Verhalten Kleinkind

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Verhalten Kleinkind

Liebe Frau Bentz, vielen Dank, dass Sie das Forum eröffnet haben, ich habe Ihre Antworten mit großem Interesse gelesen und bin sehr angetan von Ihren kompetenten und menschlichen Anworten. Heute bitte ich Sie um einen Ratschlag. Unser Sohn ist 20 Monate alt und ist eigentlich seit er 5 Wochen alt ist sehr sehr anspruchsvoll und schwierig. Seit er auf der Welt ist hat er wochenlange unzufriedene Phasen, dann folgen maximal 5 Tage, da schläft er auf einmal gut ein und ist auch sonst entspannter. Wir haben schon versucht einen Zusammenhang herzustellen, ob wir z. B. zu viel unternommen haben, zu wenig gemacht etc., aber wir finden einfach nicht heraus woran das liegt. Als Säugling haben wir ihn sehr viel getragen, ablegen ging gar nicht und auch Autofahren bzw. im Kinderwagen fahren war schwierig. Die Vormittage waren meist noch ok, aber ab 13 Uhr wurde es immer schwieriger. Ohne die Babytrage hätte ich nicht überlegt und er ununterbrochen geschrieen. Einschlafen am Tag war und ist manchmal noch heute ein Kampf. Immerhin schafft er es mittlerweile eine Stunde zu schlafen, als Baby waren das zweimal 30 Minuten und das reichte natürlich nie. Positiv ist und war das die Nächte bis auf wenige Ausnahmen gut sind und er Nachts auch als Säugling nicht so viel geschrieen hat, wie am Tag. Mein Mann kümmert sich ebenfalls sehr liebevoll um ihn und wir versuchen wirklich sehr auf ihn einzugehen. Zunächst habe ich an mir gezweifelt, ob ich vielleicht einfach schlechte Nerven habe, aber das tue ich nicht mehr. Eigentlich ist der Vergleich mit anderen doof, aber mir hat es geholfen, denn ich sehe einfach, was das für ein riesen Unterschied ist, zu anderen Kindern in seinem Alter. Während wir als Säugling, ihn vor zu vielen Reizen geschützt haben und daher außer Spazieren gehen nicht viel gemacht haben, können wir jetzt schwierig mit ihm was unternehmen, weil er auf andere Kinder zu rennt, an den Haaren zieht etc. Wir müssen immer aufpassen, dass er sich nicht irgendwo herunterstürzt oder sonst weh macht. Zu Hause ist er noch unzufriedener, er kann sich keine Minute selbst beschäfftigen (5 Minuten wären schon ein Luxus), er schreit wegen jeder Kleinigkeit, wenn er etwas nicht darf, wobei ich da dann konsequent bleibe. Auf der anderen Seite lasse ich ihn auch sehr viel ausprobieren und selbst machen. Es ist so belastend für uns geworden, wir wissen nicht, wie wir einen etwas entspannteren Alltag hinbekommen. Ich habe immer gedacht, mit der Zeit wird es ein wenig leichter, wenn er z. B. Laufen kann. Leider ist das nicht der Fall. Ich hoffe, dass Sie durch meine Schilderungen einen richtigen Eindruck bekommen haben. Ich bin keine gestresst, übellaunige Mutter, die ihre Ruhe haben möchte oder glaubt, dass Kinder wie Maschinen funktionieren oder total angepasst sein müssen. Ich glaube es können nur Menschen verstehen, die so einen Alltag wirklich mal erlebt haben. Wir ernten nämlich auch aus dem familiären Umfeld viele böse Blicke, nachdem Motto ihr erzieht ihn ja auch nicht. Haben Sie einen Rat für uns, was wir tun können und ich hoffe der Text war jetzt nicht zu lange und zu konfus. Vielen Dank und schöne Grüße!

