Verpasse ich den Punkt etwas zu verändern?

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Verpasse ich den Punkt etwas zu verändern?

Liebe Frau Bentz, nachdem ich die Fragen und Ihre Antworten in diesem Forum in den letzten Tagen etwas mehr verfolgt habe und ein sehr anstrengender Tag mit meiner 5 Monate alten Tochter hinter mir liegt, habe ich mich nun entschlossen auch ein paar Fragen an Sie zu richten, die mir schon lange im Kopf herum schwirren. Die ersten 3-4 Monate haben wir mit unserer Maus, einem wahrscheinlich typischen Schreibaby, damit verbracht tägliche Schreistunden einfach nur irgendwie zu überstehen, unser Kind dabei aber nie allein gelassen. Nach der ebenfalls typischen Odysse (Kinderarzt (Koliken), Ostheopat, Schreiambulanz...) kam dann Schritt für Schritt die Erkenntnis, womit unsere Tochter da jeden Tag so zu kämpfen hat - einer Regulationsstörung also. Die 4 Termine in der hier ansässigen Schreiambulanz haben uns außer einer Menge zusätzlichen Stresses leider gar nichts gebracht, was ich bei allem, was ich über die Vorgehensweise anderer Schreiambulanzen gelesen habe, immer noch sehr schade und traurig finde. Allerdings konnten wir durch die eigene Recherche zu diesem Thema irgendwann einen Weg finden, besser damit umgehen zu können. So ließ das exzessive Schreien nach etwa 4 Monaten nach, was sicherlich zum Einen an der Weiterentwicklung unseres Kindes aber zum Anderen auch daran liegt, dass ich den ganzen Tag nahezu nichts anderes tue, als dafür zu sorgen, dass sie nicht überreizt und rechtzeitig in den Schlaf begleitet wird. Ist das nämlich aus irgendwelchen Gründen nicht möglich, steigt die Schreiintensität schnell auf das Niveua von vor 2 Monaten und beeinflusst den gesamten Tagesablauf dadurch. Das sieht konkret so aus, dass sie direkt nach dem Aufwachen mittlerweile meistens zunächst recht gut gelaunt ist, gestillt wird und sich dann maximal 1 Stunde (+/- 30 Minuten) aufmerksam mit Dingen oder Personen (ausschließlich Mama, Papa oder Oma) beschäftigen kann. Neben ersten Müdigkeitsanzeichen beginnt nun das Quengeln, Weinen oder lautstarke Beschweren. Nun muss ich zügig reagieren und sie entweder ins Tragetuch oder eine Decke (auf meinem Arm) wickeln. Zum Einschlafen braucht sie nun mindestens 30 Minuten (mal ruhig, mal sehr zappelig, überstreckend, unruhig, sich wehrend), um dann maximal 30 Minuten zu schlafen. Dadurch entstand ein relativ regelmäßiger 2 Stunden Rhythmus. Nachts schlief sie sogar schon einmal 1 Monat durch, seit der großen Hitze wird sie wieder 2-3 mal wach, was mich allerdings weniger stört, da sie nachts beim Stillen wieder einschläft. Ich probierte immer wieder auch das Einschlafen im Liegen (mit Körperkontakt). Erst vor 3 Wochen gelang dies am Nachmittag für ganze 5 Tage, sodass sie sogar jeweils ca. 2-3 Stunden schlief und danach richtig erholt wirkte. Ich musste allerdings bei ihr bleiben, um ihr beim Wechsel der einzelnen Schlafphasen zu helfen (Nuckel). Im Moment klappt es leider nicht mehr. Vor allem im Liegen macht sich ihr immer noch extremer Mororeflex deutlich bemerkbar. Einmal zählte ich 19 mal Zusammenzucken (mit Aufreißen der Augen) in 30 Minuten! Nun bin ich mittlerweile schon selbst an dem Punkt, dass wir am besten mit der Situation klarkommen, wenn wir sie akzeptieren, wie sie ist (auch wenn es regelmäßig richtige Tiefpunkttage gibt), aber eine Sache macht mich doch fast täglich sehr unsicher. Natürlich bin ich mir bewusst, dass diese Situation nicht ewig so bleiben wird (habe mich aber sicherheitshalber daraufeingestellt, dass es wohl mindestens noch bis Weihnachten dauern wird) allerdings frage ich mich so oft, ob ich irgendwelche Anzeichen verpasse, um sie beim Erlernen ihrer Regulationsfähigkeiten zu unterstützen. Ich kann mir im Moment absolut nicht vorstellen, wie sich ihr Schlafverhalten weiterentwickeln könnte? Werden die Wach- oder Schlafphasen irgendwann länger? Verkürzt sich der Einschlafprozess? Oft habe ich den Eindruck, dass sie eigentlich noch gar nicht ausgeschlafen hat. Manchmal denke ich, dass sich ihr Schlafverhalten in den letzten 2 Monaten eher verschlechtert, als verbessert hat. Das Einschlafen dauert immer länger und wird mühseliger, im Schlaf wird sie immer schreckhafter und wacht so schnell beim kleinsten Mucks auf. (Vor einiger Zeit konnte ich sie schlafend im Tragetuch noch mit nach draußen nehmen, um frische Luft zu schnappen - das ist nun gar nicht mehr möglich.) Vielleicht kennen Sie Familien mit ähnlichen Erfahrungen und können mir noch den einen oder anderen Tipp geben? Ich freue mich schon sehr auf Ihre Rückmeldung! Viele Grüße! Franzi

