Reizüberflutung

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Reizüberflutung

Guten Morgen Frau Bentz, mein kleiner Mann ist 3 Monate alt und seit ca.3 Wochen sehr quengelig, natürlich folgt nun der 3.Schub und vieles verändert sich und er lernt neue Dinge. Jedoch artet dieses quengeln recht aus zur Zeit, heißt er hatte die letzte Woche unruhige Nächte, er hat ab ca.der 6.Woche durchgeschlafen, von 21.30 - 5.00 Uhr ungefähr und nach der Flasche von 6.00-7.30 Uhr. Nun wacht er meist gegen 3 auf und schläft dann bis 6.00 Uhr.Tagsüber findet er kaum in den Schlaf, da er alles in seiner Umgebung aufsaugt. Nun habe ich gelesen, dass sehr temperamentvolle Babys mit zu vielen Reizen arge Probleme haben. Seit gestern versuchen wir ruhe rein zubringen, heißt die Rollos leicht runter, ruhige Musik und der Versuch ihn nach der Flasche sanft in den Schlaf zubringen, dass hat gestern auch recht gut funktioniert. So dass er 1,5 - 2 Stunden wach war und dann bis zu einer Stunde ( außer mittags, da kommen wir auf knapp 2 Stunden) schläft. Nun mache ich mir natürlich Gedanken, dass er dann später mit den Reizen Probleme bekommen könnte. Sachen wie Staubsauger,Wäsche waschen etc lasse ich natürlich nicht sein, das sind eben allg.Alltagsgeräusche. Wie lange kann so eine Phase andauern mit dieser Reizüberflutung, ich kann mich ja nicht wochenlang mit ihm quasi abschotten. Im Kinderwagen ist es auch seit einiger Zeit nicht einfach, da schläft er kaum noch wirklich da er einfach alles mitbekommen möchte was um ihm drumherum passiert. Ist es okay, diese Methode mit leicht dunkel und leider Musik sowie Anpassung des Schlafes,einige Tage durchzuziehen oder sehen Sie da mögliche Einschränkungen für seine Entwicklung? Vielen Dank für Ihre Hilfe.

