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Wohin mit meinem Kind? Formen und Auswirkungen der Fremdbetreuung Martin R. Textor "Fremdbetreuung" ist ein emotional ambivalent besetztes Thema. Die Betreuung von Kindern unter zwei oder drei Jahren außerhalb der Familie ist weiterhin umstritten. Für ältere Kinder gilt der Kindergartenbesuch inzwischen als sinnvoll und notwendig, sofern es sich nicht gerade um eine Ganztagsbetreuung handelt. Tagespflege, Elterninitiativen, Krabbelstuben oder Betreuungsangebote von Mütter- und Familienzentren spielen eher eine Nebenrolle und werden oftmals ignoriert. In diesem Artikel geht es nun um drei Themen: (1) die Auswirkungen einer Fremdbetreuung auf Kleinkinder, (2) die verschiedenen Formen der Tagesbetreuung und (3) um die Merkmale einer qualitativ guten Kinderbetreuung. Dementsprechend gliedert sich der Beitrag in drei Teile. Im ersten und im dritten Teil werde ich vor allem Forschungsergebnisse aus Nordamerika und Skandinavien referieren, die von Professor Clarke-Stewart (in Vorb.) für ein von mir mitherausgegebenes Buch zusammengefasst wurden. In diesem Sammelband werden dann die Quellenangaben zu finden sein. I. Auswirkungen der Fremdbetreuung auf Kleinkinder Für die meisten Kinder ist Fremdbetreuung heute ein Teil ihres Lebens: Mehr und mehr Kinder verbringen immer mehr Zeit in irgendeiner Kindertageseinrichtung. So ist es nicht überraschend, dass sich sowohl Wissenschaftler als auch Eltern Sorgen über die Auswirkungen von Fremdbetreuung auf Kinder machen. Deshalb wurde seit den frühen 70er Jahren - vor allem in den USA und in Skandinavien - eine große Anzahl von Untersuchungen durchgeführt, um die Folgen einer außerfamilialen Betreuung zu erfassen. In manchen Bereichen wie der emotionalen oder Persönlichkeitsentwicklung oder den Beziehungen zu den Eltern konnten bisher keine größeren Unterschiede zwischen fremdbetreuten und zu Hause erzogenen Kleinkindern ermittelt werden. Ansonsten sind die Forschungsergebnisse am deutlichsten hinsichtlich der kognitiven Entwicklung von Kindern. Hier gibt es eine namhafte Zahl von Studien, nach denen Fremdbetreuung Kinder nicht schädigt und sogar deren Entwicklung zu fördern vermag (Clarke-Stewart in Vorb.). Unter den rund zwei Dutzend Untersuchungen waren nur ein oder zwei, nach denen sich fremdbetreute Kinder intellektuell schlechter entwickelten als solche, die zu Hause erzogen wurden. Alle anderen Studien ergaben, dass die fremdbetreuten Kinder genauso gute oder sogar bessere Ergebnisse bei Tests über ihre kognitive Entwicklung erbrachten als Kinder, die nie fremdbetreut wurden. Sie besaßen mehr Kenntnisse, waren kreativer im Umgang mit Materialien, verfügten über mehr arithmetische Fertigkeiten (wie Zählen, Messen usw.), konnten Informationen besser behalten und akkurater wiedergeben und verwendeten einen komplexeren Sprachstil. Beispielsweise waren laut einer amerikanischen Untersuchung über zwei- bis vierjährige Kinder die fremdbetreuten Kleinkinder in ihrer Entwicklung im Durchschnitt um sechs bis neun Monate weiter als Kinder, die zu Hause betreut wurden (Clarke-Stewart 1984, 1987). Allerdings handelt es sich hier nur um eine zeitweilige Zunahme kognitiver Fähigkeiten. Nach den Forschungsergebnissen bleibt der Vorsprung nur so lange bestehen, wie die Kinder die Tageseinrichtung besuchen. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sie die erste Schulklasse beenden, werden sie in der Regel von den Kindern eingeholt, die nicht fremdbetreut wurden (Clarke-Stewart in Vorb.). Unterschiede zeigen sich manchmal auch im Sozialverhalten der Kinder (a.a.O.). Kinder aus Tageseinrichtungen sind oft sozial kompetenter, selbstbewusster, durchsetzungskräftiger und offener. Sie fühlen sich in neuen Situationen sicherer, verhalten sich weniger zaghaft und ängstlich, sind hilfsbereiter und kooperativer als Kinder, die zu Hause betreut werden. Es gibt aber noch eine andere Seite: Nach denselben Untersuchungen sind diese Kinder aber auch unhöflicher, weniger verträglich, ungehorsamer, ungestümer, gereizter und aggressiver. Dies lässt sich nach Clarke-Stewart (in Vorb.) damit erklären, dass fremdbetreute Kinder selbständiger und fest entschlossen sind, ihren eigenen Weg zu gehen - ohne jedoch schon über die sozialen Fertigkeiten zu verfügen, mit denen sie dies problemlos erreichen könnten. Deswegen sind sie weniger gehorsam gegenüber ihren Eltern und ihren Erzieherinnen. Die bisher skizzierten Forschungsergebnisse beziehen sich überwiegend auf Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. Jedoch wird - insbesondere von einigen Kinderärzten - vor allem eine Fremdbetreuung in den ersten beiden Lebensjahren für schädlich gehalten. Es werden hier überwiegend Forschungsergebnisse referiert, die sich auf die Bindungstheorie Bowlbys beziehen. Clarke-Stewart (1989) fasste vor einigen Jahren die Resultate vieler Untersuchungen (über insgesamt 1.247 Kleinstkinder) zusammen und ermittelte, dass 36 % der fremdbetreuten Säuglinge eine unsichere Bindung an ihre Mutter ausbildeten - im Gegensatz zu 29 % der Kleinstkinder, die zu Hause von den Eltern versorgt wurden. Diese Kinder würden später überdurchschnittlich oft "schwierig", ungehorsam, verhaltensauffällig oder aggressiv werden. Allerdings wurde bei allen diesen Studien nur eine einzige und immer dieselbe Untersuchungsmethode eingesetzt: Mutter und Kind werden in einen ihnen unbekannten Raum gebeten, wo letzteres mit den Spielsachen eines anderen Kindes in Anwesenheit einer fremden Frau spielen darf. Die Mutter verlässt dann den Raum, und die fremde Frau spielt mit dem Kind, tröstet es usw. Nach kurzer Zeit kommt die Mutter zurück. Aus den Reaktionen des Kleinstkindes während der Abwesenheit und bei Rückkehr der Mutter wird dann auf die Qualität der Mutter-Kind-Bindung geschlossen. Diese Untersuchungsmethode ist nun auf Kritik gestoßen (a.a.O.): So mag die beschriebene Situation für fremdbetreute Kleinstkinder eher normal sein als für nur von der Mutter versorgte Kinder. Dieses könnte erklären, wieso erstere ihre Mütter nach der Rückkehr oft nicht so überschwänglich "begrüßen" wie letztere. Hinzu kommt, dass auch die Unterschiede zwischen beiden Gruppen von Kindern - 36 % versus 29 % - nicht besonders groß sind und letztlich niemand genau weiß, wie sich dies auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Ferner gibt es inzwischen Forschungsergebnisse, die mit anderen Untersuchungsmethoden gewonnen wurden, nach denen sich fremdbetreute Kleinstkinder weder hinsichtlich ihrer Ängstlichkeit, ihres Selbstvertrauens noch ihrer emotionalen Angepasstheit von anderen Kindern unterscheiden. Schließlich können Ursachen für die unsichere Mutter-Kind-Bindung nicht in der Fremdbetreuung, sondern in der Familiensituation der Kinder liegen. So gibt es z.B. Anzeichen dafür, dass ihre Mütter sich weniger mit der Mutterrolle identifizieren, weniger sensibel und weniger zufrieden mit ihrer Ehe sind. Mit dem letzten Satz wurde bereits angedeutet, dass man die "Wirkungen" der Fremdbetreuung nicht unabhängig von den "Wirkungen" der Familie betrachten darf. Es ist vielmehr von einer Wechselwirkung auszugehen: Positive und negative Einflüsse der Kindertageseinrichtung oder Tagespflege auf der einen und der Familie auf der anderen Seite können einander verstärken, schwächen oder ausgleichen und somit zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen bei den Kindern