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Das emotionale Bewusstsein

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von Rüdiger Posth

Teil 4 -  Selbstentstehung und die Entwicklung von Moral und Vernunft

Ein wichtiges, neues Kapitel soll die Selbstentstehung in Verbindung mit der Entwicklung zu Moral und Vernunft beschreiben.


Grundstrukturen der Selbstentstehung



Bindung und Loslösung sind die Grundpfeiler der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Mit dieser Kernaussage habe ich das vorausgegangene Kapitel über die Willensentwicklung beim Kleinkind und das Trotzverhalten abgeschlossen. Dabei war klar geworden, dass die Aneignung des Willens im frühkindlichen Stadium gleichzeitig das individuelle Selbst aus der Taufe hebt und auf diese Weise das Ich zur Welt bringt. Der Mensch wird dadurch zu einem sich selbst erkennenden Wesen, das heißt, er wird zu einem Subjekt. Das alles geschieht noch im zweiten Lebensjahr und verbindet sich mit einem bestimmten Entwicklungsschritt, der (in Anlehnung an Margaret Mahler, s.u.) Wiederannäherungskrise genannt wird. Diese kurze Phase erweist sich bei sensiblen Kindern kritisch in Form einer erneuten stärkeren Anhänglichkeit an die Mutter oder eine andere Hauptbezugsperson. Die Entdeckung des persönlichen, von allen anderen Menschen getrennten Selbst ist naturgemäß mit einer gewissen Unsicherheit und Angst verbunden. Diese Unsicherheit merkt man den Kindern an, wenn sie sich auf einmal ganz bewusst im Spiegel wiedererkennen. Andere typische Zeichen für die Selbstentdeckung sind die Verlegenheit der Kinder beim Auftritt vor Erwachsenen, beim direkten Angesprochenwerden und ihre gespielte Komik, wenn man sie besonders beachtet.

Der Begriff Wiederannährungskrise (oder auch Wiederannäherungsphase) wurde von der gebürtig ungarischen Psychoanalytikerin Margret Mahler geschaffen. Mütter erleben ihre Kinder in diesen Wochen also noch einmal intensiv auf die Mutter bezogen und besonders schutzbedürftig, obwohl sie sich schon dem Vater als ihrem Loslösungsvorbild zugewandt haben. Mahler bezieht diesen Entwicklungsabschnitt als Phase auch auf das gesamte Autonomiebestreben des Kindes. Früh sprechende Kinder können jetzt schon das Wort „ich“ einsetzen, die meisten aber zeigen noch auf sich selbst, wenn sie etwas für sich einfordern. Die meisten Kinder benutzen aber erst einmal ihren Vornamen, um sich zu erklären.

Wenn das Selbst erst einmal entdeckt und begriffen ist, wird es sofort vollständig vereinnahmt und ausgiebig - vor allem in der Familie - in Szene gesetzt. Wo nötig, wird es auch sogleich heftig verteidigt. Unübersehbar ist, dass das Kind auf einmal viel stärker seine temperamentbedingten Eigenschaften zeigt, seinen Charakter ausbildet und ein neues Sozialverhalten entwickelt, welches zwischen Koketterie, demonstrativem Ärger und verspielter Verlegenheit hin und her schwankt.

Das Kind weiß offensichtlich noch nicht, was es mit seinem Selbst anfangen soll und wie es dieses in der Gesellschaft den anderen Menschen gegenüber darzustellen hat. Auf jeden Fall ist ihm bewusst, dass es dafür Sorge zu tragen hat, nicht übersehen zu werden oder schlimmer noch in seinem Willen missachtet zu werden. Aus dem wachsenden Bedürfnis nach Selbstverteidigung heraus entspringt folgerichtig der Trotz, der je nach Temperamentsveranlagung mal gemäßigt und umgänglich, mal impulsiv aufbrausend zutage tritt. Wenn nötig, bemüht das Kind auch seine gleichzeitig entdeckten aggressiven Impulse und verteidigt sich mit zerstörerischen oder angriffslustigen Attacken. Je stärker Eltern jetzt meinen, ihr Kind begrenzen zu müssen und seinen Willen einzuschränken, desto heftiger entwickelt sich der Trotz. Nur sehr temperamentsschwache Kinder geben in diesem Streit, in dem es neben vermeintlichen Rechten auch um reine Macht geht, frühzeitig auf und unterwerfen sich.


Die Triebveranlagung des Menschen



Diese Aggression, das ist wichtig für die weitere Betrachtung des aggressiven Triebes im Menschen ganz generell, ist genetischer Ausdruck und konkrete Umsetzung eines Bedürfnisses nach Stärke und Macht, das in der Evolution seinen Ursprung findet. Die Aggression diente den menschlichen Vorfahren zum einen dem nackten Selbsterhaltungstrieb in einer feindlichen Umwelt. Zum anderen wurde sie benutzt für territoriale Auseinandersetzungen und Ressourcenverteidigung im Verteilungskampf, die Partnersuche sowie den Geltungstrieb im Wettbewerb der Individuen. Auch der Bindungserhalt wurde schon immer aggressiv verteidigt und fremde Eindringlinge verdrängt. Auf diese Weise sicherte die Aggression den Selbsterhalt und den Erhalt der eigenen Art.

Beim modernen Menschen hat sich dieser Trieb im Laufe der Evolution hingegen weit mehr sozial abgewandelt, als es unsprünglich der Fall gewesen ist. Daran ist vermutlich die große Zunahme der Menschheit beteiligt verbunden mit der Notwendigkeit, gemeinschaftlich miteinander auszukommen. So tritt die Aggression mehr und mehr in einer gesellschaftlich verträglichen Form auf, praktisch allein um der Selbstverteidigung zu dienen. Das gilt allerdings nur für das gesunde seelische Großwerden und das psychosozial normal entwickelte Gehirn. Der Aggressivität, verbunden mit dem Machttrieb, entspringen praktisch alle Verbrechen.
Die Wandlung des Aggressionstriebes in der Evolution von einem strategisch angriffslustigen und hoch impulsiven Handeln zum Erhalt der eigenen Art hin zu einer überlegten, reinen Selbst-Verteidigungsmaßnahme im individuellen Sinn, ist wichtig bei der Beurteilung des Aggressionstriebs überhaupt. Ob die Menschen denn nun aggressiv veranlagt sind oder nur auf Verteidigung bedacht, ist ein noch lange nicht ausdiskutiertes Thema. Es gibt für beide Standpunkte gewichtige Vertreter in der Argumentation (z.B. Sigmund Freund, Konrad Lorenz und ganz aktuell Joachim Bauer).

Ich für meinen Teil möchte mich hier einer kompromissgemäßen Lösung anschließen, die besagt, dass es zwar eine triebhafte Veranlagung des Menschen zur Aggression gibt, aber dieser Trieb beim homo sapiens sapiens, der wir sind, über die Jahrtausende der Evolution hinweg eine andere Bedeutung bekommen hat, eine Bedeutung, die nicht mehr der biologischen Funktion einer Arterhaltung unterworfen ist, sondern eine neue Aufgabe erhalten hat. Diese neue Aufgabe beinhaltet es, das ungemein sensible, individuelle menschliche Selbst gegen Anfeindungen aus der Umwelt ganz gleich welcher Art zu verteidigen. Also spielt beim Menschen die biologische Art als Lebewesen, das heißt die „Rasse“, keine entscheidende Rolle mehr für die Aktivierung von Aggression, sondern einzig das Ziel einer Verteidigung zur Selbsterhaltung sowie einer Aufrechterhaltung des respektvollen und gerechten Handelns unter allen Individuen.