von Surematu am 23.05.2016, 10:49


Antwort auf: Reizüberflutung

Liebe Surematu! mit Ihren Fragen sind Sie nicht allein! Viele Eltern teilen die Sorge, wie man sich das Leben denn in Zukunft vorstellen muss, wenn ein Kind sensibel auf Reize reagiert. Ähnlich wie Sie es beschreiben, ist es ja nicht ganz aufwendig für Reizreduktion zu sorgen und manchmal, wenn es Eltern zu genau nehmen, führt so ein Alltag ja auch in die komplette Isolation. Doch Reizabschottung und Reizreduktion bedeutet nicht, dass Sie den ganzen Tag im einem stillen, abgedunkelten Raum sitzen und keinen Mucks sagen dürfen. Das ist in den meisten Fällen weder machbar, noch ist es sinnvoll. Es ist daher auch völlig richtig, dass Sie nicht auf normale Alltagsgeräusche verzichten. Wie bei allem gilt – die Dosis macht das Gift! Unbestritten gibt es Kinder, die bereits ab Geburt über gute Selbstregulationsfähigkeiten verfügen und sich z.B. abwenden, wenn sie genug haben oder schlafen, wenn sie müde sind. Sie kennen ihre Aus-Knöpfe wunderbar gut und wissen, sich zu helfen. Oft werden sie auch als „Küchenkinder“ bezeichnet, sprich man kann diese Kinder problemlos überall mit hinnehmen. Anders als häufig angenommen ist dies aber weniger Verdienst einer „richtigen Erziehung“, sondern eine Frage der Veranlagung. Andere wiederum haben hier Schwierigkeiten und sind besonders leicht ablenkbar. D.h. sie „beißen“ sich regelrecht an Reizen fest und entwickeln einen Reizhunger nach immer neuen Ablenkungen, da sich so die inneren Spannungszustände (Hunger, Müdigkeit, Überforderung etc.) wegdrücken lassen. Um diese Kinder zu unterstützen ihre eigenen inneren Zustände besser zu fühlen und sich nicht ständig selbst zu überreizen, ist eine Reizreduktion und Reizabschottung sinnvoll. Viele Eltern mit so einem sensiblen Kind schauen neidisch auf Eltern von Küchenkindern und stellen sich oft die Frage, was sie denn falsch machen. Doch auch hier ist es weniger eine Frage der Erziehung, als eine Frage der Veranlagung Was heißt das nun konkret? a) Bei der Reizreduktion geht es darum, den Alltag mit nicht zu vielen Reizen zu überlasten. Hier muss man aus Kinderaugen denken: Für ein Neugeborenes ist bis auf die elterlichen Stimmen und der Geruch ja nun fast alles vollkommen neu und damit sehr aufregend. Das Hirn ist darauf ausgerichtet, sich neunen Reizen zuzuwenden und zu lernen. Betrachtet man nun unseren Alltag aus dieser Sicht, so sind wir oft weit davon entfernt, diesen Kindern Ruhe und Struktur zu bieten. Bereits mit den ganz Kleinen wird von Termin zu Termin gehetzt, ständig klingelt ein Handy, wird noch kurz vor Feierabend einkaufen gegangen, das völlig überhitze Kind wird stundenlang durch ein überfülltes Einkaufszentrum geschoben, es wird hektisch auf dem Sofa vor laufenden Fernsehen noch schnell einen Happen gegessen etc. Wie gesagt, verkraften dies einige Kinder problemlos. Es ist daher auch nicht grundsätzlich verwerflich, seinen Alltag trotz Kind aktiv zu gestalten, sofern es gut klappt. Allerdings habe ich oft das Gefühl, dass diese Art mit Babys umzugehen, als Ideal hochstilisiert wird und sowohl Kinder als auch Mütter unter Druck setzt. Aus der Säuglingsforschung weiß man, dass weniger hier oft wirklich mehr ist. Von daher betrachte ich auch den ganzen Wahn um Frühförderung kritisch. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung keinen vollen Stundenplan, wo sich Babyschwimmen, Pekip, Babyturnen, Babyyoga und Krabbelgruppe die Hand geben. Häufig haben Eltern in meiner Praxis jedoch ein schlechtes Gewissen, wenn sie Kurse abbrechen, weil Ihr Kind jede Stunde durchschreit. Für Mütter (und Väter), die zuvor sehr aktiv und selbstbestimmt waren, ist es zudem schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass „etwas geschafft haben“ mit einem neugeborenen bedeuten kann „ ich habe 8 mal die Windel gewechselt, 9 mal gestillt/Fläschchen gegeben, 3 mal ein vollgekotzes Kind umgezogen und bin eine Stunde mit dem Kinderwagen draußen gewesen.“ – zumal wenn gleichzeitig eine Zeitschrift mit irgendwelchen Stars vor sich haben, die Kind Nr. 4 mit perfektem Body, vollem Terminkalender scheinbar mühelos nebenbei groß bekommen. Es ist interessant, dass in anderen Kulturen Spielzeug zur Stimulation der kindlichen Entwicklung weniger verbreitet ist als bei uns, und das Prinzip gilt, Kinder möglichst lang in Watte zu packen, außerhalb der westlichen Industrienationen dominiert. Doch dies nur am Rande. Wichtig ist also, für einen ruhigen, nicht überfrachteten Alltag mit Struktur und wiederkehrenden Ritualen zu sorgen. Das bedeutet nicht die Verbannung des Staubsaugers und der völlige Verzicht auf Termine, sondern ein gesundes Maß halten. Wen morgen etwa der Kinderarzt ansteht, ist es vielleicht besser, danach nicht einkaufen zu gehen und dann nachmittags die Wohnung voller Besuch zu haben. b) Reizabschottung dagegen ist eine Methode, die temporär (!) in bestimmten sensiblen Situationen (Schreiphasen, Bettbringe-Zeiten etc.) bei Kindern mit Schwierigkeiten in der Selbstregulation gezielt eingesetzt wird. Sie soll verhindern, dass Kinder (und ihre Eltern) immer wieder in den Teufelskreis aus Reizen - Überforderung - weitere, intensivere Reize geraten, den dann zu dem berühmten stundenlagen Wippen auf dem Pezziball vor laufendem Fernsehen und Fön enden kann. Hier bietet es sich dann tatsächlich an, ein Kind in ein ruhiges, abgedunkeltes Zimmer zu bringen und auf Dauerbespaßung zu verzichten. Sie sehen also, Sie können Ihren Alltag weitgehend normal gestalten. Sie müssen sich weder abschotten noch auf jede Aktivität verzichten. Momentan scheint es so zu sein, dass Ihr Kleiner von einer Reizabschottung zu den Ruhezeiten gut profitiert, weshalb ich es auch beibehalten würde. Dies muss Sie aber nicht ans Haus fesseln. Sie können mit Ihrem Kind auch gut in der Tragehilfe / im Tragetuch oder abgedeckten Kinderwagen nach draußen an einen ruhigen Ort gehen. Wenn Sie zudem darauf achten, denn Alltag nicht zu überfrachten (manchmal werden natürlich Kompromisse nötig sein), und für Struktur sorgen, dann wird sich das Ganz sicher mit der Zeit immer mehr entspannen, so dass Sie flexibler werden. Sie müssen auch keine Angst haben, dass sich Ihr Kleiner an die 1,5 stündlichen Pausen gewöhnt und dieses Thema dauerhaft Ihren Alltag dominiert. Das Schlafverhalten eines 3-Monate alten Kindes ist eben noch sehr eine Frage der Hirnreifung. So ist die Fähigkeit, länger wach bleiben zu können und diese „Schlafschuld“ durch längeres Schlafen am Stück abzubauen (=Schlafhomöostase) eben noch nicht voll ausgereift. Geben Sie jetzt dem Bedürfnis Ihres Sohnes nach regelmäßigen Ruhepausen nach, schaffen Sie optimale Bedingungen dafür, dass sich er sich gesund weiter entwickelt. Sie werden sehen, bereits in ein paar Monaten wird er weniger, dafür aber längere Tagesschläfchen machen und nachts länger schlafen. Dass er davon abgesehen vielleicht immer ein Junge sein wird, der auf das ein oder andere sensibler reagiert, ist möglich. Doch „sensibel“ ist nicht einfach nur „schwierig“ sondern auch feinfühlig, aufmerksam, interessiert, etc. Was das Zucken angeht, so ist dies ein normales Verhalten und muss Sie nicht beunruhigen: junge Kinder starten anders als wir Erwachsenen nach dem Einschlafen nicht mit einer (ruhigen) Tiefschlafphase, sondern erst mit aktivem Schlaf, was wörtlich zu nehmen ist. Zappeln, Zucken, Drehen, Stöhnen, Grummeln etc. kann dazu gehören. Da Kinder aber in dieser Phase sehr leicht erweckbar sind, ist es wichtig, sie nicht durch Beruhigungsversuche wieder wach zu machen. Verzichten Sie daher ruhigen Gewissens auf diese Dinge. Wenn Ihr Kind wirklich wach ist, wird es sich melden. Vorher brauchen Sie nicht aktiv zu werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ruhige Nächte und entspannte Tage! Herzlichst, Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 29.05.2016


