Lieber Herr Dr. Posth, auf Ihren letzten Beitrag zum Thema Langzeitstillen (vom 14.10.) habe ich aus Zeitgründen noch nicht geantwortet, möchte es aber doch noch nachholen. Kurz von mir: Sie schreiben, das Abstillproblem erledige sich durch das Einführen von anderer Nahrung als Milch meist von allein und ohne Tränen. Sicher gibt es wohl etliche Kinder, die sich um den ersten Geburtstag herum auf diese Weise recht problemlos abstillen lassen. Aber mal davon abgesehen, dass die WHO ja eine Stilldauer von mindestens zwei Jahren empfiehlt, muss ich aus eigener Erfahrung sagen: Es gibt auch ganz andere Kinder! Stillen ist nicht nur Ernährung, und auch ein gut essendes Kind besteht möglicherweise noch sehr stark auf dem Stillen – weil es diese Nähe eben noch braucht, würde ich sagen. Bei weitem nicht jedes Kind lässt sich mit etwa einem Jahr problemlos abstillen. Bei meinen Kindern hätte dies zu erheblich mehr Tränen und Frustration geführt als Fremdbetreuung oder ähnliches. Sicher haben verschiedene Kinder verschiedene Prioriäten – Stillen oder nicht, Familienbett oder nicht, Fremdbetreuung oder nicht -, oder, wie man hierzulande sagt: "Jeder Jeck ist anders" – das gilt natürlich auch schon für kleine Kinder. Meinen Kindern war das Stillen jedenfalls immer sehr wichtig, ohne dass ich dies forciert hätte. Bei meiner ersten Tochter bin ich auch noch davon ausgegangen, dass sie sich vielleicht mit einem Jahr abstillen würde – aber sie hat mich eines Besseren belehrt. Übrigens habe ich sie mit zwei Jahren ohne Bedenken in einen Miniclub gegeben (einen, dann zwei Vormittage die Woche), weil sie nämlich sichtlich Spaß daran hatte. Bei meiner jüngsten Tochter würde ich das nicht tun, sie könnte die Trennung noch nicht so gut verkraften. Wenn man sein Kind kennt und genau beobachet, merkt man doch, was ihm wichtig ist, denke ich. Was die Tiermütter angeht, die ihre noch stillbedürftigen Jungen abwehren, so ist das meines Wissens auch individuell sehr verschieden. So manche Schimpansenmutter lässt sich von ihrem Kind zum Weiterstillen "überreden", im Übrigen stillen Schimpansen ja ohnehin mehrere Jahre. Soviel von mir. Ich hänge noch zwei Meinungen von Bekannten an, die ich zu diesem Thema befragt habe. Die erste schreibt gerade ihre Dissertation zum Thema Langzeitstillen. Herzliche Grüße Cordula ********************** Ich habe mich aber immer gefragt, warum dieser Ansatz diese m. E. sehr frühe Lösung von der Mutter postuliert. Wer sagt denn, das das so sein muss? Wieso benötigen Kinder ein Übergangsobjekt? Nur weil in unserer Kultur viele Kinder solche Objekte benötigen, heißt das doch nicht, das es so sein muss, dass das "richtig", "normal" ist. Was ist überhaupt "normal"? Vermutlich sind - betrachtet man einmal die gesamte Menschheitsgeschichte - die meisten Kinder ohne solche Objekte ausgekommen (Vgl. mit traditionalen Gesellschaften und nicht menschlichen Primaten) Wie gesagt, es gibt andere Theorien, z.B. die Bindungstheorie (Ainsworth, Bowlby). Hier wird über einen viel längeren Zeitraum (2-3 Jahre) die sichere Bindung an eine Bezugsperson gefordert. Nun ist sichere Bindung, bzw. das, was im Verhalten der Mutter zu dieser sicheren Bindung führt ("Feinfühligkeit" im Umgang mit dem Kind) nicht gleich Stillen. Man muss also im Grunde genommen, um korrekt zu argumentieren eine "Kette knüpfen" Stillen fördert "feinfühliges, mütterliches Verhalten", dieses fördert sicheres