Der Mensch aktiviert Aggression immer dann, wenn er sein ungetrübtes Lebensgefühl in Gefahr sieht oder wenn seine freiheitlich geprägten Persönlichkeitsrechte ungerechtfertig beschnitten werden. Allgemeine Konventionen, die persönliche Lebensphilosophie und eine demokratische Rechtsprechung der Gesellschaftsordnung legen dabei den Maßstab fest, wie ein ungetrübtes Lebensgefühl zu verstehen und zu erhalten sei und ab wann das Persönlichkeitsrecht in unzumutbarer Weise eingeschränkt wird.
Die Verteidigung des individuellen Selbst wird im modernen Gemeinschafts- und Staatswesen daher gezielt theoretisiert und über die allgemeine Gerichtsbarkeit dem persönlichen Aggressionstrieb des Einzelnen gezielt aus der Hand genommen. Gesellschaftsrecht stellt sich so über (archaisches) Faustrecht. Die allgemeine und demokratische Rechtsprechung soll das noch bestehende, impulsiv aggressive Verhalten unter Menschen sozial befrieden. Damit hat sich die menschliche Aggression von der ursprünglichen und damit natürlichen Funktion im Tierreich sowie in seiner eigenen Vorzeit weit entfernt und sich einer allgemeinen Kontrollinstitution von Lebensrecht und sozialer Ordnung unterworfen. Im Idealfall deckt sich dabei das Lebensrecht mit dem Menschenrecht.

Aber ungeachtet dessen lebt die Aggression im Kleinen als unmittelbare Reaktion auf alle Formen eines - wenn auch häufig nur vermeintlichen - Angriffs auf das Selbst, einer Unterdrückung der Persönlichkeit und/oder Beschneidung der persönlichen Freiheit weiter. Auch im Großen entfacht die Aggression immer wieder dann ihr höchst gefährliches Potenzial, wenn individuell und sozial krank machende Gesellschaftsstrukturen die Gesetze der menschlichen Vernunft und der rechtmäßigen demokratischen Grundordnung außer Kraft setzen. Das geschieht insbsondere dann, wenn ideologische Vernebelung verständnisvolle und empathische Reaktionen für den oder die Anderen in der Gemeinschaft zunichte macht. Auf diese Weise bewahrheitet sich, dass die ursprünglich kämpferische und zerstörerische Kraft der Aggression im Menschen nie ganz verschwunden ist, und immer dann ihre ur-triebhafte Form wieder aufleben lässt, wenn schädlicher Machttrieb, Hass und bösartige Missgunst durch eine falsche psychosoziale Entwicklung in dem Einzelnen oder in vielen sich vereinenden Menschen handlungsbestimmend werden.

Im frühen Kindesalter hingegen bekommt die Aggression sogar eine die Entwicklung leitende Position zugeordnet, da das Kleinkind in seiner Unfertigkeit noch weitgehend ohne soziale Rechte ausgestattet ist und viel zu schwach, sich in der von den Erwachsenen dominierten Welt zu behaupten. Diese existenzielle Bedingung eines jeden Kindes hat die Natur offensichtlich mit einkalkuliert und Abhilfe geschaffen. Sein frühes Selbst machtvoll durchzusetzen ist am Lebensanfang eine zentrale Aufgabe des Kindes. Und je mehr Einschränkungen des kindlichen Willens durch erzieherische Maßnahmen auf es zukommen, desto stärker wird es daher seine Aggression herauskehren. Dabei spielen charakterliche Veranlagungen und Temperamentsfaktoren sicherlich eine unterstützende oder begrenzende Rolle. Folglich entwickeln alle Kinder in der Vorphase zur Empathienentwicklung eine Neigung, aggressive Impulse -vorzugsweise an ihren Bezugspersonen- spielerisch auszuleben.

All dem Gesagten zufolge hat es keinen besonderen erzieherischen Sinn, seinem Kind frühzeitig – wie es so oft heißt – Grenzen zu setzen. Frühzeitiges Grenzen setzen ruft nur den aggressiv unterstützten Trotz hervor, der umso stärker in Erscheinung tritt, je höher die aggressive Veranlagung beim Kind ausfällt und je weniger vom ersten Handlungsdrang in entscheidungsmächtigen Willen umgewandelt worden ist (s. vorige Kapitel). An dieser Stelle zeigt sich zuerst, wie gut denn die emotionale Integration im ersten Lebensjahr funktioniert hat und wie sicher die Bindung zwischen Eltern und Kind geworden ist. Sichere Bindung erhöht den Gehalt an Urvertrauen, und ein gesichertes Urvertrauen verstärkt das Selbstvertrauen. Dieses wiederum erzeugt im Kind eine höhere Bereitschaft, seinen eigenen Willen auf den der erziehenden Bezugspersonen einzurichten und begrenzt so einen Teil der Aggression. Auf diese Weise schließt sich der Kreis zwischen intensiver und zuverlässiger, sprich einfühlsamer Zuwendung im ersten und zweiten Lebensjahr und Bereitwilligkeit zum ersten Gehorchen im dritten und vierten Lebensjahr.

Bleiben wir noch einmal kurz bei den aktuellen Auffassungen zur Aggression im Menschen. Ich teile nicht die Auffassung, dass der Mensch nur durch den Druck seiner Lebensumstände Aggressivität entwickelt (J. Bauer, 2011). Eine solche Annahme würde im Umkehrschluss bedeuten, dass ein Mensch unter optimalen Lebensbedingungen keinerlei Aggression entwickelte. Und diese Vorausgabe gälte selbstverständlich auch für das Kind. Aber gerade im Kindesalter machen wir alltäglich eine ganz andere Beobachtung. Selbst Kinder, die über keinerlei Mangel zu klagen haben, die rundum emotional versorgt sind, die keinerlei Gewaltvorbilder haben und die weder in Armut noch unter Vernachlässigungsbedingungen aufwachsen, zeigen in Abhängigkeit ihres Temperaments und ihrer Charakteranlagen aggressive Verhaltensweisen. Und was das Erschreckende daran ist, ist die Beobachtung, dass häufig genug nicht einmal eine auf der Hand liegende, sozial bedrängende Situation in der Gruppe ihr Anlass ist.

In den Kleinkindgruppen erlebt man also unabhängig von sozialen Schieflagen oder echten Notlagen immer wieder wütend aufgeladene oder provozierende Aktionen einzelner Gruppenmitglieder, die sich keineswegs jedes Mal durch ungerechtfertigte Handlungen anderer Kinder oder durch Begrenzungen durch die ErzieherInnen erklären lassen. Da werden kleinere Kinder, die sich noch unsicher auf ihren Beinen bewegen, mutwillig umgeschubst, oder schwächer erscheinenden Kindern einfach Spielsachen entrissen, nur weil diese gerade das Interesse des Stärkeren erregen. Der Machtfaktor gesellt sich hier bereits der Aggression hinzu. Beim Wegreißen wird es dann aber nicht belassen, sondern das unterlegene Kind wird dann auch noch zusätzlich geboxt oder geschlagen, und sogar vor gezieltem Kneifen, Anspucken, Treten, an den Haaren ziehen oder Bewerfen mit Sand und Dreck wird allenthalben nicht halt gemacht. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als bestünde die Gruppendynamik der Kinder unter 3 Jahren hauptsächlich aus aggressiven Auseinandersetzungen. Würden nicht die Eltern oder ErzieherInnen lenkend und regulierend eingreifen, würden sich die Kinder in diesem Alter allzu oft richtig prügeln. Aber diese frühe Form der Aggression hat einen sozial strukturierenden Sinn, der sich zwar nicht so leicht erschließt, der aber die Grundlage für alle späteren prosozialen Fähigkeiten abgibt. Bei der Besprechung des emotionalen Perspektivwechsels und der Empathie weiter unten wird dieser Standpunkt klar.

