ehemaliges Schreibaby nach wie vor "schwierig"

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: ehemaliges Schreibaby nach wie vor "schwierig"

Guten Abend Frau Bentz, ich hoffe, ich bin mit meinem Anliegen bei Ihnen richtig. Ich entschuldige mich im Voraus für meinen sehr langen, etwas wirren Text. Unsere Tochter ist nun 3 Jahre und 2 Monate alt. Sie war quasi seit dem 1. Lebenstag eine kleine Brüllmücke. Im 1. Lebensjahr kam sie an 8 von 10 Tagen auf durchschnittlich 8 Stunden schreien pro Tag. Sie war schon immer sehr sensibel, wurden Tagesroutinen verändert, hatte sie immer lange damit zu kämpfen und das ist bis heute ein Stück weit so geblieben. Das 2. Lebensjahr war insgesamt jedoch schon weitaus entspannter. Mit zunehmendem Sprachvermögen wurde es "leichter", sie blieb jedoch weiterhin ein Kind, das Schreien als Ventil nutzt. Als sie 23 Monate alt war, wurde ihr kleiner Bruder geboren, den sie von Anfang an furchtbar lieb hatte, Eifersucht war zum Glück kein großes Thema. Einige Monate nach seiner Geburt kam sie in die Kita, verhält sich dort weitestgehend unauffällig, "normal" eben. Aber kaum zuhause, rastet sie förmlich aus. Ich versuche mir immer wieder zu sagen, dass es "bald" besser werden muss... aber ich weiß langsam nicht weiter.... Ein typischer Tag sieht bei uns so aus, dass sie um 5.30 aufsteht, grundsätzlich mit schlechter Laune. Ich bemühe mich jeden Tag aufs Neue, ihr fröhlich und liebevoll gegenüber zu treten, aber es ist schon schwer, wenn man 20 Minuten lang angeschrien hat, weil man mit der falschen Hand den Lichtschalter betätigt hat (also jetzt mal abstrakt gesprochen). Das zieht sich weitere zwei Stunden so durch, bis wir zur Kita aufbrechen. Da ist sie wie erwähnt unauffällig, die typischen Bockereien einer 3jährigen eben ;) Nach dem Mittagessen hole ich sie dort ab, schon im Auto kriegt sie die erste Schreiattacke, an 99 von 100 Tagen hat sie nachmittags schlechte Laune, auch wenn wir schöne Sachen unternehmen, etc. Sie findet immer Gelegenheit, auszuflippen... Das geht dann meist bis abends so weiter und ich bin dann ehrlicherweise froh, wenn sie im Bett liegt. Ich höre mich wahrscheinlich herzlos an, aber ich gerate wirklich an meine Grenzen. Ich habe inzwischen keine Ahnung mehr, was ich machen soll. Wie ich sie zufrieden und glücklich machen kann. Seit 3 Jahren dieses Dauergemotze und Geknatsche. Wenn Sie nicht hysterisch rumschreit, motzt sie nonstop. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass es so etwas gibt. Ein großes Problem ist ihre Müdigkeit. Den Mittagsschlaf hat sie schon mit 25 Monaten abgeschafft, da war auch wirklich nichts zu machen. Da sie aber schon immer eine schlechte Schläferin war, haben wir das halt so hingenommen, man kann ein Kind ja auch nicht zum Schlafen zwingen :) (regelmäßig durchgeschlafen hat sie ab ca. 2, aber wir haben immer wieder Phasen von mehreren Wochen, wo sie sehr häufig pro Nacht aufwacht) Fürs Wochenende haben wir jetzt eine Mittagspause eingeführt, wo sie nach dem Mittagessen für 30 Minuten in ihr Zimmer soll, um sich etwas auszuruhen. Schlafen würde sie freiwillig sowieso nicht, aber ich dachte, sie braucht irgendetwas um ein bisschen runterzukommen. Positive Auswirkungen können wir bisher nicht feststellen, aber sie hat das erstaunlich gut angenommen und akzeptiert. Wir versuchen wirklich, ihr auch immer wieder exklusive Zeiten ohne ihren Bruder einzuräumen, wenn sich alles nur um sie dreht, ist sie natürlich auch entspannter, aber ihr Bruder ist nunmal da und das seit 15 Monaten. Davon abgesehen war sie ja auch vor seiner Geburt schon so. Wie erwähnt, war Eifersucht bisher nie ein Thema, seit einigen Tagen gibt es jedoch immer wieder Vorfälle, wo sie ihm (meiner Meinung nach) absichtlich weh tut. Ihr tut es dann natürlich auch direkt wieder leid, aber mich macht das wahnsinnig. Wahnsinnig traurig und auch wütend. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Kinder beide gleichermaßen über alles. Und die Tatsache, dass ich mir mein Leben mit Kindern SO nicht vorgestellt habe, bin ich verzweifelt auf der Suche nach Lösungen.... Meine Tochter ist übrigens körperlich sehr aktiv, wird also genügend ausgepowert, sie kann sich sprachlich sehr gut verständigen, nutzt diese Fähigkeiten aber oft nicht. Wahrscheinlich ist das auch dem Alter entsprechend, aber es muss irgendwann doch mal einfacher werden?? Haben Sie einen Rat für mich, wie wir etwas "RUHE" in unseren Alltag bekommen? Sorry nochmal für diesen schrecklich langen Text.... Liebe Grüße

von Liese_Lotte am 10.08.2015, 19:53


Antwort auf: ehemaliges Schreibaby nach wie vor "schwierig"

