Mitglied inaktiv
Hallo Johanna, du schreibst ja in letzter Zeit wieder öfter hier, wie ich mit INteresse bemerkt habe... :-) Die "Nichterziehung" wie du sie propagierst erscheint mir zwar nach wie vor relativ "extrem" bzw. im Alltag schwer praktikabel, aber durchaus immer wieder sehr nachdenkenswert und reich an Anregungungen. Jetzt würde mich mal folgendes interessieren - in einem der letzten Postings hier hast du geschrieben, du seist früher auch sehr streng gewesen, mit ner ganzen Palette an Strafen usw. Und dann hast du plötzlich mit "Erziehung" ganz aufgehört - zack?! Das kann ich mir irgendwie nie so recht vorstellen. Ich denke immer das ist eher so ein allmählicher Prozess, dass man dem Kind nicht mehr so viel verbietet oder ihm mehr Kompetenz zutraut und nicht mehr so viel kontrolliert... usw., und irgendwann ist es dann gar keine Erzieuhung mehr. Aber ein plötzlicher Bruch? Ein neuer Umgang von einem Tag auf den anderen? Wie ging/geht das? Was war der Auslöser und die grundlegenden Überlegungen für diese ja doch sehr weitreichende und umwälzende Entscheidung? Und wie ging das dann in der Praxis? We hast du es "durchgehalten", nicht in die alten Muster zu verfallen? Das würde mich wirklich mal interessieren...! Ich denke zwar nicht dass ich zur "Nichterzieherin" mutiere ;-), aber die Frage wie ich so einiges im UMgang mit meinen Kindern grundlegend anders und besser machen könnte, beschäftigt mich dennoch immer wieder mal... Also danke im voraus, falls du bereit bist was dazu zu schreiben! (kannst auch per Mail). Gruss, Miriam
Hallo Miriam, ja, ich habe gerade Zeit und Lust, daher schreibe ich gerade hier so viel :-) Ich antworte Mal direkt: ***Jetzt würde mich mal folgendes interessieren - in einem der letzten Postings hier hast du geschrieben, du seist früher auch sehr streng gewesen, mit ner ganzen Palette an Strafen usw. Und dann hast du plötzlich mit "Erziehung" ganz aufgehört - zack?!*** Naja, nicht ganz so "zack", aber es war schon ziemlich plötzlich, als dann der Entschluss stand. ***Das kann ich mir irgendwie nie so recht vorstellen. Ich denke immer das ist eher so ein allmählicher Prozess, dass man dem Kind nicht mehr so viel verbietet oder ihm mehr Kompetenz zutraut und nicht mehr so viel kontrolliert... usw., und irgendwann ist es dann gar keine Erzieuhung mehr.*** Ich würde es auch so empfehlen. Aber ich bin ungeduldig und sehr enthusiastisch O:-) Ich will alles gleich sofort und die Aussicht auf eine lange Übergangsphase hat mir nicht so gefallen. Ich wusste, es kommt eine lange schwere Übergangsphase auf uns zu und ich dachte, je offener ich bin, desto schneller kann ich ihr Vertrauen gewinnen. Damals war es auch noch recht schwer für mich, die Grenze zwischen Information und Manipulation klar zu sehen, wie du siehst. Ich wollte halt, dass sie sieht, dass es mir ernst ist, und ich dachte, wenn wir nur ganz langsam das angehen, wird es immer wieder Bereiche geben, die ihr doch beweisen, dass wir ja doch die Macht/Kontrolle haben. Ich wollte, dass sie sich "fallen lassen kann", dass sie so schnell wie möglich merkt, dass es uns echt ernst ist. Das hängt auch damit zusammen, dass ich denke, dass der Umgang zwar auch in "Teilbereichen" "funktioniert" (Erziehung "light"), dass es aber natürlich am allerbesten "funktioniert", wenn es 100%ig ist. Das ist deshalb so, weil es ja um Vertrauen geht. Entweder man vertraut ganz, oder... halt nicht. "Ein bisschen" vertrauen ist eigentlich nicht Vertrauen. Man kann