ehemaliges Schreikind immer noch "anders" - verzweifel

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: ehemaliges Schreikind immer noch "anders" - verzweifel

Hallo Frau Bentz! Ich lese schon eine Weile in diesem Forum, gerade weil meine Tochter (jetzt 14 Monate) schon von Anfang an irgendwie schwieriger ist als die meisten anderen Kinder in ihrem Alter. Angefangen damit dass sie vom Tag ihrer Geburt an nur geschrien hat, schlecht schlief und sehr früh (bereits ab ca 10-12 Wochen) stark fremdelte. Glücklicherweise hatte ich nachdem meine Nerven und meine Beziehung 2 Monate nach Geburt fast am Ende waren sehr kompetente Hilfe von einer Dame die sich mit Schreibabys befasste. Von da an schaffte meine kleine es auch mal zu schlafen. Ich puckte sie, vermied Reizüberflutung, schuckelte sie nicht mehr, legte sie in einen dunklen abgeschirmten Raum und das Schreien reduzierte sich auf eine erträgliche Stundenzahl. Mittlerweile ist sie wie gesagt 14 Monate alt, aber sie ist immer noch so anders. Ich besuche mit ihr einmal bis zweimal in der Woche eine Gruppe mit Müttern und Kindern in ihrem Alter mit denen ich mich sehr gut verstehe. Die Kleine jedoch bleibt nur neben mir oder auf meinem Schoß. Die anderen Kinder spielen. Sie ist wie angewurzelt. Beschäftigt sich mit dem Spielzeug in ihrer Nähe. Wenn ein anderes Kind auf sie zukrabbelt krallt sie sich an mir fest und weint. Wenn ich andere Kinder beobachte krabbeln sie überall herum und erforschen alles mögliche. Meine Tochter macht das nicht. Selbst bei uns zu Hause ist sie extrem vorsichtig. Sie ist so wenig neugierig und beschäftigt sich nur an bestimmten Orten mit bestimmtem Spielzeug.....(seit Monaten die gleichen Puzzle, Holzklötze) Sie geht nicht an Schränke, will nicht woanders hin. Schon gar nicht ohne mich! Sie will immer bei mir oder ihrer Oma sein. Andere Menschen dürfen ihr nicht näher als 2 m kommen dann fängt sie oft an zu weinen. Auch der Papa darf sie nicht auf den Arm nehmen oder mit ihr spielen wenn ich nicht dabei bin. Sie schläft unheimlich unruhig. Hat Nächte in denen sie sich 4 Stunden lang wach und weinend im Bett herumwälzt (auf den Arm will sie dann schon gar nicht). Mein Mann möchte sie auch ins Bett bringen, aber sie schläft bei ihm gar nicht ein. Bei mir nur auf dem Arm liegend (kein Tragen, wiegen o.ä.) geht das einwandfrei. Mein Mann will dass ich sie schreien lasse (zumal ich wieder schwanger bin und er glaubt, dass es so zu belastend ist und in Zukunft sein wird) und deshalb haben wir extreme Beziehungsprobleme. Er hat sie schon mehrfach schreien lassen und mich festgehalten, ihre Tür zugehalten, mich geschubst, damit ich nicht zu ihr kann. Was ist jetzt meine Frage? So genau weiß ich es nicht. Vielleicht: Ist das Verhalten meiner Tochter noch "normal"? Sind Schreikinder öfter so? Wie kann ich ihr helfen? Wie kann ich meinem Mann deutlich machen dass schreien lassen kein Weg ist? Ist unsere Beziehungskrise "schuld" an den Problemen meiner Tochter? Ich bin so unheimlich hilflos...