von franzi8_6 am 01.09.2015, 21:28


Antwort auf: Verpasse ich den Punkt etwas zu verändern?

Liebe Franzi, es tut mir sehr leid, dass mit Ihrer Kleinen schon so eine Odyssee hinter sich haben und leider nicht die Hilfe gefunden haben, die Sie so verzweifelt gesucht haben. Darüber hinaus finde ich es bewunderswert, wie Sie sich gemeinsam durch den Tag kämpfen. Sie haben schon enorm viel geschafft, nämlich die Schaffung eines Tageablaufes mit festen Rhythmus. Dazu Körperkontakt zum Beruhigen und Reizabschottung. Damit bieten Sie Ihrer Maus schon eine solide Basis, die sie bei ihren Schwierigkeiten unterstützt und ihre Entwicklung fördert. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass man manchmal denkt, man müsse den Kindern durch bestimmte Aktionen, Hilfsmittel oder Maßnahmen helfen, doch gerade bei Kindern mit diesen Schwierigkeiten besteht das Helfen oft im "Weglassen" bzw. nicht mehr machen, sondern dabei bleiben. Das fällt natürlich in den ersten Wochen noch leicht, wenn dann aber die Probleme dauerhaft bestehen, ist es verständlich, dass man sich fragt, ob man noch auf dem richtigen Weg ist. Nach meiner Einschätzung sind Sie es jedoch! Was jetzt vielleicht noch brauchen, ist nicht grundsätzlich mehr oder anders. Einen zusätzlichen Tipp brauchen Sie nicht, nur den Mut, die Dinge, die Sie schon machen noch etwas konsequenter und mit mehr Sicherheit durchzuführen. Bitte nicht erschrecken, ich meine nicht, dass Sie Ihre Maus jetzt schreien lassen sollen. Hilfreich wäre aus meiner Sicht, dass Sie noch mehr versuchen, den Takt vorzugeben und nicht darauf zu warten, dass Ihre Tochter es tut. D.h. Sie schreiben etwa, dass Sie Mittags immer wieder mal versuchen, sich mit ihr hinzulegen. Bleiben Sie dabei! Geben Sie nicht auf, wenn es nach ersten Erfolgen dann mal wieder nicht klappt. Wir Eltern sind zwar durch viele Ratgeber und Informationen darauf gepolt, promt und feinfühlig auf die Reaktionen des Kindes einzugehen. Wir sollten uns jedoch nicht dazu verleiten lassen, alles Mögliche zu probieren. Ihre Maus schreit nicht, weil sie krank ist, Hunger hat oder die Windel nass ist, sie schreit oder ist unruhig, weil sie eben schneller überreizt und größere Schwierigkeiten hat "umzuschalten". Es ist daher auch keine Reaktion erforderlich, sondern feinfühlig heißt in diesem Fall eben: "ich weiß, dass es für dich gut ist, wenn du dich ausruhst, im Liegen Schlafen lernst, etc. Es fällt dir schwer, doch wir müssen da einfach durch." Sie sind quasi ein Fremdenführer, der Ihre Kleinen zeigt, wohin sie gehen muss. Sie wissen das sicher alles schon, doch so ein anstregender Alltag macht mürbe und weckt natürlich die Sorge, wohin das alles noch führen soll. Hinzu kommt, dass die kleinen Brüller eben kein positives Feedback geben - sie schreien uns immer nur an. Die Unsicherheit, die alle neue Eltern wohl in gewissen Ausmaß haben, ist bei Eltern von Schreibabys natürlich noch größer, so dass sie sich auf der