durchaus nur in Teilbereichen vertrauen. Aber ich glaube, man kann gerade in der Eltern-Kind-Beziehung voll und ganz vertrauen. Wenn das gewährleistet ist, braucht man sich auch keine Sorgen zu machen, dass das Kind bei Gefahr nicht auf uns zugreifen würde. Mein Kind soll selbst wenn es mit 15 unter Drogen und Alkoholmissbrauch mit einem 50-jährigen Verbrecher selbst ohne Führerschein Autogefahren ist noch das Vertrauen zu mir haben, dass sie zu MIR geht – auch wenn ich 100%ig sicher bin, dass so ein Fall niemals eintreten würde. Verstehst du, was ich meine? Gerade in Eltern-Kind-Beziehungen - wenn nicht diese, welche Art von Beziehungen denn dann?! – sollte 100%iges Vertrauen möglich sein. Es geht auch um Freiheit. Entweder Freiheit... oder halt nicht. "Ein bisschen Freiheit" ist ein Wiederspruch in sich. Das geht irgendwie nicht. ***Aber ein plötzlicher Bruch? Ein neuer Umgang von einem Tag auf den anderen? Wie ging/geht das? Was war der Auslöser und die grundlegenden Überlegungen für diese ja doch sehr weitreichende und umwälzende Entscheidung? *** Der Entschluss wurde nicht von heute auf morgen gefasst. Ich habe im Juni letzten Jahres "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" von Jean Liedloff gelesen und war begeistert. Dann dachte ich – das ist ja alles schön und gut, aber wie soll man das außerhalb der Wildnis umsetzen?? Dann habe ich mich nach Foren umgeguckt und habe ein CC-Forum auf Englisch gefunden, viele Texte und Internetseiten, alle auf Englisch. Leider ging es immer nur um Babys und Krabbelkinder, ich hatte eher Probleme mit meiner damals 7-Jährigen. Irgendwann bin ich auf "Unschooling" gestoßen und habe mich nächtelang, wirklich nächtelang bis 4 Uhr morgens in das Thema vergraben und ständig www.joyfullyrejoycing.com und sandradodd.com gelesen. Ich war so fasziniert, ich dachte – das geht doch gar nicht, wie soll das gehen? Was? Aber hm, klingt ja doch plausibel. Ich war dann in diversen Mailinglisten, habe dann die deutsche gegründet und entdeckt, dass es etliche andere gibt, die auch so denken und leben wollen – und es eben DOCH umsetzen! Ich habe extrem viel gelesen und mich damit auseinander gesetzt und irgendwann, eigentlich schon vor der Gründung deutschen Mailingliste haben wir den Entschluss gefasst (mein Freund ist glücklicherweise mitgezogen, er war aber auch teilweise genervt ;-) von meinem vielen Vorlesen und von den E-Mails und Weiterleitungen ;-)). Meine Tochter war dann noch 2 Wochen im Urlaub mit meiner Mutter in Spanien. Diese zwei Wochen haben wir genutzt, um uns wirklich drüber im Klaren zu werden, wir wussten, es gibt kein Zurück. Du kannst nicht einem Kind sagen, es hat jetzt jede Freiheit, die es will – solange die Freiheit von anderen nicht verletzt werden, natürlich – und dann plötzlich sagen, du es klappt nicht, wir machen es jetzt doch wie vorher. Das wäre ja ein extremer Vertrauensbruch gewesen. Wir haben dann auch beschlossen, es langsam anzugehen und einfach zu warten, ob sie was merkt und selbst fragt. Das tat sie auch, nachdem wir Fernsehen und PC freigegeben hatten: "Warum bist du denn jetzt so...?" Ich habe erklärt, wir hätten viel gelesen und uns informiert und seien darauf gekommen, dass Kinder Freiheit brauchen, um zu gedeihen, und die wollten wir ihr eben ermöglichen. Sie hat mich sofort umarmt und gesagt: "Ich liebe dich" :-) War zwar ein guter Anfang, aber dann kam die lange Übergangsphase – für uns alle. ***Und wie ging das dann in der Praxis? Wie hast du es "durchgehalten", nicht in die alten Muster zu verfallen?