von Anilju am 07.09.2015, 13:24


Antwort auf: Verhalten Kleinkind

Liebe Anilju, Sie machen überhaupt nicht den Eindruck einer übellaunigen und übermäßig gestressten Mutter, doch ist es nachvollziehbar, dass die ganze Situation belastend ist. Zunächst einmal Sie haben eine wirklich wichtige Aussage getroffen, indem Sie sagen, Sie seien nicht mehr davon überzeugt, dass es an Ihren schlechten Nerven liege. Das denke ich auch nicht! Wäre dies der Fall, so hätten Sie die Zeit bis hierhin sicher nicht so gut bewältigt. Leider ist es so, dass Eltern von Kinder wie Ihrem Sohn häufig harscher Kritik ausgesetzt sind und quasi reflexartig nach mehr Disziplin und Härte gefordert wird. Dies beruht z.T. auf alten Erziehungsvorstellungen (gute Erziehung = Kind gehorcht, ist lieb, unkompliziert, funktioniert...) und dem Missverständnis, dass man so temperamentvollen Kindern mit mehr Härte begegnen muss, da sie durch Ihre Wut und Trotz eben nicht wie die Sensibelchen wirken, die sie im Grunde aber sind. Diese Thema wird sie begleiten, von daher ist eine innere selbstbewusste Haltung wie die Ihrige sehr wichtig und schon Teil der Problemlösungen. Sie stehen eben vor besonderen Herausforderungen als das vielleicht anderswo der Fall ist. Auf der anderen Seite ist es jedoch wichtig, der Normalität auch eine Chance zu geben. Dies fällt Eltern von Kindern mit solchen Startschwierigkeiten im Säuglingsalter natürlich schwer, denn sie sind ja durch einen langen Lern- / Erfahrungsprozess auf die besonderen Bedürfnisse gepolt und legen ein besonders Augenmerk auf jede mögliche Abweichung. Hier kann es dann passieren, dass das Verhalten gegenüber dem Kind sehr durch eine gedankliche Vorwegnahme von vermeintlich besonderen Bedürfnissen, Schwierigkeiten oder Problemem gesteuert wird - ohne das eine Prüfung der Realität folgt. Das kann dann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, sprich das Kind wird immer "besonderer", weil es immer "besonderer" behandelt wird. Was heißt das nun für Sie: Aus meiner Sicht wäre es Zeit, nach all den anfänglichen Schwierigkeiten etwas mehr Normalität Ihnen allen zuzumuten. D.H. Sie als Eltern dürfen und sollten Ihrem Kind jetzt mehr zutrauen und zumuten. Die positive Entwicklung belegt ja, dass Ihr Sohn jetzt einfach viiieeel weiter ist als der Dies gilt besonders für den Umgang mit anderen Kindern. Haareziehen, Kneifen, Hauen etc. sind ein - wengleich nicht schönes- sehr normales Verhalten für ein 20-mon. altes Kind. Er weiß noch nicht, dass das was er da macht, weil bei Kindern in dem Alter die Perspektivenübernahme noch nicht so funktioniert. Wenn er daher hauend und kneifend auf andere Kinder zuläuft, ist das keine Verhaltensstörung, sondern eine etwas ruppige Form der Kontaktaufnahme, veilleicht auch durch Unsicherheit. Er hat ja bisher offenbar noch nicht so viele Erfahrungen gemacht und muss erst lernen, dass es so nicht geht. Das kann er aber nur durch den häufigen Kontakt mit anderen. Für Sie als Eltern ist das natürlich anstregend, doch werden Sie damit nicht die einzigen sein! Die weitaus große Mehrheit der Kinder in diesem Alter zeigt aggressives Verhalten. Mein Rat daher: weichen Sie solchen Situationen nicht aus und halten Sie sich als Eltern etwas zurück. Geben Sie den Kindern die Chance, zunächst die Situation allein zu lösen. Greifen Sie nur ein, wenn es notwendig ist. Ein Schubser hier und da, ein kleiner Kneifen ist nicht dramatisch und manche Situationen werden sich so von selbst lösen. Wenn sie das nicht tun, zeigen Sie Ihrem Kind einfache Wege auf, aus der Situation herauszukommen (teilen, tauschen, abwechseln, weggehen, reden statt schlagen etc.), haben