Antwort auf: Reizüberflutung

Vielleicht muss ich noch erwähnen, dass er sich beim schlafen wach zappelt. Ich beobachte, es immer wieder wenn sich die Muskeln entspannen und die Arme langsam Richtung Matratze sinken fängt er an zu zappeln. Ich streichel ihn dann sanft über die Stirn damit er ruhiger wird,aber auch wenn er tief und fest schläft, wacht er manchmal nach 30 Minuten dadurch wieder auf. Ist Entspannungsmusik sinnvoll? Ich versuche es jedenfalls heute damit und nachdem schlafen mit einer kleinen Massage. Könnte es sein, dass er sich aufgrund der Spannungen nicht richtig erholen kann und ja dementsprechend quengelig wird? Ich pucke ihn zum schlafen leicht, richtig pucken führt nur zu Geheul daher schlage ich ihn immer nur etwas in eine Decke ein. Auch das Tragen im Tuch führt erst nach einiger Zeit und extrem viel auf und ab zum schlafen.

von Surematu am 24.05.2016, 08:08


Antwort auf: Reizüberflutung

Guten Tag Frau Bentz, vielen Dank für diese mehr als ausführliche Antwort und die Zeit die Sie sich hierfür genommen haben. Zum Glück scheint es nur der Schub zu sein, da es nun wieder besser wird und er mal alleine einschläft bzw beim begleiten kaum schreit, ab und zu, wenn irgendwas nicht passt rebelliert er etwas, jedoch nehme ich mir Ihre Worte zu Herzen. Vielen Dank für die tolle Arbeit die Sie hier leisten!

von Surematu am 29.05.2016, 16:53