führen. Beispielsweise kann eine unsichere Mutter-Kind-Bindung durch eine positive Tagesmutter-Kind-Beziehung kompensiert werden. Generell gilt für Kleinkinder, dass die Familie eine stärkere Wirkung auf die kognitive und die Fremdbetreuung auf die soziale Entwicklung hat. Auch liegen die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten eher in der Familie. Überhaupt lässt sich aus den inzwischen vorliegenden Forschungsergebnissen schließen, dass der Einfluss der Familie auf die kindliche Entwicklung nicht nur größer als derjenige der Fremdbetreuung ist, sondern auch größer als der Einfluss der Schule. Aus vielen verschiedenen Untersuchungen kann geschlossen werden, dass sogar die Schulleistungen eines Kindes bis zu zwei Dritteln (der Varianz) durch Familienfaktoren und nur zu einem Drittel durch Bedingungen in der Schule erklärt werden können (Krumm 1995). In diesem Zusammenhang sei nur an die Bedeutung der Hausaufgabenbetreuung durch die Eltern erinnert. Auch erwirbt das Kind in der Familie Dispositionen, die das Lernen begünstigen oder nicht - z.B. Anspruchsniveau, Leistungsmotivation, Selbstkontrolle oder Kooperationsfähigkeit. Hinzu kommt der Einfluss der Familie auf Sprachfertigkeiten, Interessen, Einstellungen, Wissenserwerb, Selbstbild, motorische Fertigkeiten usw."
"Es gibt aber noch eine andere Seite: Nach denselben Untersuchungen sind diese Kinder aber auch unhöflicher, weniger verträglich, ungehorsamer, ungestümer, gereizter und aggressiver. Dies lässt sich nach Clarke-Stewart (in Vorb.) damit erklären, dass fremdbetreute Kinder selbständiger und fest entschlossen sind, ihren eigenen Weg zu gehen - ohne jedoch schon über die sozialen Fertigkeiten zu verfügen, mit denen sie dies problemlos erreichen könnten." genau diese selbständigkeit und entschlossenheit, seinen eigenen weg zu gehen, gepaart mit aggression, ist meiner ansicht nach eines der grossen probleme unserer gesellschaft. denn diese qualitäten eignen sich hervorragend, wenn das kind mal manager werden soll, aber ob es wirklich gut ist für humane gesellschaft? im entwicklungsforum gab es grade eine ähnliche diskussion. dr. posth hat eine interessante antwort geschrieben: "Liebe X, das ist eher ein gesellschaftspolitische Frage, und ich stelle mir jetzt ein öffentliches Forum vor, bei dem die beliebten Experten auf dem Podium schlaue Sätze sagen, während das gemeine Publikum unten staunen darf, wieso die da oben so viel wissen. Aber im Ernst, ich kann Ihnen diese Frage nicht wirklich beantworten. ..... Die Prämissen werden zu unterschiedlich gesetzt. Die einen wählen die Prämisse der Selbstverwirklichung in Familie und Beruf und reklamieren dafür die notwendigen Rechte. Also unterziehen Sie alle frühkindliche Psychologie diesem (Ego-)Paradigma. Die (oft belächelten) anderen machen die frühkindliche emotionale Entwicklung des Menschen zum Paradigma und fordern von der Gesellschaft die hierfür notwendigen Änderungen (wofür es ja reale Ansätze gibt). Dazu zähle ich, nicht nur von Berufs wegen. Derzeit sprechen nahezu alle ernsthaft geführten, wissenschaftlichen Untersuchungen dafür, die frühkindliche emotionale Entwicklung zum Pradigma zu machen. Das ist unbequem für die Gesellschaft und deswegen unterschlägt sie die Ergebnisse solcher Untersuchungen ganz gerne und setzt vordergründige Erziehungshaltungen als Lösung für das Familien- und Kinderproblem dagegen. Der Buchmarkt und die Zeitschriften sind voll davon. Zum Vorteil der Kinder?" lg sandra
Und da dem so ist, ist auch alles zum Thema gesagt worde. Ich schlage vor, wir treffen uns hier alle in 40 Jahren wieder und schauen ganz vorurteilsfrei, was aus den Kids so geworden ist...
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