weise nachvollziehbar war ) und habe nur noch gefragt ( sehr laut ) "warum?????Warum??? Ich verstehe nicht warum,... ". Da hat er angefangen bitterlich zu weinen und geklagt er hat Bauchweh und warum jeder mit ihm schimpft... Er stellt auch bei Freunden immer wieder etwas an ( reißt Blumen aus dem Garten, zerstört Spielsachen der GEschwister der Freunde, malt die Couchkissen mit Kreide an,... ) und kann sich auch mit Freunden nicht an Lego, Playmobil oä erfreuen. Er will immer nach draußen. Ich sitze jeden Abend da und bin verzweifelt, weil ich finde, dass er sich selbst seine schönste Zeit im Leben kaputt macht und uns als Familie noch dazu ( psychisch ). Er konnte noch nie alleine sein oder alleine spielen; aber er war bis zu seiner Kindergartenzeit immer sehr empathisch ( hat im Kinderturnen geweint wenn ein anderer hingefallen ist, hatte Angst vor lauten Geräuschen etc. ). Kann man sich so wandeln???


Kristin Windisch

Kristin Windisch

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Hallo, vielen Dank erstmal für die ausführliche Schilderung ihrer ernsten und täglichen Probleme. Das klingt nach einem sehr anstrengenden Alltag. So wie es sich anhört, brauchen Sie schnell Hilfe und ja, Ergotherapie wird da sicher auch unterstützen, aber benötigt eben auch viel Zeit (erst die Diagnostik, dann die Elternberatung und wird ebend meist nur 1x/Woche verordnet, was die Therapieerfolge bei hoffentlich erfolgender Eltern- und Alltagsberatung trotzdem in die Länge zieht). Haben Sie der Kinderärztin die täglichen Probleme genauso ausführlich geschildert, wie mir? Tun Sie das (ohne Anwesenheit des Kindes!!) und erfragen weitere Möglichkeiten. Ich würde parallel noch weitere Unterstützung anfordern: möglich wären hier - eine Mutter-Kind-Kur mit Schwerpunkt Verhalten und Regulation des Kindes, wo aber auch Beratungsmöglichkeiten der Eltern angeboten werden - psychologische Beratung der Eltern im Umgang mit agressivem Verhalten des Kindes (beim Hausarzt Verordnung erfragen), je besser Sie gerüstet und beraten sind, wie sie auf das Verhalten ihres Kindes reagieren und aus dem Kreislauf unangemessenes Verhalten(Kind)-Schreien (Eltern) herauskommen, umso mehr wird das den Umgang mit dem Kind erleichtern - Eltern-Kind-Beratungsstellen: z.B. von DRK, Caritas, etc. sind kostenfrei - hier im Expertenforum bei Dr.Nohr um Einschätzung und weitere Handlungsmöglichkeiten anfragen Ich sehe durch ihre Schilderungen einen dringenden Handlungsbedarf, zumal ihr Kind ja auch älter und stärker wird und in der Schule auch einen angemessenen Umgang mit Frustration und Aggression