Sehr geehrter Herr Dr. Paulus,
mich beschäftigt die Einnahme von Venlafaxin. 2008 hatte ich eine schwere Depression. Seitde wurde kein richtiger Zeitpunkt gefunden, das Medikament abzusetzen. Jetzt hatte ich im Januar 2017 eine Fehlgeburt in der 14. Woche. Der Embryo hat sich seit der 9. Woche nicht weiterentwickelt. Sowohl mein Frauenarzt als auch meine Neurologin sehen darin kein Problem, weil es auch eine niedrige Dosis ist. Würden Sie das auch sagen? Oder ist es doch sinnvoller, vor einer erneuten Schwangerschaft versuchen, abzusetzen oder zumindest noch zu minimieren? Ich habe mich schon schlau gemacht, aber es gibt so viele gegensätzliche Ratschläge. Ich bin jetzt 34 Jahre und mein Partner 40. Wir beide möchten gern Nachwuchs. Mein Partner ist diebezüglich sehr verunsichert.
Vielen Dank und ein schönes Wochende!
Doris W.
von
Tierfreund82
am 05.05.2017, 18:22
Antwort auf:
Venlafaxin in der Schwangerschaft gefährlich? (Kinderwunsch)
Eine prospektiv kontrollierte Multicenterstudie berichtet von 150 Schwangerschaften unter Medikation mit Venlafaxin im I.Trimenon: Neben 7 Schwangerschaftsabbrüchen und 18 Fehlgeburten wurden 125 Neugeborene registriert. Darunter befanden sich zwei Kinder mit einer schwereren Anomalie: 1 x Hypospadie (Harnröhrenfehlmündung), 1 x Neuralrohrdefekt mit Klumpfuß. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe fanden sich keine signifikanten Unterschiede im Schwangerschaftsausgang (Einarson et al 2001).
Im Rahmen einer prospektiven Followup-Studie wurden von unserem Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum zwischen 1997 und 2007 100 Schwangerschaftsausgänge nach Anwendung von Venlafaxin in der Frühgravidität dokumentiert. Die Befunde wurden mit den Daten eines Kontrollkollektives (n=439) aus demselben Zeitraum verglichen, das nicht oder unproblematisch exponiert war. Unsere prospektive, kontrollierte Followup-Studie konnte kein fruchtschädigendes Potential von Venlafaxin nachweisen.
Nach mütterlicher Behandlung mit Venlafaxin in der sensiblen Phase der Organdifferenzierung (I.Trimenon) beobachtete man im schwedischen Schwangerschaftsregister unter 505 Neugeborenen keine Zunahme angeborener Anomalien (Lennestål & Källén 2007).
Ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko aufgrund der Behandlung mit Venlafaxin ist angesichts der aktuellen Datenlage nicht zu erwarten. Eine Fortsetzung der aktuellen Medikation mit Venlafaxin ist auch in der Schwangerschaft durchaus möglich.
Nach Anwendung von Antidepressiva wie Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mirtazapin, Paroxetin, Sertralin und Venlafaxin im letzten Schwangerschaftsdrittel wurden Atem- und Ernährungsstörungen, Krampfanfälle, Unruhe und anhaltendes Schreien bei den Neugeborenen beobachtet. Diese Beschwerden (max. 2 Wochen nach Geburt) können verlängerten Krankenhausaufenthalt, Beatmung bzw. Ernährung per Sonde erfordern. Es kann sich dabei um direkte unerwünschte Wirkungen der Antidepressiva auf das Neugeborene oder um Zeichen eines Entzugssyndroms handeln.
Um diese Anpassungsstörungen zu vermeiden, sollte eine möglichst moderate Dosis von Venlafaxin bis zum Schwangerschaftsende angestrebt werden (z. B. 75 mg pro Tag).
Da ein reduziertes mütterliches Befinden bei Depressionen für die kindliche Entwicklung ebenfalls nachteilig wäre, ist eine Fortsetzung der Behandlung mit Venlafaxin durchaus vertretbar, zumal Sie eine sehr moderate Tagesdosis einnehmen. Mit kindlichen Anpassungsstörungen nach der Geburt wäre unter dieser Dosis kaum zu rechnen.
von
Dr. Wolfgang Paulus
am 10.05.2017