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Geschrieben von Oma am 09.04.2007, 16:01 Uhr

Liebe Silvia,

Ich glaube, du hast das Zeug zu einer engagierten, liebevollen Sterbebegleiterin.

In meinem Leben habe ich mit dem Tod sehr ambivalente Erfahrungen machen müssen bzw. auch dürfen.

Meine Eltern waren leider Gottes beide Alkoholiker. Und mein Vater gehörte zu den Alkoholikern, die unter Alkoholeinfluß gewalttätig reagierten.

Sowohl meine Schwester als auch ich zogen mit jeweils 17 Jahren aus, noch vor Abschluss unserer Lehre. Danach hat auch meine Mutter meinen Vater verlassen und ist zu einem anderen Mann gezogen. Sie hat übrigens irgendwann Jahre später den Absprung geschafft und wurde gemeinsam mit ihrem 2. Mann trocken.

Meinen Vater habe ich nach meinem Auszug zuhause so gut wie gar nicht mehr gesehen. Auf meinem Weg zur Arbeit fuhr ich jeden Tag an unserer alten Wohnung vorbei, in der mein Vater nun allein lebte. Ich hatte sogar noch einen Schlüssel. Aber die Angst vor ihm stand im Vordergrund. Ich wollte keinen Kontakt mehr.

Eines Tages erhielten wir den Telefonanruf eines Krankenhauses. Die Kneipenwirtin der Stammkneipe meines Vaters hatte Alarm geschlagen, nachdem sie ihn ca. eine Woche lang nicht gesehen hatte.

Seine Wohnung wurde aufgebrochen; er lag im Flur mit gebrochenem Oberschenkelhals. Die Nachbarn waren unglücklicherweise im Urlaub, so dass niemand seine Schreie gehört hatte. Er war bereits im Delirium.
Ich habe ihn einen Tag später im Krankenhaus besucht, als man mir sagte, er sei stabil. Aber er phantasierte.
Ich war gerade 19 und der ganzen Situation nicht gewachsen.

Als ich zur Tür ging, hatte er plötzlich anscheinend einen lichten Moment. Er sagte zu mir: "Wenn du jetzt gehst, verzeih ich dir das nie!"

Ich bin gegangen.

Zwei Tage später der Anruf, dass er unerwartet verstorben ist. Er war 4 Wochen vorher 43 Jahre alt geworden.....

Ich habe 5 lange, harte Jahre gebraucht, um mit den Selbstvorwürfen fertig zu werden. Niemand wusste, wie lange er da gelegen hat. Und ich bin täglich dort vorbeigefahren. Und dann seine letzten Worte....

In den ganzen 5 Jahren spürte ich immer seine Anwesenheit. Bis ich irgendwann laut aussprach: „Papa, ich verzeihe dir, was du mir angetan hast. Und ich bitte dich um Verzeihung, dass ich dich am Ende im Stich gelassen habe.“ Ich glaube, genau das hat er gebraucht, um seinen Frieden zu finden, denn dann hat er losgelassen.

Ganz anders die Erfahrung mit meinen Schwiegereltern. Als ich meine Schwiemu kennen lernte, war ich 15 und sie 58. Ich habe irgendwo schon mal geschrieben, dass es zwischen uns trotz des großen Altersunterschiedes eine ganz große Liebe gab.

Aus vielen sehr vertrauten Gesprächen kannte ich auch ihre Angst davor, an Schläuchen angeschlossen allein im Krankenhaus zu sterben. Und ich versprach ihr, dass ich das niemals zulassen werde.

Mit 73 erlitt sie einen Schlaganfall. Ich hatte sie morgens noch vom Friseur geholt, und wir hatten über irgendwas noch fürchterlich gelacht. Das ist meine letzte Erinnerung an meine gesunde Schwiemu.
Sie setzte sich nach dem Mittagsessen zu meinem Schwieva in seine Schuhmacherwerkstatt. Irgendwann glaubte er, sie sei eingeschlafen, bemerkte dann aber nach einiger Zeit, dass sie blutigen Schaum vor dem Mund hatte. Da erst rief er mich.