Sie aber nicht die Erwartung, dass Ihr Kind dann sofort positiv darauf anspringt. Das ist ein langer Lern- / Sozialisierungprozess, denn eigentlich ist das Prinzip "der Stärkere gewinnt" das "natürlichere". Gleiches gilt für schmerzhafte Erfahrung. Sebstverständlich haben wir als Eltern die Aufgabe, unser Kind vor Gefahren und Verletzungen zu schützen, doch auch hier macht die Dosis das Gift. Wenn bei allem Möglichen vorweggenommen wird, dass man sich weh tun könnte, ist es für ein Kind schwer, von allein abzuschätzen, was geht oder nicht. Das kann dann nicht nur zur übermäßigen Ängstlichkeit und Vorsicht führen, sondern auch zu besonders riskantem Verhalten. Kinderturnen ist da übrigens besonders empfehlenswert, denn hier können die Kleinen spielerisch im geschützten Rahmen ihre Grobmotorik fördern und sich ausprobieren. Zusammenfassend könnte man sagen, dass Sie die Entwicklung Ihre Kindes nun wahrscheinlich am ehesten fördern können, wenn Sie weg vom Schonen und mehr zum (Heraus-)Fordern kommen. Damit ist nicht Meckern oder unter Druck setzen gemeint, doch eine Erweiterung des Alltags um weitere Erfahrungs- und Lerngebiete. Dies ist natürlich auch ein Lernprozess für Sie! Das ständige Alarmiertsein, vom ständigen Fragen, was man tun sollte, vom permanenten "Wie kann, wie muss ich mich verhalten" ist sehr anstrengend und bringt eben auch die von Ihnen beschriebene Unruhe in den Alltag, da man immer nur reagiert statt agiert. Ihr Alltag scheint mir schon sehr stark von dem Bemühen gekennzeichnet, sich auf Ihren Sohn einzustellen. Dies ist auch grundsätzlich richtig und sicher liebevoll, doch auch hier kann das Problem der sich selbst erfüllenden Prophezeiung entstehen. Gerade Ihr Sohn braucht klare Regeln und Strukturen (nicht Härte!), die Sie als Eltern vorgeben müssen. Wenn Sie dagegen immer nur auf ihn und seine vermeintlichen Bedürfnisse reagieren, muten Sie ihm damit eine Rolle zu, die er nicht erfüllen kann, nämlich sich selbst zu erziehen. Er selbst hat eben nicht den Horizont, zu erkennen, was eine gute Entwicklung , was angemessen, richtig und gut ist. Sein Horizont bewegt sich im Hier und Jetzt und so wird er von einem kurzfristigen Bedürfnis zum nächsten driften, wenn Sie ihn nicht liebevoll lenken. Sprich: sensibles Vorgehen heißt auch, ihm Normalität vorzuleben und auch von ihm (altersangemessen) zu erwarten, selbst wenn ihm das ein der ein odere anderen Stelle mal stark fordert. Dass Sie ihn dabei abholen, wo er steht und individuell auf ihn eingehen schließt das nicht aus! Knüpfen Sie an seine Interessen und Persönichkeit an! Ich empfehle an dieser Stelle auch gern mal Dinge wie Stunden mit Therapiehunde oder therapeutisches Reiten. Diese ermöglichen Kindern einem anderen Zugang zu sich und Ihren Emotionen und bieten Erfolgserlebnisse. Diese sind besonders wertvoll, wenn von außen oft suggeriert wird, "du bist anders", "du bist verkehrt" (auch wen dies nicht von den eigenen Eltern kommt). Vielleicht kann es Ihnen helfen, sich tatsächlich mal eine fachliche Einschätzung Ihre Sohnes einzuholen. Manchmal braucht man einfach eine "innere Erlaubnis", Dinge anders zu machen und da kann es dann helfen, zu wissen, wo Ihr Sohn wirklich steht und was aus Sicht eines erfahren neutralen Dritten mit vielen Vergleichsmöglichkeiten sinnvoll wäre. Sich einen Rat einholen heißt ja noch nicht, dass man das Kind stigmatisiert. Vielleicht schauen Sie mal in Ihrer Gegend nach einer Erziehungsberatungsstelle. Abschließend wünsche ich Ihnen weiter die Stärke, Ihren Sohn so anzunehmen wie er ist! Das ist das beste, was ihm passieren kann! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 08.09.2015