Kommen hingegen bei sehr viel älteren Kindern wiederum oder immer noch plötzliche und unvermutete aggressive Übergriffe ohne erkennbaren Anlass vor, muss von einer Störungsentwicklung ausgegangen werden. Nur solange bei genauer Betrachtung ein zugrunde liegender Konflikt auszumachen ist, der verbal nicht zu lösen war, kann vorerst Entwarnung gegeben werden (allerdings auch nur, wenn die Mittel der Aggressivität in Grenzen geblieben sind). In den anderen Fällen ist diese spätere Form der Aggression aber immer der Ausdruck einer fehlerhaft verlaufenen Sozialisation in Folge einer frühen Bindungsstörung.

Um endgültig Klarheit in die Sachlage zu bekommen, darf man meines Erachtens nicht den Fehler begehen, die Erscheinung von Aggression und Aggressivität mit der Anwendung von Gewalt gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, in diesem Punkt muss genau unterschieden werden, was gemeint ist. Aggression und ihr konkreter Ausdruck die Aggressivität ist wie ich eingangs schon sagte für mich immer noch ein angeborenes Triebgeschehen, das aber auf dem Boden der Evolution vom Territorialkampf und Fresstrieb bei Tieren und vielleicht auch noch den ersten Menschen zum sozialen Regulationsfaktor bei den emotional und sozial differenzierter ausgestatteten, neuzeitlichen Menschen mutiert ist. Emotionen und soziale Regulation brauchten die Menschen unabdingbar, da sie als geistig hochstehende Individuen körperlich zu schwach waren, um den Überlebenskampf in der Natur für sich allein bestehen zu können. Sie hatten nur in der Gruppe eine Chance zu überleben. Bei kleinen Kindern ist dieses Geschehen sogar genetisches Programm. Hier gibt es demzufolge auch noch keine - brutale - Gewalt.

Echte Gewalt ist dagegen die Eskalation der Aggression auf der Basis von Macht bei einem höher stehenden oder stärkeren Individuum über ein ihm unterrangiges schwächeres. Gewalt ist de facto der brutale Übergriff auf eine andere Person aus egoistischen Motiven und/oder mangelndem Mitleid mit dem anderen. Diese derart zur Gewalt gesteigerte Aggression hat den Faktor der sozialen Regulation verlassen und läuft in Aneignung eines Selbstanspruchs auf bessere Existenzbedingungen auf den reinen Eigenutz hinaus. Es bleibt nur zu ergänzen, dass die aggressiv verstärkte Macht in Form von Gewalt bei konflikthaftem Geschehen ohne gegensteuernde Maßnahmen immer rücksichtsloser zum eigenen Vorteil ausgeschlachtet wird.

Demzufolge kann der reine Trieb der Aggression als ein wertneutrales biologisches Merkmal des Menschen angesehen werden, das im evolutorischen Kampf der Arten einer sozialen Aufregulierung unter psychosozial komplizierter konstruierten Individuen unterzogen worden ist. Hingegen ist die Gewalt ein in der menschlichen Gesellschaft entstandenes, amoralisches Handeln zur Selbsterhöhung durch Schädigung, Schmähung und Unterdrückung anderer Mitmenschen oder Lebewesen.


Die Verankerung der Triebe im Selbst



Was haben nun Aggression, Macht und Gewalt präzise formuliert mit dem menschlichen Selbst zu tun? Es war mir wichtig, diesen gerade beschriebenen Bogen vom Trieb über die mit ihm verbundenen sozialen Funktionen hin zu den negativen Erscheinungen im zwischenmenschlichen Handeln zu ziehen. Denn alle diese Erscheinungen im menschlichen Verhalten sind Bestandteil seines Selbst bzw. verbinden sich fast unauflösbar mit seinem Selbst. Unbedingt dazuzuzählen, aber noch nicht ausgiebig besprochen ist auch der Sexualtrieb. Der Sexualtrieb gehört aber für sich genommen und ohne unheilvolle Verknüpfungen mit den aggressiven und unterdrückerischen Attitüden des Menschen zu den guten Ausdrucksformen seiner Selbststruktur. Den Sexualtrieb benötigt die Natur um der Fortpflanzung willen. Denn ohne Fortpflanzung gibt es auch keine Fortentwicklung unter den Arten.
Und weiter zählen zu den guten Selbstbestandteilen im Menschen jene Handlungsformen und Verhaltensweisen, auf die ich in diesem Kapitel speziell zu sprechen kommen möchte. Es sind diejenigen, die die Prosozialität des Menschen ausmachen. Ich spreche von den Fähigkeiten und Errungenschaften des Gewissens und der Vernunft. Prosozialität und Sexualität könnten eine gemeinsame Wurzel im Triebleben des Menschen haben.
Der Sexualtrieb spielt im Kindesalter meiner Auffassung zufolge nur eine die Existenz erweiternde Funktion im Sinne einer Ahnung von etwas Gutem und Schönen, das später kommen und dann auch wichtig sein wird. Keinesfalls ist die kindliche Sexualität auf eine partnerschaftliche Verbindung ausgerichtet und schon gar nicht hat sie etwas mit einem intim-körperlichen Austausch zu tun. Lediglich im Rollenspiel wird dieses Kapitel der Körperlichkeit nicht ausgelassen, weil auch die Genitalregion zum Gegenstand eines neugierig erforschenden Handelns der Kinder untereinander gemacht wird. Die alte Freudsche Hypothese, dass der Sexualtrieb als mächtigster Triebfaktor im Es (dem Unbewussten) die frühkindlichen Empfindungen, Erlebnisse und Handlungen in bestimmten Phasen eingeteilt und beherrscht (oral, anal, genital) und demzufolge das Ich zur Kontrollinstitution über seine ominöse Triebhaftigkeit macht, dürfte heute als historisches Relikt aus der Frühzeit der Psychologie und Psychoanalyse gelten. Zweifellos gibt es eine Form frühkindlicher Sexualität, das soll damit nicht in Abrede gestellt werden, aber sie ist wie gesagt vielmehr Begleiterscheinung der verschiedenen existenziellen Regungen des Kindes, zu denen eben alle triebhaften Erscheinungen zu zählen sind. Sie ist aber nicht das Abbild oder die Spiegelung eines die Entwicklung bestimmenden und sich phasisch aufbauenden Selbstentstehungsmodells.
Sexualität ist somit beim Kind immer absolut unschuldig, frei von ödipalen oder sonstigen libidinösen Absichten, und einfach nur ein spannendes und interessantes Erleben von Gefühlen am eigenen Körper und im eigenen Selbst. Die Gefahr für das Kind liegt einzig darin, dass durch manipulativen Missbrauch oder durch zweckgerichtete Verführung die Unschuld des kindlichen Sexualtriebs ausgenutzt wird und zum Machtinstrument für einen sehr viel älteren Jugendlichen oder Erwachsenen umgemünzt wird (sexueller Missbrauch). Daher ist es wichtig, dass es ein ausreichendes gesetzgeberisches Instrumentarium gibt, solche Tendenzen psychisch entgleister Jugendlicher und Erwachsener hinreichend unterbinden zu können. Denn das Kind erleidet durch einen solchen Missbrauch immensen seelischen und u. U. auch körperlichen Schaden.
Unabhängig von den Trieben Aggression und Sexualität entwickelt sich das Selbst im Menschen auf den Grundlagen seiner Bindungserfahrungen. Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln besprochen, entsteht das Selbst in der Gedankenwelt des Kindes aus einer Verbildlichung der mütterlichen und väterlichen Umgangsweisen mit ihm. In der klassischen Abfolge der Bindungsprozesse steht das mütterliche Bild als primäre Bindungsperson vor dem väterlichen als Loslösungsvorbild. „Verbildlichung“ oder elterliches Imago (H. Kohut) heißt, dass alle Erlebnisse und Erfahrungen im frühen Lebensablauf mit diesen beiden Personen sich prägend auf das kindliche Gehirn auswirken und damit konstruktiver Bestandteil seiner Vernetzungsstrukturen werden. Geschwister und Ersatzbezugspersonen gehen ebenso mit in die Gedankenkonstruktionen ein, wenn auch nicht mit gleicher Bedeutung.
Bei diesem die Gefühle und Gedanken konstruierenden Vorgang gibt der jedem Leser geläufige Begriff Erinnerung einen entscheidenden Teil des tatsächlichen Geschehens wieder. Über die zwar grundsätzlich schon abrufbare, aber in diesem Alter aus Reifegründen noch im Aufbau befindliche Speicherfunktion des Gehirns hinaus, kann dabei nur von einer langsamen Bewusstwerdung gesprochen werden. Das Kind lernt es in diesem Alter erst, Selbst-bewusst zu werden, wie es später mittels dieses Selbstbewusstseins die Weltvorgänge und –zusammenhänge verstehen und sich selbst darin beurteilen lernt. Gerade das macht die Anfangsprozesse so entscheidend wichtig.
Neurophysiologisch oder strikt wissenschaftlich ausgedrückt heißt das, dass diejenige Netzwerkkonstruktion, die im Laufe des Lebens dann durch mannigfaltige Weiter-Vernetzung Erleben, Fühlen, Wissen und Erkenntnis hervorruft, erst einmal selbst durch Fühlen, Wahrnehmen, Erleben und Erfahrung aufgebaut werden muss. Nervenfortsätze und Synapsen in Milliardengröße erschaffen dieses hochkomplizierte Geflecht.
Anders gesagt, erst einmal muss die Bühne dafür aufgebaut werden, auf der das Theater des Lebens stattfinden soll. Dieser Aufbau macht jedoch ohne festen Boden und Bühnenbild keinen Sinn, und bei diesem komplexen Konstruktionsgeschehen eines versinnbildlichen Bühnenbaus spielen die frühen Bindungsstrukturen in der Familie und die Beziehungserlebnisse mit den Eltern eine ganz entscheidende Rolle. Jede Familien ergänzende Maßnahme und jeder alternativ-familiärer Lebenszusammenhang prägt natürlich genauso diese Hirnwachstumsprozesse nur eben dann auf eine andere Weise.
In das gerade von mir symbolisch herangezogene Bühnebild geht die Tiefenpsychologie mit ihrem Unbewussten ein. Unbewusst bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die erlebnisbezogenen Erinnerungsspuren in der frühen Kindheit noch nicht so klar abgebildet werden, wie die Einprägungen der Gefühle. Aber ohne die gleichzeitige Abspeicherung der Ereignisse mit den Gefühlen werden letztere intensiver und nachhaltiger. So bilden eines Tages diese anfänglichen Gefühle im Leben des Menschen den Hauptinhalt seines Unbewussten (bzw. Unterbewusstseins).
Für die Selbstkonstruktion hatten wir neben sicherer bzw. unsicherer Bindung und gelingender bzw. erschwerter Loslösung bereits die positive und negative Attribution als gestaltend ausgemacht. Zwei weitere wesentliche Entwicklungsschritte arbeiten in diesen Entstehungsprozess schon früh mit hinein. Es sind die der frühen Empathie und des geistigen Perspektivwechsels. Ich fasse beide Prozesse gerne als den „doppelten Perspektivwechsel“ zusammen.