Ich fuhr hinter dem Krankenwagen her und blieb bei der Einweisung an ihrer Seite. Das Krankenhaus wurde von katholischen Nonnen betreut, die ihre Aufgabe mit sehr viel liebevollem Engagement erfüllten.
Ich erzählte ihnen von dem Versprechen, dass ich meiner Schwiemu gegeben hatte, und sie erlaubten mir und den anderen Verwandten die pausenlose Anwesenheit auf der Intensivstation. Sie stellten einen Paravent um ihr Bett, damit wir die anderen Patienten nicht störten.

Es war nicht ganz einfach, mit zwei anderen Schwägerinnen zusammen und deren Männern die 24-Stunden-Betreuung zu organisieren, weil wir zusammen 5 Jungen zu betreuen hatten.
Aber es ging. Für die Männer war es sehr, sehr schwer, sich zu überwinden. Ich habe da wirklich Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis sie sich überwanden. Aber später waren sie alle unendlich dankbar für diese Grenzerfahrung.

Meine Schwiemu lag mehrere Tage im Koma und ist leider nicht mehr aufgewacht. Es gab aber nicht eine Minute, ohne dass jemand von uns an ihrem Bett saß, ihre Hand hielt, ihren Mund benetzte und leise mit ihr betete. Ihre einzige Tochter war aus Berlin angereist, und in ihren Armen ist sie dann auch gestorben.

Bei all der großen Trauer, wie wir empfanden, weil sie wirklich unser aller Mittelpunkt war, war es doch eine unglaublich schöne Erfahrung, wie wir als Familie zusammengestanden und ihr durch diese schwere Zeit geholfen haben.
Die Nonnen des Krankenhauses nahmen mich nach ihrem Tod beiseite und sagten, sie hätten schon seit Jahren nicht mehr erlebt, dass ein Patient in diesem Maße von seiner Familie beim Sterben begleitet würde. Die Regel sei eher, dass die Kranken abgegeben würden und sich dann kaum mal jemand sehen ließe.

9 Monate später verstarb – eigentlich ohne erkennbaren Grund – mein Schwieva nach einer gut verlaufenen Leistenbruch-OP. Seine Frau und auch wir hatten jahrelang vergeblich versucht, ihn zu der OP zu überreden. Als er sich dann plötzlich freiwillig unters Messer legte, wussten wir alle, dass er hoffte, die OP nicht zu überleben.
Sie ging aber ohne Komplikationen über die Bühne. Man sah die Enttäuschung in seinen Augen. Und dann verschlechterte sich sein Zustand zusehends, einfach so. Wir waren auch bei ihm rund um die Uhr da. Es war hart für uns, dass es uns nicht gelungen war, ihn in den 9 Monaten auch nur einmal zum Lächeln zu bringen. Aber wir wussten, dass das Leben ohne seine Frau für ihn kein Leben mehr war.

Der Gedanke an den Tod meines Vaters erfüllt mich noch heute mit Entsetzen und Schuldgefühlen.
Bei dem Gedanken an den Tod meiner Schwiegereltern fühle ich nur große Dankbarkeit dafür, dass es sie gab und dass wir sie so liebevoll begleiten durften.

Ja, Menschen beim Sterben zu begleiten, ist eine schwere, große, aber auch dankbare Aufgabe.

Nicht alle Menschen sind stark genug dafür, und wenn es die Angehörigen nicht schaffen, aus welchen Gründen auch immer, ist es gut, wenn dann jemand wie du für den Sterbenden da ist.

Du bist schon was Besonderes, Silvia.

Deshalb bekommst du heute auch ein ganz dickes OSTERDRÜCKERCHEN von mir.
LG Marion

 
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