von IdaLönneberga am 03.08.2015, 19:44


Antwort auf: ehemaliges Schreikind immer noch "anders" - verzweifel

Liebe IdaLönneberger! vielen dankf für Ihr Vertrauen und diesen sehr offenen Bericht! Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für Sie war, dies alles zu schreiben. Ihre Situation zu Hause ist wirklich nicht einfach. Aber es gibt für alles Lösungen! Zunächst zu Ihrer Tochter: Ihr Bericht macht mir schon etwas Sorgen, dass es sich nicht einfach um eine gegenwärtige Phase handelt, die sich einfach auswächst. Mit 14 Monaten hat sie zwar noch "viel Luft" nach oben, sprich für weitere Entwicklungen, aber es ist leider so, dass einige ehemalige Schreikinder auch auf anderen Gebieten Regulationsschwierigkeiten entwickeln können, die sich dann mit beginnenden Kleinkindalter zeigen. Hierunter fiele auch das exzessive Klammern bzw. as fehlende "Explorieren" der Umwelt. Eine Ferndiagnose möchte ich mir nicht erlauben, auch möchte ich nichts voreilig pathologisieren, aber in Anbetracht der komplexen Probleme und Ihrer Schwangerschaft würde ich empfehlen, dass Sie Ihre Tochter einmal untersuchen lassen. Gibt es bei Ihnen eine größere, an eine Klinik angebundene Schreiambulanz? Die sind nämlich nicht nur für die ganz Kleinen zuständig, sondern i.A. auch für Regulationsstörungen im gesamten Kleinkindalter von 0-3. Nicht erschrecken, manchmal ist dies auch in einer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, was aber nur an den fachlichen Möglichkeiten liegt. Alternativ können Sie nach einem Früherkennungszentrum recherchieren, einen Familientherapeuten suchen oder sich an eine Erziehungsberatungsstelle wenden. Gut finde ich auch immer das Jugendamt, die in Ihrer Region vernetzt sind und Ihnen schnell entsprechende Ansprechpartner vermitteln und darüber hinausgehende Unterstützung bieten können. Wichtig finde ich dies auch in Hinsicht auf die Geburt Ihres zweiten Kindes. Sie brauchen keine Hemmungen haben, man wird Ihnen nicht das Kind wegnehmen, wenn Sie von Ihren Schwierigkeiten berichten. Eltern, die sich Hilfe holen, handeln verantwortungsbewusst und fürsorglich!!! Nun zu Ihnen: Auch Sie machen mir Sorgen! Es ist zwar durchaus normal, dass es durch Schlafmangel und die Unwegbarkeiten des Kleinkindalters zu mehr Konflikten zwischen Paaren kommt, was Sie allerdings beschreiben, geht hin bis zu Grenzverletzungen (Schubsen!). Zum einen sollten Sie dies nicht dulden und als klares Zeichen dafür sehen, dass Sie beide einfach überfordert sind und Hilfe brauchen. Zum anderen ist dies für ein Kleinkind extrem verunsichernd und da kleine Kinder eine egozentrische Sichtweise der Welt haben, sehen sie sich als Auslöser und erleben Gefühle von Ohnmacht, Angst und Hilflosigkeit. Aus dieser Eskalationspirale müssen Sie raus! Um Ihretwegen, Ihres Partners wegen und natürlich auch wegen der Kinder! Es ist daher wichtig, dass Sie Ihren Partner bei der Hilfesuche einbinden, sonst wird der Graben immer tiefer und es enstehen immer mehr "Glaubenkriege" über Richtig oder Falsch bei der Kindererziehung. Sie müssen gemeinsam einen Weg finden, der für alle gangbar ist. Vielleicht brauchen Sie als Paar da auch etwas Extrazeit. Die Elternrolle weckt so manche Erinnerungen an die eigene Kindheit, zeigt uns Widersprüche zwischen Idealen und Erziehungsalltag und führt uns zu Dingen, die wir so vorher nicht geahnt hätten. Klärende Gespräche unter fachlicher Begleitung können helfen, dies aufzuarbeiten. Männer tun sich manchmal etwas schwerer, diese Form der Hilfe aufzusuchen, doch hier sollten Sie ihm vorschlagen, dies zumindest einmalig zu versuchen. Vielleicht ist es leichter, wenn Sie es so verpacken, dass Sie gemeinsam die Probleme Ihrer Tochter abgeklärt haben möchten. Weiter fände ich es wichtig, dass Sie sich rechtzeitig Entlastung und Unterstützung organisieren, sofern dies nicht durch die Oma eh schon abgedeckt ist. Die Zeit vor und nach der Geburt ist anstrengend und ich denke, mehr Belastungen sollten Sie sich nicht zumuten. Auch für Sie und Ihren Bauchbewohner ist Ruhe wichtig. Fener kann es auch für Ihre Tochter günstig sein, einmal eine andere, sehr übersichtliche, gut strukturierte Umwelt zu erfahren, als nur das eigene Umfeld. Vielleicht wäre für Ihre Tochter zunächst ein heilpädagogischer Kindergarten etwas, doch dies würde ich mit Ihren Fachleuten vor Ort abstimmen. Ich drücke Ihnen die Daumen und wünsche Ihnen den Mut, den Sie für die nächsten Schritte brauchen! Sich Hilfe zu holen ist kein Zeichen von Versagen und den ersten Schritt haben Sie ja schon mit diesem Post gemacht! Alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 04.08.2015


Antwort auf: ehemaliges Schreikind immer noch "anders" - verzweifel

Hallo Frau Bentz! Vielen vielen Dank, dass sie sich so viel Zeit und Mühe für die Antwort auf meine Frage genommen haben. Ich wollte Ihnen mitteilen, wie es mir bisher ergangen ist. Meine Tochter hat jetzt ab September einen Platz in einer Tagesbetreuung, die wir 3 mal die Woche am Vormittag wahrnehmen werden. Es ist ein sehr schöner Platz mit sehr netten Betreuern, mit Kindern in ihrem Alter bis 6 Jahren und sogar ein paar Tieren. Hier (auf dem Land) gibt es lediglich eine Kita (die ich nutzen kann/darf), die mir jedoch zu weitläufig und unpersönlich ist und mit der ich mich nicht wohl gefühlt habe. Mit dieser anderen Lösung bin ich sehr glücklich. Die Eingewöhnungsphase "dauert so lange, wie sie eben dauert" und "kann stattfinden, wie es in unseren Tagesrhythmus passt". Eine Schreiambulanz gibt es leider nicht in der Nähe. Aber ich habe einen Termin bei einer Erziehungsberatungsstelle ausgemacht. Allerdings werde ich dort alleine hingehen, denn dazu war mein Mann erstmal nicht bereit. Ich brauche allerdings selber am meisten Unterstützung, denn das Klammern meiner Tochter belastet doch sehr. Wir waren allerdings schon zu einem Beratungstermin (als Paar).Es war sehr erfolgversprechend. Ich habe seine Sicht der Dinge nun viel besser verstanden und ich glaube er hat auch mich besser verstanden. Wir haben uns dort auf einige Punkte in der Erziehung einigen können. Ich hoffe wir schaffen es sie umzusetzen. Die Oma entlastet uns bereits sehr. Alle 2 Wochen haben wir einen Tag und Abend für uns als Paar. Also noch einmal ein ganz dickes Danke Schön. Ich hoffe es geht nun wieder bergauf!

von IdaLönneberga am 10.08.2015, 18:46