Empathie und doppelter Perspektivwechsel



Beide Reifungsvorgänge im kindlichen Gehirn hatte ich bereits skizziert. An dieser Stelle will ich sie noch einmal vertiefen und dabei betonen, dass die Reifung nicht durch reines Anerziehen ersetzt werden kann. Um den 2. Geburtstag herum, manchmal sogar schon früher erlebt man bei Kleinkindern das Interesse, sich in die Gefühlslage ihrer Eltern oder anderer Kinder hineinzuversetzen. Diese soziale Regung bezeichnet man als Empathie.
Zunächst einmal zeigen die Kinder dieses Interesse als so genanntes Als-ob-Spiel bei ihren Puppen oder Teddybären, resp. anderen Tieren. Die Spielgefährten erleiden dann dasselbe Schicksal wie das Kind selbst und werden spielerisch bemitleidet. Viele Kinder gehen auch hin und fügen ihrer Puppe oder Ihrem Bären gezielt unangenehme Dinge zu, um sie dann liebevoll versorgen zu können, z.B. durch Pusten auf die scheinbare Wunde, im Arm halten des Tieres mit Liebkosung oder ganz sachlich ein Pflaster aufkleben. Diese Als-ob-Spiele stärken die innere Position des Kindes immens und lassen das Selbstbewusstsein wachsen. Verständige Eltern erkennen in den Spielhandlungen ihrer Kinder eigene Verhaltensweisen wieder.
Aus dem Spiel mit den Puppen und Stofftieren wird dann das Spiel mit den Eltern (selten umgekehrt). Entweder findet sich eine reale Situation, die zur empathischen Reaktion Anlass gibt, oder eine solche Situation wird „simuliert“. Dabei sind die Kinder nicht immer zimperlich und kneifen, kratzen oder schlagen schon mit Erzeugung von Schmerz. Richtig bewusst ist ihnen dieses Tun nicht, da sie die Wirkung ihrer Handlungen noch schlecht abschätzen können. Und eine negative Absicht hat das auch nicht. Unabhängig davon gibt es natürlich ein körperliches Sich-wehren im aggressiv verstärkten Trotzanfall beim Kind. Alle diese beabsichtigten oder nur reaktiven Handlungen sind geeignet, dem Kind klarzumachen, dass Gewaltausübung und Schmerzzufügung keine Methoden des Sich-durchsetzens sind. Das geht natürlich nur dann überzeugend, wenn auch die Eltern und Erziehungspersonen sich solcher gewalt- oder schmerzzufügender Attacken auf ihr Kind enthalten. Ist es anders, fühlt sich das Kind geradezu legitimiert, seinerseits so zu handeln. Also an dieser Stelle fängt die konkrete Erziehung gegen Gewalt endgültig an.
Bis etwa zum Anfang des 3. Lebensjahres sind solche Spiele mit sagen wir symbolischer Gewalt noch schwer steuerbar und unterliegen oft spontanen Auseinadersetzungen im alltäglichen Trotzgeschehen. Für die Eltern ist es wichtig zu wissen, dass sie in diesen Fällen erst einmal ein eindringliches Ermahnen vor jede weitere spielerische Handlung setzen. Aber bereits mit etwa 2 ½ Jahren ändert sich das Verständnis des Kindes, und jetzt kann das Spiel „ich haue, kneife etc. dich (sanft)“, „du weinst (theatralisch)“ und „ich tröste und versorge dich (soweit es in meiner kindlichen Macht steht)“ gespielt werden. Die Kinder lieben es so zu spielen und wiederholen den Vorgang zunächst immer wieder. Erstens lernen sie dabei, was sie wissen wollen, und zweitens entledigen sie sich auf diese Weise angestauter innerer Wut. Eltern sind gut berufen, diesen affektiven Austausch, soweit das Kind nicht über die Stränge schlägt, mitzumachen. Das nenne ich Induktion. Ihr Ergebnis ist die Ausbildung einer stabilen Empathie mit der Weiterentwicklung zu Mitleid und Moral.
Etwas schwieriger gestaltet sich der geistige oder kognitive Perspektivwechsel. Nun spielt der affektiv-emotionale Hintergrund nicht mehr die entscheidende Rolle. Das inzwischen 3 ½ bis 4-jährige Kind muss jetzt kraft angewachsener Logik (Ursache-Wirkung) verstehen lernen, dass die Dinge, so wie es selbst sie sieht und begreift, nicht von jedem anderen genauso gesehen und verstanden werden. Genau genommen muss sich das Kind von seinem frühen, ersten Bewusstsein verabschieden, welches ihm eingeredet hat, die Welt sei genauso, wie es selbst diese kennen gelernt hat und sich vorstellt (frühkindlicher Egozentrismus). Wie jede fortschreitende Bewusstseinsentwicklung findet dieser Lern- und Erfahrungsprozess nicht schlagartig statt. Es sind immer wieder kehrende kleine Erkenntnisse, die das Kind sammelt, um sie dann zu einem neuen Weltbild zusammenzusetzen.
So z.B. kommt das Kind mit einem freudigen Erlebnis aus dem Kindergarten zurück und erwartet von der Mutter die gleiche freudige Reaktion. Ja anfangs denkt das Kind sogar noch, die Mutter weiß schon, was da Schönes im Kindergarten passiert ist und braucht es gar nicht erst zu erzählen. Aber wie enttäuscht ist das Kind dann, wenn es feststellen muss, dass die Mutter noch gar nichts darüber weiß und sich, als sie es schließlich erfährt, noch nicht einmal freut. Das muss gar keine böse Absicht der Mutter sein, hatte sie doch gerade erst eine ernste Auseinandersetzung bei der Arbeitsstelle oder Streit mit dem Vater. Es kommt zum Missverständnis. Aber aus solchen und zahllosen ähnlich gelagerten Fällen setzt das Kind Schritt für Schritt das neue Bewusstsein zusammen, sich mit dem eigenen Wissen nicht unbedingt in Übereinstimmung mit dem des anderen zu befinden. Gezielte Testverfahren können die Fähigkeit zum geistigen Perspektivwechsel erkennbar machen (D. Bischof-Köhler, B. Sodian).
Praktisch parallel zu diesen erweiterten Bewusstseinsschritten fängt das Kind an, sich für die Gefühlszustände seiner Bezugspersonen zu interessieren. So fragt das 3- bis 4-jährige Kind seine Mutter, ob sie wütend ist, wenn es sich heimlich Kekse aus der Dose herausnimmt (was es selbst genießt) oder traurig ist, wenn es den Teller fallen lässt und er dabei kaputt geht (was es selbst nicht schlimm findet). Oder es fragt, ob sich die Mutter freut, wenn es ihr morgens beim Verabschieden einen Kuss gibt (was es selbst unwichtig findet). Im Grunde verbindet das Kind mit solchen Fragen nach der Befindlichkeit seiner Bezugspersonen, wenn es selbst Regeln einhält oder gegen sie verstößt oder Erwartungshaltungen erfüllt oder eben nicht erfüllt, die beiden Perspektivwechsel in einem. Gemeint sind die unterschiedliche Emotionalität zu ein und demselben Vorgang sowie die unterschiedliche Meinung und Auffassung zu ein und derselben Sache.
Erst mit diesem mentalen Rüstzeug ausgestattet kann das Kind anfangen, sich selbst im Verhalten zu regulieren und seine Emotionen zu kontrollieren. In den 3 bis 4 Lebensjahren davor gab es höchstens vage Ansätze dazu und ein zufälliges Übereinstimmen der Meinungen und Empfindungen zwischen Kind und Bezugsperson. Dabei hatten die Bezugspersonen, sprich vor allem die Eltern, den sehr viel höheren Anteil dabei, eine solche Übereinstimmung herzustellen. Sprich, die Eltern mussten sich zurücknehmen und aus elterlichem Verständnis sich ihren Kindern anpassen. Nicht richtig ist es, diesen Anpassungsprozess ausschließlich vom Kind zu erwarten oder das Kind dazu zu zwingen. Denn das Kind hat bis zum doppelten Perspektivwechsel die unüberwindbare Hürde, emotional wie geistig-kognitiv das von ihm erwartete Verständnis für den oder die Anderen nicht begreifen zu können. Was es stattdessen anbieten konnte, war eine Form von Unterwürfigkeit unter die Macht des Erwachsenen, die es auch zu leisten bereit war, um das gute Verhältnis zu seinen Eltern und ErzieherInnen nicht zu gefährden.