*** In der Praxis war es total hart. Ein Kind, das vorher in Süßigkeiten, TV, PC, Einschlafen, Ernährung, Kleidung und alles mögliche eingeschränkt und kontrolliert wird (auch Baden, Putzen war geregelt, was sie sagen darf und was nicht (Schimpfwörter), sogar Gefühle: "Jetzt heul nicht", "Das Heulen ist mir zu laut, mach das gefälligst leiser" (OH GOTT!!!, welch ein Graus)), kostet natürlich dann die Freiheit extrem aus. Nicht nur hat sie dann extrem viel ferngesehen, pc gespielt, Süßigkeiten gegessen, sich nicht angezogen – sie wusste auch überhaupt nicht mit Freiheit umzugehen. Das mit "Meine Freiheit endet da, wo die der anderen anfängt", war überhaupt nicht klar. Es war zum Teil sehr schwer, ihr Bedürfnis nach Erkundung dieser Freiheit auf Kosten MEINER Freiheit gewähren zu lassen. Denn oft habe ich drunter "leiden" müssen (Bsp. sich anschreien lassen, Unfreundlichkeit ertragen). Im ersten halben Jahr habe ich unserer Beziehung zu liebe auf meine Bedürfnisse weitest gehend verzichtet. Ich weiß nicht, ob das unbedingt notwendig war, aber da ich davor so unfair gewesen war, kam es mir nur fair vor, wenigstens eine Weile meine Bedürfnisse zurückzustecken, damit sie Zeit hatte, überhaupt mit Freiheit klar zu kommen. Sie brauchte viel Unterstützung dabei und nicht auch noch großartige wenn auch gleichberechtigte Gespräche darüber, dass Unfreundlichkeit nicht zu den Dingen gehört, wie wir miteinander leben wollen. Viel eher brauchte sie Verständnis für ihre "Ausbrüche", und das haben wir versucht aufzubringen. War aber nicht immer leicht und nicht immer ohne "Rückfälle". Ich habe es zum Teil GAR nicht geschafft, nichtin alte Muster zu verfallen. Zum Teil "erziehe" ich sie auch heute noch! Dann denke ich danach wie Homer Simpson "DOH!" ;-) Und dann reden wir drüber und finden Lösungen – und manchmal finden wir keine und dann lassen wir es ruhen. Es ergibt sich dann von selbst... oder wir reden noch Mal drüber. Es ist nicht nur so, dass ich es "fair" fand, dass ich jetzt zurück stecken musste, das war nicht der wichtigste Aspekt dieser Entscheidung. De facto ist es so, dass ein Kind, das ständig angemotzt wird, schon gewisse Sätze mit gewissen Erwartungen verknüpft und dann auch als Erziehung empfindet. Wenn ich also einfach nur mein Bedürfnis kundgetan habe, kriegt sie das sehr häufig in den "falschen Hals". Eine Weile habe ich gedacht: Wir wollen doch Gleichberechtigt sein – dann habe ich eben auch Rechte, und wenn ich nicht angeschrieen werden will.... etc. Stimmt auch – wenn wir von Anfang an nicht erzogen hätten, wäre das auch kein Problem, weil wir schon immer automatisch gelernt hätten, mit Problemen anders umzugehen, als einfach nur von oben herab Entscheidungen für andere zu treffen. Aber das ging noch nicht. Ich musste meine Bedürfnisse eine Weile ganz schön zurück stecken, weil sie sonst eh nur interpretiert hat, dass ich "gemein" sei, das tat unserer Beziehung gar nicht gut - und die war mir da wichtiger, das war MEIN größtes Bedürfnis und hatte Priorität. Heute kann ich eher sagen, was meine Bedürfnisse sind – z.B: Ruhe am Abend, Lautstärkepegel und so was – und sie kann das gut verstehen und geht darauf ein. Aber manchmal, gerade weil sie bislang noch in die Regelschule geht, ist es nicht soo einfach. Sie wird noch von anderen Leuten "erzogen", und natürlich kollidiert das dann. Gestern habe ich z.B. gesagt "Mir gefällt dein Ton nicht", als sie mich total