Suche nach Erkenntnis eben immer wieder verzweifelt nach "außen" orientieren anstatt nach "innen" zu gucken. Daraus ensteht oft eine Ambivalenz, die sich im Zusammenspiel mit dem Kind zeigt. Man macht dies oder jenes, weil es irgendwo steht oder es jemand geraten hat, fühlt sich dabei schlecht, oder man denkt, man sollte es so oder so machen, doch der Arzt, die Schwiegermutter oder meine Freundin hat gesagt, es müsse so oder so laufen. Je sicherer Sie werden, desto sicherer kann aber auch Ihr Kind werden! Je ruhiger, klarer und strukturierter Sie sind, desto eher kann dies Ihr Kind erlernen, ohne dass Sie dabei viel tun müssen! Es ist daher auch immer sehr, sehr wichtig, sich auch im sich zu kümmern. Regulationsschwierigkeiten haben eben nicht nur die Kleine, sondern auch die Eltern - und beide OHNE Schuld!!! Klar erfordert der Alltag mit kleinen Kindern viele Abstriche an persönlicher Freiheit, Schlaf und Co. doch sollte sich nicht alles 24h ausschließlich ums Kind drehen. Sie müssen nicht zählen, wie oft Ihre Kleine hochschreckt, Sie müssen nicht alles prüfen, recherchieren, analysieren. Gedanklicher Abstand ist wichtig, damit man den Wald nicht vor lauter Bäumen übersieht. Sie sind - vollkommen verständlich - so fixiert auf das Schreien, das alles andere übersehen bzw. nur aus diesem Kontext heraus betrachtet wird.Kinder wir Ihre Maus führen bei Ihren Eltern zu einem hohem Maß an Kontrollverlust und gelernter Hilflosigkeit.Sie können nicht darauf warten, dass Ihre Tochter Ihnen die nötige Sicherheit und Struktur gibt, das muss von Ihnen kommen. In gewissen Sinne müssen also auch Eltern lernen runterzukommen, abzuschalten, sich zu beruhigen. Es ist also ein gemeinsamer Lernprozess. Sorgen Sie daher für Entlastung und Unterstützung wo es nur möglich ist. Es ist auch völlig ok, wenn Sie Ihre Baby mal stundenweise in liebevolle Hände abgeben. Isolieren Sie sich nicht! Selbst wenn Ihre Kleine beim Spazierengehen schreit, sie macht es sicher nicht, weil sie es draußen doof findet, sondern weil es eben noch neu und unbekannt ist. Wenn Sie in sich hineinhorchen, wissen Sie, dass es Ihnen grundsätzlich gut tut, also tun Sie es! Gleiches gilt für Mittagsschlaf und Co. Im Hinterkoipf sollten Sie zudem haben, dass Ihre Maus wirklich noch in einem Alter ist, wo viel passiert. Nicht alle Kinder hören mit drei, vier Monaten auf zu schreien, einige brauchen eben länger. Sollte sich wirklich längerfristig, so bis ca. 8 Monate nichts wirklich verbessern, würde ich Ihnen vielleicht den Gang zu einem Sozialpädiatrischen Zentrum entfehlen. Dort werden Familien länger betreut und bestünden wirklich augeprägtere Schwierigkeiten, könnte man sie dort umfassend behandeln. Doch dies nur als Backup für Sie! Ich drücke Ihnen die Daumen und wünschen Ihnen viel Kraft! Sie machen nichts falsch oder verpassen etwas! Bleiben Sie einfach nur am Ball und atmen Sie durch! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 02.09.2015