Die verschiedenen Selbsttypen und die Gefühle Stolz und Scham



Aus den möglichen Bindungs- und Loslösungsformen und deren Kombinationen sowie aus den bis dahin erworbenen positiven und negativen Attributionen mit den daraus entstehenden Gefühlen von Stolz und Scham ergeben sich meiner Auffassung nach vier gut unterscheidbare Selbsttypen. Damit ähnelt das Bild der Selbstentstehung wieder dem von Bindung und Loslösung, die ebenfalls vier Varianten möglich machten.
Im Idealfall entsteht ein in sich starkes und emotional ausgewogenes Selbst. Es zeichnet sich aus durch ein beständiges mehr oder weniger überwiegendes Gefühl von stärkerem Stolz als Scham, verbunden mit einer gelungenen Loslösung aus der zu engen primären Bindung. Bereits die Kinder wirken selbstbewusst, emotional ausgeglichen und zeigen Bereitschaft zu einem friedlichen sozialen Miteinander.
Vermutlich im häufigsten Fall entsteht jedoch ein mehr oder weniger stark emotional eingeschränktes, unausgewogenes Selbst. Bei ihm dominiert die Scham mehr oder weniger stark über den Stolz und im Bindungsstatus rangiert die Bindung noch über der Loslösung. Hierbei schützt aber die Bindung den Schwächecharakter im Selbst vor der erhöhten Scham. Der Preis ist die anhaltend hohe Abhängigkeit von der Mutter als primärer Bezugsperson.
Diese beiden Selbsttypen machen wahrscheinlich zwei Drittel aller Selbstkonstruktionen aus. Das ist zunächst einmal nur eine reine Schätzung, die auf Erfahrungen und Beobachtungen beruht.
Das letzte Drittel teilt sich nun auf in die minderwertigen Selbstkonstruktionen und die überheblichen oder omnipotenten. Meinen Beobachtungen zufolge gibt es weit mehr minderwertige Selbstkonstruktionen als omnipotente. Das hat sicher etwas mit unserer Erziehungspraxis zu tun, die durch autoritäre, auf Demütigung und Strafe ausgerichtete Erziehungspraktiken die Kinder zum Gehorsam zwingt. Dabei läuft sie Gefahr, deren seelisches Kostüm zu beschädigen. Das Kind mit minderwertigem Selbst besitzt einen zu hohen Schamanteil und kann sich deshalb in der Loslösung nicht sicher bewegen und verhalten. Es verliert auf diese Weise mehr an seinem Bindungsschutz, als ihn in der Loslösung wie bei normaler Entwicklung durch wachsende Autonomie zu verstärken. Die Kinder wirken in der sozialen Konfrontation mit noch unvertrauten Personen ausgesprochen ängstlich und unsicher, trauen sich nichts zu sagen und drücken sich nahe an der Bezugsperson herum. Der Mutterschoß ist dann ihr Lieblingsplatz. Oft flüstern sie ihrer Bezugsperson ins Ohr, was diese dann zu Gehör bringen soll.
Omnipotente Kinder dagegen entspringen erziehungsschwachen oder extrem unsicheren Elternpositionen, die statt ihre Kinder zu strafen, zu vernachlässigen oder zu misshandeln nahezu permanent in den Himmel heben und ihnen alles zu Füßen legen, was diese sich im plötzlichen Einfall wünschen. Auch eine Rückbindung an die Mutter durch falsch verstandenes Schutzverhalten kann eine solche Entwicklung fördern. Das „Wunschkonzert“ wächst dann irgendwann ins Unermessliche und lässt das Selbstwertgefühl auf gefährlich falsche Weise ausufern. Die Bindung verbleibt mächtig und sonnt sich im zu hohen Stolz. Da aber nur eine schwache Loslösung zustande kommt ist dieser Stolz eitel und wohlgefällig und schützt nur dann, wenn er permanent von der Umwelt bedient wird. Entsprechend hoch sind die Forderungen dieser Kinder an ihre Mitmenschen. Wohlstandverwahrlosung gibt dieses Bild in gewisser Weise wieder. Was den Kindern tatsächlich fehlt, sind eine gesunde elterliche Führung und eine liebevolle Achtung.
Die minderwertigen Selbstkonstruktionen haben sicherlich die größten Probleme von allen vier Selbsttypen, da ihr Selbstwert sich früher oder später gegen Null bewegt. Die Kinder fühlen sich im weiteren Leben ungeliebt, missachtet, verlassen und wertlos. Sie verzeichnen kaum positive Selbstattributionen und bewegen sich zunehmend am sozialen Rand ihrer altersgleichen Gruppe. Niemand mag sie mehr leiden, Kinder nicht und Erwachsene schon gar nicht. Sie bringen keine Spielideen mit und wirken freudlos und depressiv. Sie trauen sich nichts mehr zu, weil nahezu alles, was sie einmal wie jedes andere Kind auch mit Stolz und Selbstüberzeugung begonnen haben, ihnen in seiner Wertigkeit zerstört worden ist.
Manche Eltern machen aus dieser Form sozialer Abqualifizierung und persönlicher Entehrung ein Erziehungsprinzip in der Absicht, ihr Kind auf diese Weise zu noch höherer Leistung anstacheln zu können. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder werden immer mutloser und selbstkritischer, vernachlässigen ihre Interessen und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld und der Gruppe zurück. Sind sie sehr viel älter und verstehen mit den Medien und dem Computer umzugehen, sind sie Fernsehdauerkonsumenten und ständige Gäste auf diversen Internetseiten, die der Kontaktvermittlung dienen.
Ausgewogenes Selbst und einfach unausgewogenes Selbst sind also mit Abstand die häufigsten Selbstkonstruktionen; sie bestimmten die Verhaltensweisen der meisten Menschen. Nun darf man sich aber diese Selbstkonstruktionen nicht als ganz reine Typologien ansehen. Vielmehr sind sie alle ein bisschen mehr oder weniger auch mit den anderen Formen gemischt. So besitzt auch das ausgewogene Selbst mehr oder weniger starke Anteile der Unausgewogenheit und unausgewogene Selbstkonstruktionen Anteile der Ausgewogenheit. Es kommt demzufolge in der Eingruppierung hauptsächlich darauf an, welcher Anteil der dominante ist. Selbst minderwertige und omnipotente Züge sind im ausgewogenen und unausgewogenen Selbst in geringem Maße enthalten und umgekehrt, aber eben nur auf einer sehr niedrigen Stufe, so dass sie sich kaum bemerkbar machen oder doch zumindest gut im Zaum gehalten werden können.
Die Tatsache solcher Überschneidungen erklärt, warum bei klar definierten Selbsttypen immer wieder auch einmal Ausbrüche in einen anderen Typenbereich stattfinden, ob rein innerlich ausgelöst durch anhaltend starken Stress und Spannung oder durch äußerliche Umstände mit zu hoher Belastung. Auf diese Weise lassen sich Reaktionen bei Menschen erklären, mit denen man bei oberflächlichem Kennen keinesfalls gerechnet hat. Im Jugendlichen- und Erwachsenalter kommen solche unerwarteten Reaktionen immer wieder vor und füllen bei ausreichender Medienwirksamkeit die Seiten der Presse.