genervt angsprochen hatte, und ich dann auch genervt zurück geantwortet habe, und sie sich dann beschwert hat, habe ich versucht, ihr zu erklären, dass ich halt auch dann genervt bin und ihr Ton dazu beigetragen hätte. Das ging gar nicht, ich konnte ihr das nicht klar machen, dass ich nicht *verlangte*, dass sie ihren Ton für mich änderte – ich wollte nur Verständnis dafür, dass ich nun genervt bin, genauso wie ich ja IHR genervt sein und IHREN Ton verstehen sollte (das hat sie auch so gesagt, war echt witzig eigentlich, weil wir beide das gleiche wollten, sie aber meine Argumentation gar nicht nachvollziehen konnte) – und das lag alles daran, dass ihre Lehrerin wohl genau den gleichen Satz öfter Mal sagt: "Mir gefällt dein Ton nicht". Das ist aber bei ihr keine Info, sondern eine Aufforderung. Wir haben hier eine wichtige Instanz eingeführt: Die Besprechung. Beim Abendessen besprechen wir alle Probleme, aber auch Alltagsdinge, die sonst untergegangen sind. Wir machen dann alle gemeinsam was aus, und schreiben es auch auf. Es sind gemeinsam erstellte Regeln, die sich aus den Bedürfnissen aller Beteiligten ergeben. Z.B. haben wir neulich beschlossen, dass wir Aktivitäten früher planen, und nicht spontan, dass wir sie aufschreiben und jeder weiß, wann was stattfindet, denn es gab deswegen immer Streit. Ich hatte und habe viele "Tricks", nicht in alte Muster zu verfallen: Ich klebe mir oft Post-Its an den Spiegelschrank im Bad und an meinem Monitor. Da steht zur Zeit z.B. das, was ich mir eher wünschen würde, dass sie von mir denkt statt "Die ist voll gemein und versteht mich nicht", nämlich: "Sie ist ruhig, wenn ich nicht ruhig bin", "Es ist ihr wirklich wichtig, mir zu helfen, wenn ich Probleme habe", "Sie versteht wie ich mich fühle", "Mama ist die beste Zuhörerin auf der ganzen Welt" und "Mama liebt mich, selbst wenn ich Probleme verursache"... Manchmal stehen andere Dinge, z.B. "Sie (Kinder) veruschen jederzeit ihr Bestes zu geben" oder "Wenn sie sich destruktiv verhalten, stimmt was nicht, sie brauchen Hilfe", "Hab Spaß am Eltern-Sein" etc. So was hilft mir, den Fokus zu behalten und nicht abzudriften in alte Muster. Das passiert mir regelmäßig, wenn die Zettelchen veralten ;-) Außerdem lese ich viel und wenn ich mal ganz frustriert bin, weil es nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle, lese ich wieder viel bei Joyce rum. Oder rufe jemanden an, z.T. auch in die USA. Die Mailingliste - wo du übrigens herzlich willkommen bist, da gibt es nicht nur 100%ige Nichterzieher ;-) – hilft auch ungemein, und anderen zu helfen oder Tipps zu geben, hilft auch sehr. Das meiste, was ich hier schreibe, ist also auch immer auch für mich. Auch eben hatte ich wieder eine "Wieder"-Erkenntnis: Ich sollte mir Mal wieder Zettelchen an den Spiegel kleben ;-) Was hat dich denn dazu veranlasst, deinen Umgang mit deinen Kindern zu überdenken? Grüße Johanna www.unerzogen.de
Hallo Johanna, vielen Dank für deine schnelle und ausführliche Antwort :-)! Ich hoffe ich komme heut abend noch dazu, zurückzuschreiben und auf deine Frage zu antworten... Bis dann, M.
Die letzten 10 Beiträge
- Darf mir anhören ich verwöhnt zu doll ? Kennt ihr das ? 10 monate alt
- Kind 5 1/2 Jahre tickt ständig aus
- Trans-Kind?
- Komisches Verhalten
- Schlechter Einfluss in der Kita
- Kind wirft mit Stuhlgang
- Sohn will immer rumgetragen werden
- Mahlzeiten fast nur mit Wutanfällen
- 5jähriger ist sehr albern
- Schwanger und Kleinkind will immer getragen werden