
Fiebermessen, Medizin verabreichen und zwischendurch noch übers Köpfchen streicheln - manchmal fühlen sich Eltern, insbesondere, wenn sie mehrere Kinder haben, gebeutelt. Denn es gibt Zeiten, in denen ständig eines der Kinder einen fieberhaften Infekt hat, der dann noch von einem auf das andere Kind überspringt.
In unserem Expertenforum zum Immunsystem gab es schon viele Fragen von besorgten Eltern zu dem Thema und auch im Magazin von Rund ums Baby finden Sie Informationen zu Dauerkrank - wie viele Infekte sind normal? oder zu Bronchitis - eine häufige Krankheit in der kühlen Jahreszeit oder zum Thema Häufige Infekte - bei Kindern ganz normal.
Die Fachleute gehen in all diesen Fällen davon aus, dass das Immunsystem der Kinder normal arbeitet - und genau so ist es auch im Regelfall.
Selten aber trifft das nicht zu: Das Immunsystem arbeitet nicht so, wie es soll. In diesen seltenen Fällen leidet ein Kind an einem angeborenen (primären) Immundefekt. Weit über 500 Gendefekte sind inzwischen bekannt, bei denen das Immunsystem nicht normal funktioniert. Den Unterschied zwischen der „normalen“ und der „krankhaften“ Infektanfälligkeit erkläre ich im Folgenden.
Mediziner:innen, so auch Ihr Kinderarzt bzw. Ihre Kinderärztin, können sich zu diesem Thema auf meiner Website www.immundefekt.de informieren. Hier können sie beispielsweise fünf Videos abrufen, welche die Probleme von Patienten mit einem Immundefekt verdeutlichen. Jedoch ist die Seite für medizinische Laien nicht gut geeignet und für diese nicht gut verständlich, sie richtet sich an medizinische Fachleute.
Wann sollte an einen angeborenen Immundefekt gedacht werden?
Ganz allgemein kann auf einen Immundefekt hinweisen, wenn Infektionen:
• ungewöhnlich häufig sind,
• ungewöhnlich schwer verlaufen,
• in innere Organe vordringen,
• an inneren Organen Schäden hinterlassen,
• durch Erreger ausgelöst werden, die beim gesunden Immunsystem
keine Chance haben.
Warnzeichen können ein Indikator sein
Einige Warnzeichen können auf einen Immundefekt hinwiesen. Im Jahr 2000 habe ich 12 Warnzeichen veröffentlicht, die von vielen ärztlichen Kollegen in Deutschland verwendet werden, aber auch von der Patientenorganisation DSAI. Dort sind die Warnzeichen als Poster verfügbar. Auf meiner Website sind die Warnzeichen tabellarisch aufgeführt.
Für Kinder und Jugendliche gelten diese Auffälligkeiten als Warnzeichen:
• Diagnose eines angeborenen Immundefekts in der Familie
• 8 oder mehr eitrige Mittelohrentzündungen pro Jahr,
eitrige Infektion des Warzenfortsatzes
• 2 oder mehr Nasennebenhöhlenentzündungen pro Jahr
• 2 oder mehr Lungenentzündungen pro Jahr
• berechtigte antibiotische Therapie über 2 oder mehr Monate ohne Effekt
• Infektionen durch Impfstoffe bei Lebendimpfungen
(insbes. BCG, Rotavirus und Polio nach Sabin)
• wiederkehrende oder ausgedehnte Infektionen
mit sog. atypischen Mykobakterien
• wiederkehrende tiefe Haut- oder Organabszesse,
z.B. in Lymphknoten oder Leber
• 2 oder mehr eitrige Infektionen innerer Organe
(Hirnhautentzündung, Knochenmarksentzündung,
eitrige Gelenkentzündung, Eiter in vorgeformten Körperhöhlen,
Blutvergiftung)
• bleibende Candida-Infektionen (Soor) an Haut oder Schleimhaut
nach dem 1. Geburtstag
• unklare Hautrötungen oder schwere Ekzeme bei Neugeborenen
und jungen Säuglingen (nicht Neurodermitis)
• Gedeihstörung im Säuglingsalter, mit und ohne chronische Durchfälle
Banale Infekte durch die Kita, Geschwister und Freunde / Freundinnen
Wer sich diese Warnzeichen ansieht, wird schnell feststellen, dass der „banale Infekt“ dabei nicht auftaucht. Solche meist durch Viren ausgelösten Infekte, von denen sich die Kinder vollständig nach ein paar Tagen wieder erholen, sind kein Anlass für aufwändige Labordiagnostik.