Vom Selbst zum Schuldempfinden und der Moral



Das Selbst ist auch ohne jeden aggressiven Unterton zunächst immer ein eigennütziges und Ich-schützendes Empfinden. Jede Form prosozialer Wandlung in altruistisches Mit-Fühlen und Mit-Denken ist ein Akt der Erziehung, ob durch belehrenden Einfluss oder durch stilles Vorbild. Das so zu behaupten ist nicht einfach. Denn es gibt in der Vorstellung über die Entwicklung des Menschen vom Kind zum Erwachsenen darüber sehr geteilte Ansichten. Eine ganz gegenteilige Ansicht, nämlich die Behauptung, dass das altruistische Denken im Menschen genetisch angelegt sei weil über die Jahrtausende der Evolution herausselektiert, habe ich bereits bei der Diskussion über die Aggression im Menschen angesprochen. Ich neige nicht zu dieser Theorie.
Es gibt viele religiöse Vorstellungen zu dieser Frage, die die Auffassung vertreten, dass jedes moralische Denken und Handeln in Form des Altruismus von einem außerirdischen, das heißt göttlichen Wesen auf den Menschen übergeht. Der Glaube, so heißt es, gäbe die Inspirationsquelle dazu. Mit dieser Position möchte ich mich hier aber noch nicht befassen, denn solche Ansichten bewegen sich außerhalb entwicklungs- und tiefenpsychologischer Kategorien und verlangen einen philosophischen Diskurs.
Außerdem ist für mich die Reihenfolge nicht die in der Religion verankerte, der Mensch sei von Grund auf böse und verderbt (im christlichen Glauben durch die Erbsünde) und müsse über seinen Glauben und seine Treue zur Religion zum Guten gewandelt werden. Meine Reihenfolge ist die, der Mensch ist von Grund auf unschuldig und tendiert zum Gut-sein. Er muss so aufwachsen können, dass diese Schuldlosigkeit und Güte ihm erhalten bleiben. Das bedeutet, dass das Böse im Menschen durch falschen Umgang mit ihm in der Kindheit entsteht und durch schlechte oder fehlgeleitete Erziehung, konkret gesagt durch jede Form von Gewalt und gezielter menschlicher Abwertung. Also stehen die Entwicklung und Erziehung vor der Verankerung sittlich moralischer Kategorien und bestimmen so die Reihenfolge in der Sozialentwicklung des Menschen. Diesen Entwicklungsverlauf möchte ich nun im Folgenden genauer ausführen.
Wenn ich nun der Meinung bin, dass der Mensch tendenziell gut und vor allem unschuldig auf die Welt kommt, dann heißt das nicht gleichzeitig, dass er ohne Eigennutz und Aggression durch die ersten Jahre kommt. Nein, im Gegenteil, und das mag kompliziert klingen, sind dieser Eigennutz und diese das Selbst verteidigende Aggression als Grunderfahrung im Leben notwendig, um die Entwicklung zum Guten, Gerechten und Sozialen einzuleiten. Die Natur im Menschen benötigt diesen komplizierten Weg, um aus einer - sagen wir - noch unfertigen Rohmasse von möglichen sozialen Verhaltensweisen, diejenigen hochsensiblen, äußerst feinen Sozialstrukturen zu ziehen, die für das moralische und den gegenseitigen menschlichen Wert schätzende altruistische Handeln notwendig sind. Diese noch „rohen“, unausgefeilten Verhaltensweisen, die am Anfang des Lebens der Selbsterhaltung dienten und der Abwehr von Bedrohung und Angst, denen der kleine Mensch unausweichlich ausgesetzt ist, waren aber erhalten geblieben aus der gefahrvollen Vorgeschichte des Menschen.
Warum die Natur diesen komplizierten Weg in der Spezies Mensch zu wählen hatte, hat nun seinen Grund in der hohen Intelligenz ihres evolutorischen Sprosses. Und diese Intelligenz sehe ich gepaart mit dem das Selbst reflektierenden Bewusstsein. Denn ohne ein subjektives Bewusstsein wäre diese hohe Intelligenz nicht möglich. Aber hohe Intelligenz macht empfindsam, ängstlich und um sein Selbst besorgt, denn sie ermöglicht den Blick in die Zukunft und sie ermöglicht die Ahnung von dem eigenen Ende, dem Tod. Denn nur das kluge Wesen erkennt in der Schwäche und im Sterben des Anderen die Möglichkeit, selbst darunter leiden zu müssen und dieses Schicksal eines Tages zu teilen. Und diese Ahnung befällt schon kleine Kinder, zum Beispiel wenn sie den Tod von Anverwandten, von geliebten Tieren oder auch das Vergehen von Pflanzen erleben. Drei- oder vierjährige Kinder empfinden echte Gefühle der Trauer bei solchen Ereignissen ohne zu wissen, warum das so ist. Sie wissen ja auch noch nicht, aber sie ahnen schon.
Diese Ahnung kommt aus der Empathie, die knapp Zwei- bis Dreijährige bereits entwickeln, so wie ich es weiter oben beschrieben habe. Und diese Empathie oder der emotionale Perspektivwechsel ist der Grundstein zu aller Moralität. Das müssen wir im Gedächtnis behalten. Jedes Kind, aber auch jedes, muss diese Empathie entwickeln können, sonst wird es zu einer Gefahr durch die unkontrollierte, zunehmende Intelligenz. Zu einer Gefahr würde es deswegen, weil es die ursprünglichen Gefühle von Bedrohung und Angst unabweisbar dazu aufriefen, all seine Intelligenz allein für die Abwendung von Gefahr und für den Einsatz zum eigenen Vorteil und Wohl zu verwenden. Aus dem Menschen würde notgedrungen ein unbelehrbarer, ein unheilbarer Egoist.
Sicher gebundene Kinder haben einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen. Sie lernen an dieser Stelle sehr viel leichter und schneller. Unsicher gebundene Kinder haben bei dieser Aufgabe schon erste Schwierigkeiten, denn entweder haben sie erfahren müssen, Gefühle zu vermeiden bzw. zu verdrängen oder sie haben gelernt, um ihr Selbst ständig kämpfen zu müssen und doch erfolglos zu bleiben. Erstere wären die vermeidend- unsicher gebundenen Kinder, letztere die ambivalent-unsicher gebundenen. Desorganisiert gebundene Kinder haben schon gar keine Plattform mehr, von der aus die „operieren“ können. Sind sie ausreichend intelligent, keimt schon in jungen Jahren ein gefährlich antisoziales Potenzial.
Annähernd Identisches gilt für die Loslösung. Gut losgelöste Kinder haben ihr Selbst schon ein bisschen im Griff. Sie können ihre Gefühle besser integrieren und verarbeiten. So lässt sich viel leichter in die Gefühlswelt des Anderen vordringen. Erschwert losgelöste Kinder sind noch völlig verstrickt im Durchsetzen ihrer ersten Selbstgefühle und reagieren „rückgezogen“, wenn sie regressiv sind, oder ausufernd expansiv, wenn sie aggressiv sind. So sind sie entweder „schlecht gestimmt“ (bis hin zur Depression) und in sich gekehrt oder wütend, aufgebracht und explosiv und arbeiten sich an der sie einschränkenden Lebensumwelt ab. Auf die Gefühle der Anderen können sie zwangsläufig nicht achten. Kinder, deren Loslösung völlig misslingt, bleiben gefangen in den zerfallenden Bindungsstrukturen und verlieren schon bereits sehr früh den Bezug zu den emotionalen Aspekten ihrer Umwelt. Damit verbleiben sie unempathisch und ähneln autistisch veranlagten Kindern.
Die Natur hat wegen dieser elementaren Wichtigkeit den emotionalen Perspektivwechsel vor den geistig-kognitiven gesetzt. Aber auch der kognitive ist grundlegend wichtig für jeden Fortgang einer Entwicklung zum moralisch denkenden und handelnden Menschen. Was dabei auffällt ist, dass diese Grundelemente der Sozialentwicklung des Menschen schon in die Selbstentstehung eingebettet sind. Sagen wir besser, das hat sich in der Evolution so ergeben, denn jede andere Reihefolge hatte wohl fatale Entwicklungen zur Folge, und die dabei entstandenen Individuen hätten sich, sobald sie erwachsen waren, in ihrem Egoismus gegenseitig ausgemerzt.
Der geistig-kognitive Perspektivwechsel (die Theory of Mind) ist die Voraussetzung für das Erkennen eines schuldhaften Handelns gegenüber den Normen und Gesetzen einer fest gefügten sozialen Gemeinschaft. Denn ohne das Verständnis solcher Verhaltensnormen und der Verpflichtung zu ihrer Einhaltung gibt es keine Schuldvorstellung. Aber die Schuld kennt zwei Prinzipien, zum einen die Logik der Selbstverursachung, die wertneutral ist, und zum anderen diejenige im Sinne einer Schädigung des Anderen (in welcher Form auch immer). Für letztere sind die Fähigkeit zur Empathie und Mitleid notwendig.
