Frage: Schreitreflex

Hallo Dr. Posth, wieso und warum wird bei der U2 der Schreitreflex durchgeführt? Prüft man damit, ob die Kinder in der Lage sind, laufen zu lernen. Unser Sohn hat die ersten U-Untersuchungen problemlos gemeistert, seitdem er neun Monate alt ist, gilt er jedoch als schwer mehrfachbehindert. Er ist nun 2,5 Jahre alt und kann weder laufen noch sprechen und fängt jetzt an zu krabbeln. Er hat eine sehr schlechte Kopfkontrolle. Hätte dies in Zusammenhang mit der muskulären Hypotonie nicht schon im Krankenhaus auffallen müssen? Ich hatte nun in letzter Zeit die Gelegenheit, nichthypotone Neugeborene im Arm zu halten, die erst wenige Stunden alt waren. Sie fühlten sich ganz anders an als mein Sohn damals - viel stabiler mit viel besserer Kopfkontrolle und man konnte zu so einem frühen Zeitpunkt auch schon sagen, dass diese Kinder mal laufen lernen. Warum hat denn bei unserem Sohn keiner gesehen, dass er schwer behindert ist? Im Prinzip machen diese U-Untersuchungen ja gar keinen Sinn, wenn so schwer behinderte Kinder einfach als gesund durchgehen, obwohl sie´s gar nicht sind. Leider habe ich schon sehr oft gehört, dass selbbst schwerst behinderte Kinder die ersten Us problemlos bestehen - sekbst Liegekinder!! Wie kann denn so was sein?! Danke für Ihre Antwort, Sabine

Mitglied inaktiv - 23.08.2004, 20:41



Antwort auf: Schreitreflex

Liebe Sabine, Ihre Fragestellung rührt an hoch komplizierte Zusammenhänge. Die statomotorische Entwicklung des Menschen ist ein genetisches Programm (wie bei allen Lebewesen). Ob dieses Programm fehlerlos abläuft oder nicht, wissen Sie im Grunde erst wenn es fertig ist. Aber es gibt Zeichen in der Neurophysiologie, die ihre Schatten vorauswerfen. D.h. vieles läßt sich frühzeitig erkennen und ggf. dann auch durch geeignete Maßnahmen verhindern. Dazu dienen die Vorsorgeuntersuchungen, die daher sehr gewissenhaft und genau vorgenommen werden müssen. Im wesentlichen sind dazu nur Kinderärztinnen und Kinderärzte geeignet. Und auch die müssen sich zusätzlich dafür weiter bilden. Solche früh erkennbaren Zeichen sind z.B.: Falsche oder ausbleibende Neugeborenenreflexe und Automatismen. Der Schreitreflex ist ein angeborener Automatismus, der nach 2-3 Lebensmonaten vollständig verschwinden muß! Für das wirkliche Gehen wäre er hinderlich. Er sorgt nur dafür, daß sich das Baby im Mutterleib "drehen" kann. Der war bei Ihrem Sohn wie vermutlich andere Reflexe und Automatismen bei der U2 am 3.-10. Lebenstag noch in Ordnung. Ein ganz anderes, wichtiges Zeichen ist die Muskelspannung oder der M.-tonus. Er sorgt dafür, daß die Muskulatur ökonomisch arbeitet, und er paßt sich den jeweiligen Entwicklungsschritten an. Auch der muß immer geprüft werden, was nicht leicht ist, weil sich die Säuglinge sehr unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob sie gerade dösen, sich räkeln oder angespannt nervös sind, vielleicht sogar schreien. Außerdem gibt es reifungsbedingt übergangsmäßige Seitendiffenrenzen am Körper, was zu vielen Mißverständissen und unsinnigen Therapien führt. Stichwort KISS. Wie gut der Muskeltonus Ihres Sohnes am Lebensanfang gewesen ist, läßt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Ob da also schon ein aufkommendes Problem in der Entwicklung abschätzbar gewesen ist oder nicht, werden Sie nie herausfinden. Was ist aber die Diagnose für die "Mehrfachbehinderung"? Diese muß eine Korrelation haben zu dem tatsächlichen Krankheitsbeginn. So könnte man vielleicht im Nachhinein sagen, da etwa muß es begonnen haben. Viele Grüße und sorry für die komplizierte Antwort

von Dr. med. Rüdiger Posth am 25.08.2004