Man kann diese banalen Infekte oft durch die Lebensumstände erklären wie zum Beispiel:
- Eintritt in die Kita
- viele Geschwister
- Kontakte zu anderen Kindern mit Infekten
- Babyschwimmen
Noch ein Hinweis zum Babyschwimmen. Das macht Eltern und Kind oft viel Spaß. Allerdings zeigen wissenschaftliche Daten aus Norwegen, dass es das Risiko für obere Atemwegsinfektionen und Mittelohrentzündungen erhöht.
Die 12 Warnzeichen sind nicht perfekt, weil es Patienten mit Immundefekten gibt, bei denen nicht die krankhafte Infektanfälligkeit, sondern sogenannte Autoimmunerkrankungen, wiederkehrende Entzündungszustände, bösartige Komplikationen u.a.m. im Vordergrund stehen. Es erscheint aber unmöglich, bei mehr als 500 Gendefekten Warnzeichen zu formulieren, die all diese Defekte abbilden.

Diagnostik bei vorhandenen Warnzeichen
Wenn Ihr Kinderarzt oder Ihre Kinderärztin der Meinung ist, dass Art und Häufigkeit der Infektionen bei Ihrem Kind nicht mehr normal sind, also Warnzeichen vorliegen, kann er einfache Bluttests selbst veranlassen.
Ich empfehle als orientierende Diagnostik:
- Blutbild und Differenzialblutbild
- IgG, IgA, IgM, IgE
- IgG-Subklassen bei Patienten ab 4 Jahre
- Antikörper gegen Tetanus und Pneumokokken
Eine weiterführende Diagnostik, falls sich Hinweise auf einen Immundefekt ergeben, kann oft nur in Zusammenarbeit mit einem Immundefektzentrum erfolgen. Diese findet man z.B. hier.
Maßnahmen zur Behandlung
Immer wieder, ob im Fernsehen, im Internet, in Magazinen oder Zeitschriften, sieht man viele Dinge, die zum Kauf angeboten werden mit dem Hinweis „zur Stärkung des Immunsystems“. All diese Dinge kann man, wenn man Spaß daran hat, konsumieren oder auch nicht, sie sind bei einem genetisch bedingten Immundefekt aber unwirksam und nutzlos.
Patienten mit Immundefekten brauchen eine klare, möglichst genetische, Diagnose. Dann stehen für sie spezifische Maßnahmen zur Verfügung, die erwiesenermaßen wirksam sind. Der erfahrene Arzt:in wird diese Maßnahmen verordnen. Von jeglichen anderen Versuchen, das Immunsystem zu stärken, muss bei Patienten mit Immundefekten dringend abgeraten werden. Für Ärzt:innen habe ich ein informatives Video erstellt, bei dem Diagnostik und Therapiemöglichkeiten dargestellt sind.
Ernährung, frische Luft und Bewegung - mehr braucht es nicht
Fazit: Erfreulicherweise haben fast alle Kinder ein gut funktionierendes Immunsystem, das nach einer Impfung oder einer durchgemachten Infektion dazu lernt und Immunität, also Schutz, aufbaut. Gesunde Ernährung, frische Luft und regelmäßige Bewegung helfen dabei. Irgendwelche Pillen oder Nahrungsergänzungsmittel braucht ein immungesundes Kind nicht.
Nur in seltenen Fällen, bei denen sich Hinweise auf einen echten Immundefekt ergeben, wird der Kinderarzt die Notwendigkeit sehen, die Leistungsfähigkeit des Immunsystems mit einer Blutabnahme zu überprüfen. Für viele der mehr als 500 bekannten Immundefekte gibt es wirksame Therapien.