Nun wird langsam klar, in welcher Reihenfolge die geistige Reifung im Menschen zu einem moralischen Wesen abzulaufen hat. Eine göttliche Eingebung hätte hier noch gar keine Chance und auch eine religiöse Belehrung wäre völlig verfrüht, denn erst müssen die Begriffe Schuld, Reue und Sühne verstanden sein, bevor eine Lehre Gebote und Gesetze in diesem Gefühls- und Gedankenkonstrukt unterbringen kann.
Das führende emotionale Gefühl der Schuld ist die Reue, vorausgesetzt, dass der Unrechtscharakter der Tat empfunden werden kann. Die Verursachung allein löst noch keine Reue aus. So gesehen sind Kleinkinder bis etwa 3 Jahre nicht imstande, moralische Schuld zu empfinden. Denn die Reue entwickelt sich aus dem emotionalen Perspektivwechsel, also aus Empathie und Mitleid mit dem Anderen (dem Geschädigten), und diese Fähigkeit entwickelt das Kind zuverlässig - wie oben beschrieben - erst danach. Aus der Reue entsteht beim emotional gesunden Menschen automatisch das Bedürfnis zur Wiedergutmachung, denn die Möglichkeit, seinen Fehler zu tilgen, wird als Erleichterung der inneren Scham empfunden.
Scham ist demzufolge als Gefühl die Voraussetzung für die Reue. Später gibt es noch eine Form der rationalisierten Scham als faux-pas oder Blamage. In diese Kategorie gehören auch alle Gefühle der Peinlichkeit. Ein Kleinkind ist aber weitgehend frei davon, es sei denn, es stünde diesbezüglich schon unter einer strengen Erziehung.
Die Wiedergutmachung ist also die geeignete Form einer sozialen Tilgung der eingegangenen Schuld. Sie erfolgt am besten zeitnah und sinnvoll im Sinne eines materiellen oder auch ideellen Ausgleichs für das, was das Kind angerichtet hat. Der materielle Ausgleich ist der noch am besten einzusehende für das Kind, denn ein Kind in diesem Alter denkt noch stark in konkreten Wertmaßstäben. Ideelle Tilgung der Schuld gelingt im frühen Kleinkindalter am besten noch durch ausdrückliches Bedauern und Spenden von konkretem Trost. Umarmung, Streicheln, Pusten auf Wunden oder ein Pflaster kleben sind die geeigneten Mittel. Das Wort Entschuldigung lässt sich zwar früh einstudieren, erzeugt aber in diesem Alter vorläufig nur eine schwache Wirkung im Kind. Das Wort als Entschuldigung ist in seiner Symbolkraft noch zu theoretisch.
Etwas besser schon funktioniert das Geloben von Unterlassung in der Zukunft. Auch das ist Teil des sozialen Sich-entschuldigens, aber wegen seines auf die Zukunft gerichteten Charakters und der Voraussetzung einer selbstbeherrschenden, inneren Regulation die schwierigere Variante. Aber wenn es auf das Schulalter zugeht, wird die Unterlassung immer wichtiger.
Ist das Kind durch Wiedergutmachung in der einen oder anderen Form seelisch entlastet, kehrt der Stolz zurück in die beschämte Seele. So lässt sich in der Beschämung das schlechte Gewissen als 1. Stufe der Schuldanerkennung abgrenzen vom guten Gewissen als der Wiedergutmachung, durch die dann seine 2. Stufe beschrieben ist. Jedem Kind muss die Möglichkeit gegeben werden, diese 2. Stufe zu erreichen, damit sein eigenes Selbst nicht beschädigt zurückbleibt. Denn nur das gute Gewissen schafft die nötige Motivation, auch in Zukunft immer wieder nach diesem Schema zu handeln. Verderblich für die Entwicklung des Kindes ist, es durch Strafe und verbale Entwertung in der 1. Stufe, der der Scham zu belassen, weil diese Scham sich im Laufe seiner Entwicklung weiter anhäuft und das entstandene Selbst von innen zerfrisst.
Erst wenn die beschriebenen psychodynamisch konstruktiven Voraussetzungen im Gehirn des Menschen geschaffen sind, können, das ist meine Auffassung, moralische Kategorien, Normen und Gesetze, so wie sie die Gesellschaft aufgestellt hat, in der das Kind lebt, vom Kind aufgenommen und willentlich beachtet werden. Lässt sich der prosoziale Grundstock, so wie eben beschrieben, aber nicht oder nur zu einem gewissen Teil bereiten, wird die Einvernahme der Sitten, Normen und Gesetz entsprechend schwächer ausfallen oder gar nicht gelingen. Der Weg in die Dissozialität oder antisoziale Persönlichkeitsstörung ist damit vorgezeichnet.
Wo also J. Piaget und L. Kohlberg als „Erstbeschreiber“ der moralischen Entwicklung des Kindes und Jugendlichen mit ihrem Stadium der Heteronomie bzw. dem präkonventionellem Stadium ansetzen, müssen meiner Darstellung nach zuerst einmal die Grundlagen im Gewissen geschaffen sein.
Damit stelle ich eine Theorie der Sozialentwicklung auf, die dasjenige zur Grundlage hat, worauf die beiden genannten Vorläufer in der Sozialentwicklung des Menschen aufgebaut haben. Sie konnten seinerzeit, als sie gearbeitet hatten, die Grundlage in der Form, wie es heute möglich ist, noch nicht erkennen, weil weder die Entwicklungspsychologie noch die Hirnforschung weit genug vorangeschritten waren. Ihnen fehlten wesentliche Bestandteile, die Grundlagen verstehen zu können. Auf der Basis meiner Beobachtungen und Ableitungen ließe sich nun die frühkindliche Sozialentwicklung folgendermaßen einteilen:
Die Jahre 1 bis 3 gelten als das Präempathische Stadium. Dieses ist gekennzeichnet durch die so genannte Affektansteckung, deren neuronale Funktionen im Wesentlichen in der Aktivität der Spiegelneuronen zu suchen ist. Das Kind äußert diese Gefühle aber nicht nur im Affekt, den es mit den anderen Kindern dann teilt, sondern auch in seinen Als-ob-Spielen. Kaum ein Kind unterlässt es, seinen Teddy oder seine Puppe zu versorgen und zu pflegen, wie es mütterliche Pflege an sich selbst gewohnt ist. Funktionen des Übergangsobjektes gehen teilweise mit in dieses Spiel ein.
Die Jahre 3 bis 6 gelten als das Stadium des doppelten Perspektivwechsels. Dieses ist gekennzeichnet durch erste emotionale und dann kognitive Erkenntnisprozesse, in denen das Kind lernt, über die Gefühle und Gedanken der anderen Menschen selbst nachzudenken. Gleichzeitig fängt es an, die eigenen Gefühle zu reflektieren und situativ zu begreifen. Es baut sich eine Mitleidsempfindung auf. Das Kind macht sich Sorgen um den Anderen. Sein Spiel ist jetzt hauptsächlich das soziale Rollenspiel. Das Regelspiel wird noch schwer ertragen, da das Kind die negativen Gefühle, in Nachteil zu geraten, schlecht aushalten kann. (Ausnahmen bestätigen die Regel)
Die Jahre 6 bis „12“ sind das Prosoziale Stadium. Hier zeigt sich erstes Verständnis komplexerer sozialer Zusammenhänge. Gewissen und Vernunft, soweit sie herangereift sind, werden stabilisiert und als Grundlage für soziale Verhaltensweisen genutzt. Das Kind empfindet Angst um sich selbst und um die Anderen. Es baut Freundschaften auf von Dauer und sucht sich Gruppen, in denen es eigene Interessen mit den Anderen teilen kann. Das Kind führt mit den anderen Kindern Regelspiele aus, übt sich im Wettbewerb und lernt mit Gewinnen und Verlieren umzugehen. Es lernt sich selbst einzuschätzen und eine erste soziale Rangaufteilung daran auszurichten.
Die Jahre „12“ bis „24“ stehen für das Interreaktive Stadium. Es umfasst die Zeit der Pubertät und Adoleszenz. Der Gewinn an Sozialverhalten ist in dieser Zeit derart komplex und umfassend, dass er hier nicht weiter abgehandelt werden kann.
Die Jahresangaben im Schulalter und in der Adoleszenz sind nur grob und an der Verdopplungsmechanik der Zahlen ausgerichtet, damit man sich die Lebensabschnitte leichter merken kann. Daher die „Gänsefüßchen“. Ganz willkürlich sind sie allerdings nicht.


