Ehemaliges "24h-Baby" heute

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Ehemaliges "24h-Baby" heute

Hallo Fr. Dr. Bentz, mein Sohn war vielleicht kein richtiges Schreibaby, aber ein sehr schwieriges, sehr sensibles Baby. Er hatte große Einschlaf- und Durchschlafprobleme bis er 1 Jahr war, Rhythmusveränderungen oder viele Reize haben ihn immer sehr aus der Bahn geworfen und er musste quasi immer den ganzen Tag getragen werden. Nun ist er 3,5 Jahre und vieles hat sich gebessert bzw. kann man jetzt die Gründe für sein Verhalten besser erkennen. Er ist sehr weit für sein Alter, hinterfragt viel, ist sehr emotional und immer in Bewegung. Veränderungen (Woche/Wochenende, Feste, Urlaub) fallen ihm immer noch schwer und die Geburt seines kleinen Bruders vor 6 Monaten war da eine echte Herausforderung für ihn. Insgesamt sind wir sehr froh über seine Entwicklung, aber in einigen Situationen kommt er mir trotzdem angespannter vor als andere Kinder. Vor allem bei Hunger, Müdigkeit, Angst, Eifersucht usw. hat man den Eindruck, dass er sich manchmal dann gar nicht mehr steuern kann. Er beisst dann die Zähne zusammen und die Muskeln sind stark angespannt - sprachlich lässt er sich dann kaum noch steuern. Manchmal geht er dann auch zu seinem kleinen Bruder und drückt oder piekt ihn - scheinbar als Spannungsventil. Oftmals lässt der Druck erst nach, wenn er zB nach einem Konflikt einmal richtig geweint hat. Da wäre meine Frage, ob ich mir deshalb Sorgen machen muss und ob Sie mir einen Tipp geben können, wie ich ihm helfen kann, mit seiner Anspannung gut umzugehen Vielen Dank schon im voraus!

von isali am 04.08.2015, 09:52


Antwort auf: Ehemaliges "24h-Baby" heute

Liebe Isalie! zunächst: klasse, wie Sie die erste schwierige Zeit gemeistert haben! Schreibaby hin oder her, Sie haben Großartiges geleistet! Diese sensiblen Kinder bergen tatsächlich noch viele Herausforderungen und ich finde, sie haben das schön beschrieben. Kinder wie Ihr Ältester werden nehmen alles ganz genau wahr und werden dann von ihren eigenen Emotionen - positiven wie negativen - regelrecht "überflutet". Das kann Ihnen Angst machen. Sie müssen erst lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen und sie einzuordnen, denn geistig weit heißt noch nicht emotional weit! Das Einordnen und den Umgang mit Gefühlen lernen Kinder durch Vorbilder, sprich durch uns. Durch unsere Reaktionen zeigen wir Ihnen, was angemessen ist, aber auch, wie Gefühle zu bewerten sind. Wichtig ist es daher, dass wir als Eltern unseren Kindern alle Gefühle, auch Wut, Frust und Ärger oder Angst, zubilligen und zumuten und sie ernst nehmen. Um die emotionale Entwicklung zu förderm, gehören in meiner Arbeit drei Schritte: 1. Emotionen benennen: Durch Ihre Einordnung lernt Ihr Kind, was es gerade fühlt. z:B. "Oh, das ärgert dich jetzt" oder "bist du jetzt wütend", "freut dich das?" etc. Auch das Benennen Ihrer eigenen Emotionen ist wichtig. "Mich ärgert jetzt, dass du..." , "ich habe mich sehr gefreut", "da habe ich Angst gehabt" etc. 2. Annehmen aller Emotionen: Wichtig ist die Akzeptanz, dass alle Gefühle ok sind, dass es keine "guten" oder "bösen" Gefühle gibt, dass alle wichtig und nützlich sind. Hier muss man manchmal ein wenig bei sich selbst kritisch gucken, ob das auch für einen selber gilt... 3. Richtiger Umgang mit Emotionen: alle Emotionen sind ok, aber nicht jeder Umgang! Es ist ok, wütend zu sein, aber Hauen, Beißen und Kratzen als Reaktion eben nicht (wobei ich dafür plädiere, ein gewisses Maß an kindlichen Agressionen im Umgang zu Gleichaltrigen auch zu tolerieren, sofern es nicht wirklich ernsthaft ist und Verletzungen drohen). Hier ist es wichtig, dass wir Eltern unseren Kindern Wege zeigen, die angemessen sind. Hierzu gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Um Spannungen und Wut abzubauen, kann ein kleiner Wutball oder "Wutzwerg" helfen, den Ihr Sohn dann schmeißen, wegsperren oder beschimpfen darf. Auch können Sie Ihrem Sohn einen stillen Ort vereinbaren, an dem er sich zurückzieht, wenn er sich beruhigen muss. Wichtig ist, dass dies keine Strafe ist, sondern ein Weg zum Beruhigen. Machen Sie es selbst vor ("so, jetzt muss ich erstmal an meinen stillen Ort und mich beruhigen. Das hat mich so geärgert und mit Wut im Bauch kann ich nicht nachdenken!" usw.). Ansonsten gilt gerade bei Wutanfällen: weniger ist mehr! Setzen Sie sich ruhig daneben und bieten Sie an, dass er zu Ihnen kommen kann, wenn er mal in den Arm genommen werden möchte. Wenn Ihr Sohn mitbekommt, dass Sie diese Wut nicht schlimm finden, wird er a) sich nicht so ohnmächtig seinen Gefühlen gegenüber ausgeliefert fühlen und b) nicht für den Wutanfall durch Aufmerksamkeit - ob positiv oder negativ - belohnt. Ergänzend können Sie kleine Enstpannungsübungen (vielleicht gibt es bei Ihnen Kinderyoga?) machen, damit er lernt, auch "loszulassen" und seinen Körper mal anders als angespannt zu erleben. Sorgen machen würde ich mir aber nicht! Es ist normal, dass sich Ihr Sohn manchmal gar nicht steuern kann, daran ist die Entwicklung und letzlich auch das Temperament schuld, weniger die Erziehung! In diesem Sinne, alles Gute und weiterhin viel Freude miteinander! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 04.08.2015