Liebe Liese_Lotte, Sie haben keinen Grund, sich für Ihren Text oder Ihre zwiespältigen Gefühle zu entschuldigen! Ihre Situation zu Hause ist verstrickt und dass spiegelt sich eben wieder! Zunächst: Mit 3 Jahren ist die Trotzphase meist noch nicht abgeschlossen. Wie früh ein Kind startet, wie und ob überhaupt sich das Trotzen zeigt, liegt nicht komplett in elterlicher Hand, sondern ist auch temperaments- und reifebedingt. Natürlich spielen auch äußere Einflussen wie etwa die Geburt eines Geschwisterkindes, Kontakte zu anderen Kindern etc. eine Rolle. Trotzen ist ferner ein normaler Entwicklungsschritt und kein Zeichen dafür, dass die Erziehung versagt hat, eher im Gegenteil denn Trotz setzt geradezu voraus, dass eine liebevolle und vertrauenvolle Beziehung da ist, die die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit zulässt und auch spürbar macht. Dass wir Eltern Gegenstand der Anfälle sind, liegt natürlich in der Natur der Sache. Wir sind die "Infoquelle", der wichtigste Bezugspunkt, von dem man eben auch erfahren hat, dass er sich kümmert, auch wenn man wütend ist. Davon abgesehen kann sich natürlich eine Interaktion zwischen Eltern und Kind einschleichen, die dazu führt, dass das Trotzen und die Wut überhand nimmt und quasi zum "guten" Ton gehört. Tatsächlich gehört zu den Regulationsstörungen auch das "exzessive Trotzen", was meist bei Kindern auftritt, die vorher auch exzessiv geschrieen haben. Ein häufig zu beobachtendes Problem ist dabei, dass Wut und Trotz Aufmerksamkeit sichert. Verständlicherweise fällt es uns Eltern schwer, bei Attacken dieser Art ruhig zu bleiben und die Versuche, so etwas zu erreichen, ins Leere laufen zu lassen. Sie sagen ja selbst, dass Sie versuchen, alles recht zu machen. Gerade dieser Versuch ist es jedoch, der die Kinder überfordert. Sie spüren die "Macht", die sie mit ihrem Verhalten auf Ihre Eltern haben und gleichzeitig deren Ohnmacht. Das ist verwirrend und überfordernd, und eben ein Weg, um sich dann auszudrücken, ist Wut. Wenn Sie sich also vergegenwärtigen, dass Wut / Trotz die Suche nach elterlicher Orientierung und Strukur ist ( "was darf ich, was nicht, was ist ok, was nicht, wie funktioniert die Welt?...), ist das schon die halbe Miete. Für den Alltag heißt dass: gerade wenn Kinder Schwierigkeiten mit der Selbstregulation haben, darf man den Konflikt mit Ihnen nicht scheuen! Sie brauchen klare, vorhersehbare und routinierte Abläufe und wenige, aber klare Regeln! - Suchen Sie sich die drei wichtigsten Dinge heraus und vereinbaren Sie feste Regeln! - Überlegen Sie vorher, wie Sie bei Regelverletzungen reagieren und nicht erst, wenn Sie wütend und gestresst sind! - Versuchen Sie sowohl verbal als auch in Taten aus der negativen "wenn nicht, dann,,,-Spirale" herauszukommen! Versuchen Sie stattdessen, dass Positive vorwegzunehmen ("wenn das gut klappt, dann..." Nicht immer ist Belohnung wichtig, sondern auch Dinge wie "dann haben alle bessere Laune". - Geben Sie Ihrer Tochter alterangemessene, aber herausfordernde Aufgaben, die für Erfolgserlebnisse sorgen und sie positiv mit Aufmerksamkeit belohnen. Loben Sie viel! - Wenn Sie strafen müssen, dann natürlich gewaltfrei, konsequent und mit sinnvollem Bezug zum Verhalten ( "Wir gehen jetzt nach Hause, da dein Schubsen der anderen Kinder nicht in Ordnung ist" etc.) - Denken Sie daran, dass Ignorieren von Wutatacken und Nörgeln ein sehr gutes Erziehungsinstrument ist - Zeigen und üben Sie mit Ihrer Tochter, Alternativen zu Ihrem Verhalten und seien Sie ein Vorbild ("Guck mal, so kann man das nett sagen"). Das geht spielerisch mit Rollenspielen, Handpuppen etc. (ich bin jetzt der Wutzwerg und du der nette Frosch...) - Erlauben Sie angemessene Ausdruckformen der Wut: Wutball auf den Boden schmeißen, stampfen, aus dem Zimmer gehen, "fluchen"... - seihen Sie selbst gnädig zu sich: Sie müssen nicht alles richtig machen oder weglächeln. Authentische Gefühle wie Ärger oder Traurigkeit, wenn Ihre Tochter sich wie eine Wutmücke verhält, sind eine wichtige Informationsquelle für Ihre Kleine. Nur sollte immer ein Versöhnen folgen. Wenn Sie unsicher sind, hilft vielleicht ein neutraler Blick vom "Profi", wie z.B. einer Erziehungsberatungsstelle. Ich wünsche Ihnen mit Ihrer Wutmücke sowie dem kleinen Bruder alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 11.08.2015