Bindungsverhalten, und dann im Ergebnis hat man explorativere (letztendlich unabhängigere selbständigere Kinder !!!!!). Die einzelnen Schritte in dieser Kette sind wissenschaftlich belegt, was meines Wissens bislang fehlt, ist der direkte (experimentelle) Nachweis (Stillen, bzw. Stillen in einer bestimmten Form (z.B. länger als ein Jahr, nach Bedarf etc.) bewirkt das und das. Ich halte es momentan auch ehrlich gesagt für ziemlich aussichtslos, diesen Faktor "Stillen" wirklich isoliert zu untersuchen. In dem Punkt hat Dr. Posth Recht, mit dem Stillen sind eben (vermutlich oft - das untersuche ich u.a. gerade) bestimmte Komponenten des Betreuungsverhaltens assoziiert (z.B. Cosleeping, Umgang mit Fremdbetreuung etc.). Die Sache ist also alles in allem recht komplex und je genauer man hinschaut und sich die einzelnen Studien und Theorien anschaut, desto komplizierter und differenzierter wird das Ganze - einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen sind selten. Trotzdem meine ich, dass gerade in Punkto Unabhängigkeit der Kinder / Loslösung die Beobachtungen in traditionalen Gesellschaften (z.B. bei den Kung!) und die Erfahrungen von Müttern, die in unserem kulturellen Kontext Ihre Kinder lange gestillt haben, doch eine recht deutliche Sprache sprechen: die Kinder sind selbständig, verbringen eher weniger Zeit bei der Mutter als andere etc. D.h. die Kausalkette "lange Stillen" = auf ewig und immer von der Mutter abhängige Kinder stimmt also sicher (!) nicht. Der Umkehrschluß, "lange Stillen" = unabhängige Kinder muss aber auch nicht richtig sein (Begründung s.o.) ******************** Mein persönlicher Kommentar wäre: Ein Baby und Kleinkind und Kind ist naturgemäß abhängig von Erwachsenen, vorrangig von seiner Bezugsperson. Je älter es wird, desto unabhängiger wird es. Es wird immer dann ein Stück unabhängiger, wenn es dafür bereit ist. Jedes (gesunde) Kind WILL unabhängig werden, wenn man den Prozess nicht beeinflusst. Wenn es sich jeweils in dem Ausmaß loslösen kann, in dem es die Abhängigkeit nicht mehr zum Überleben braucht, also bereits unabhängig und selbständig ist, ist alles in bester Ordnung. Fürs Stillen bedeutet das m.E.: Wenn es selbst entscheidet, ob es Muttermilch trinken will oder dies nicht mehr braucht, kann das Stillen keine Abhängigkeit zementieren. Problematisch kann es doch nur dann werden, wenn die Mutter (die Eltern, die Bezugsperson) das Kind weiterhin in seiner Abhängigkeit belassen wollen oder nicht erkennen, dass diese Phase vorbei ist und dem Kind ein abhängiges Verhalten aufdrücken wollen. Wenn also die Mutter nicht realisiert, dass das Kind nicht mehr stillen will, das Stillen nicht mehr braucht. In der Praxis ist das natürlich ein wechselseitiger Prozess, der nicht Schwarz-WEiß verläuft sondern in Grautönen. Ich glaube nicht, dass das langzeitgestillte Kind (also über ein Jahr) mehr Ambivalenzen erlebt, wenn es noch Nahrung von der Mutter erhält, sofern es gleichzeitig auf andere Nahrungsquellen zugreifen kann. DAs klingt doch sehr theoretisch, und würde wohl von kaum einer Frau behauptet werden, die ein einjähriges Kind gestillt hat. Es verlangt doch noch nach dem Rückzug und der engen Nähe zur Mutter. Es entfernt sich, und kommt wieder zurück, und so weiter. Die Möglichkeit des Stillens erleichtert das Kind. Das Kind braucht diese Abhängigkeit noch, und beendet sie selbst, wenn man es läßt.
Mitglied inaktiv - 04.11.2003, 13:39