brauch. Ich vermute in der Kita gibt es dadurch auch Probleme oder er zeigt sich hier übermässig angepasst und lässt seinen Emotionen nur zu Hause freien Lauf (er hat hier die nötige Sicherheit: ich kann alles rauslassen,was sich im Angepasstsein in der Kita aufgestaut hat, denn ich weiß, ich werde trotzdem geliebt). Zu empfehlen ist neben sportlicher Betätigung und frischer Luft auch körperliche Wahrnehmung: also abends im Bett z.B. Massage mit ringförmigen Druck (beide Hände umgreifen Arm, Bein und drücken zu, rücken dann Stück für Stück weiter (Kind darf sagen wenn es zu stark ist, es sollte aber schon ein Druck und nicht ein Streicheln sein)), Igelballmassage, Rückengeschichten (Kuchen backen, Pizza backen, Bauer fährt aufs Feld). Tiefendruck reguliert, entspannt und die Nähe baut positive Beziehung zueinander auf. Das kann auch als Möglichkeit angeboten werden, wenn er "auf 180 ist", also der Erregungsgrad hoch geht: besprechen Sie in ruhigen Momenten mit ihrem Kind, was es dann ausprobieren möchte, um wieder etwas herunterfahren zu können (z.B. Schubkarre laufen, rennen/hüpfen, kaltes Wasser über die Arme, Eiswürfel lutschen, Kaugummi kauen 2 bis 3 Stück auf einmal, die Hände stark gegeneinander pressen), und erfragen hinterher, was gut geholfen hat. Negatives Verhalten erzeugt auch Aufmerksamkeit (auch wenn es eine negative ist) und oft ist es so, dass bei so einem anstrengenden Alltag, die Momente untergehen, in denen es gut klappt. Versuchen Sie ihren Fokus darauf zu legen und in Momenten, wo er sich angemessen verhält, das hervorzuheben und ihm dann gezielt Aufmerksamkeit zu schenken und gemeinsam (sei es ein paar Minuten) etwas zusammen zu tun, dass er gern macht. Führen Sie abends als Ritual ein, dass jeder zwei Sachen sagt, die man heute positiv fand oder worüber man sich gefreut hat. Sie selbst nennen dabei Dinge, die Sie von ihrem Kind heute gut fanden. Vermitteln Sie Werte und erwünschtes Verhalten über selbst ausgedachte Geschichten oder Märchen, in denen z.B.eine Tierfamilie ihre Position einnimmt und die Löwenmama (oder ein anderes bei ihrem Kind beliebtes Tier) ihrem Löwenkind erklärt, wie es ihr geht, wenn das Löwenkind sie schubbst und eine Handlungsalternative vorgeschlagen wird. Gewaltfreie Kommunikation wäre noch ein Ansatz. Holen Sie sich jetzt Hilfe, je länger er dieses Verhalten aufzeigt, umso schwieriger wird die Beziehung zwischen Eltern-Kind und dann auch im sozialen Kontext Kind-Kita/Schule. Und bis zum 5.LJ war alles in Ordnung, gab es vielleicht einen Auslöser in Kita oder zu Hause? Alles Gute Kristin Windisch


zweizwerge

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Hallo Passion, wenn ich meinen Eindruck kurz schildern darf... ich finde, das hört sich anstrengend an. Allerdings würde ich persönlich meine Kämpfe auch auswählen. Du schreibst z.B., dass Ihr euch täglich morgens streitet, zum einen, weil er sich vor dem Spielen erst anziehen soll, und er dann angezogen aber nicht mehr spielen will/sich langweilt. Und dann, dass er morgens sofort raus will zum Toben, was Du unterbindest, weil es noch zu kalt sei. Also ok, ich würde auch nicht wollen, dass meine Kinder im Schlafanzug raus gehen (würde sonst dreckig), und ich würde mir auch wünschen, dass sie sich vor dem drinnen spielen umziehen würden. Aber das tun sie, jedenfalls am Wochenende - auch mit 8 noch nicht alleine, weil sie eben lieber spielen wollen. Dann helfe ich ihnen entweder beim Umziehen, damit sie parallel spielen können, oder ich gebe Ihnen eine Fleece-Jacke zum Drüberziehen, oder ich lasse sie halt solange spielen, bis es Frühstück gibt. Wenn sie in die Schule müssen, dann müssen sie sich natürlich auch schon mal alleine anziehen, dann ist aber auch sonst keine Zeit zum Spielen. Vielleicht "langweil" er sich nach dem Umziehen, weil Ihr euch gerade schon darum gestritten habt und alle seine guten Ideen dadurch verschwunden sind. Und wenn er dann die Katze ärgert (weil er sich grad geärgert hat), ist's auch nicht recht, und wenn er raus will, erst recht nicht. Und warum soll er nicht vormittags/früh morgens draußen tobern? Weil du es zu kalt findest?? Kinder haben ein ganz anderes Kälteempfinden - und ein ganz anderes Bewegungsbedürfnis. Ja, natürlich, auf halbwegs angemessener Kleidung würde ich auch bestehen - meine Kinder tragen aber durchaus mal T-shirt, wenn sie Trampolinspringen, auch wenn ich in der Fleece-Jacke friere. Draußen Hausschuhe geht nicht, aber vielleicht kannst Du ihm Crocs o.ä. für den Weg zum Trampolin hinstellen und ein altes Handtuch zum Abwischen mitgeben? Wenn die Socken vom Trampolin nasswerden, dann kann er sie ja auch danach wechseln (vielleicht einfach nicht morgens, sondern nach dem Trampolinspringen neue Socken anziehen:-). Wenn er nicht raus darf, weil es Dir zu kalt ist, finde ich das auch unverständlich. ... und nach so einem Morgen, an dem Ihr euch mehrfach gestritten habt und er nicht Toben durfte, obwohl er das Bedürfnis dazu hatte, finde ich, ist es kein Wunder, dass es nicht besonders glatt weitergeht, und er das Gefühl hat, das alle nur noch mit ihm Schimpfen. Das Gefühl hast Du ja sogar auch. Übrigens ist Spiel umwefen bei Angst zu verlieren in dem Alter noch ziemlich normal. Geht besser mit dem Alter, evtl. auch Übung. Einer von meinen beiden neigte dazu. Das geht jetzt besser, was ich vor allem auf's Kartenspielen schiebe. Da geht ein Spiel so schnell, dass es nicht so schlimm ist, wenn man mal verliert. Inzwischen gehen auch andere Spiele, auch wenn er sich das Verlieren immer noch sichtbar zu Herzen nimmt. Müll: wenn er Spielzeug kaputt macht, bekommt er kein neues. Hat er so viel Spielzeug, dass er es nicht vermisst? Lass ihn doch Kartons schleppen, da sehe ich kein Problem, wenn er sie auch wieder wegschmeisst. Wenn er Müll im Park sammelt, großes Lob von mir! Danach Hände waschen ist allerdings Pflicht. Schuhe bestellen wir online, dann kann man sie zuhause anprobieren. Natürlich sind einige Sachen auch indiskutabel, vor allem die körperliche Gewalt gegen Dich und das Ärgern der Katze. Aber wenn Du nicht so oft verbietest, braucht Ihr Euch auch viel weniger zu streiten und kommt dann hoffentlich nicht mehr in einen Teufelskreis, dass er nur noch negative Aufmerksamkeit bekommt, damit nicht glücklich ist, aber nur noch weiß, wie man negative Aufmerksamkeit bekommen kann.. außerdem kann er dann besser unterscheiden, was wirklich nicht geht, und was nur gerade etwas unpraktisch ist. Bei seinem Bewegungsbedürfnis würde ich gaaanz viel Sport machen, mit ihm zusammen, und/oder ihn z.B. beim Fußball oder beim Trampolin-Verein oder sonstwo anmelden (evtl. auch Kampfsport, z.B. Judo, weil da auch Regeln verinnerlicht werden müssen), und dafür loben, wie toll er sich bewegen kann. alles Gute!


Mucksilia

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Ich bin kein Fachmann und will mich auch nicht einmischen. Aber stell den Text mal in das ADHS-Forum. Da werden alle (einschließlich ich) mit dem Kopf nicken und sagen, dass sie das bestens kennen.


Passion08

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Hallo, danke für die Info. Ich hatte deshalb schon Kontakt mit der Kinderärztin. Sie ist überzeugt davon, dass er kein ADHS/ADS hat. Sie meinte es liegt an "falscher Selbstwahrnehmung und mangelndem Selbstvertrauen". ADS ist also auch nach einem ersten Test dort nahezu ausgeschlossen. Trotzdem danke!


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