Ausblick auf die Vernunft



Bleibt zum Abschluss noch ein Blick zu werfen auf die geistige Reife der Vernunft, die sich im emotionalen Teil des Gehirns (anteriore Basalganglien, Limbisches System, cingulärer Cortex und Frontalhirn) mit dem Gewissen verbindet. Ohne weiter auf die gesamte Philosophie der Aufklärung eingehen zu wollen, die bekanntermaßen für die Ausrichtung des menschlichen Denkens auf Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Vernunft steht, möchte ich die vielleicht wichtigste geistige Größe hierzu aus der Geschichte, Immanuel Kant, kurz erwähnen. Kant erklärte die menschliche Vernunft aus der geistig-kognitiven Besonderheit des Menschen als dem einzigen mit Intelligenz begabten Wesen in der Natur. Diese Intelligenz unterscheidet er von der triebhaften, den Leidenschaften unterworfenen Eigenschaften des Menschen und führt aus, dass der Mensch verpflichtet sei, seine intelligente Seite in der Vernunft zu entwickeln und seine triebhafte, von Leidenschaften geprägte mittels der Vernunft unter Kontrolle zu bekommen. Mit dieser Forderung erhebt er den Menschen über seine natürliche Körperhaftigkeit hinaus zu einem „Geistwesen“ als einem Ding „an sich“, das sich vergleichbar allen „Dingen an sich“ in der Natur in diesem Punkt nicht mehr vollständig erkennen kann. Von dieser Seite her nimmt er den Anspruch an sittlich gutes Verhalten, das der Mensch einzig mit der Freiheit seines Willens (zum Besseren) und gemäß der Maxime des „kategorischen Imperativs“ umsetzen soll.
Ein solches Umsetzen sieht Kant aber nicht als eine Tugend an, sondern als eine Pflicht des Menschen der Allgemeinheit gegenüber. Jeder Mensch, so behauptet er, habe „Ding an sich“ den Maßstab der Sittlichkeit in sich. Über die Intelligenz eignet er ihn sich an, und im kategorischen Imperativ setzt er ihn um. Aus diesen theoretischen Vorgaben entwickelt Kant seine praktische Ethik.
In der Konstruktion der Entwicklung zur Vernunft, so wie ich sie hier auf dem Boden der Entwicklungspsychologie und der Psychodynamik der Emotionen vornehme, sind ganz andere Vorausgaben gemacht. Triebhaftigkeit und Emotionen (Leidenschaften) werden als unteilbar oder untrennbar mit der geistig-kognitiven Entwicklung angesehen. Es wird sogar gezielt eine Kausalität zwischen beiden Instanzen in den menschlichen Ausdrucksweisen gesehen. Die Emotionen müssen dabei der kognitiven Entwicklung vorausgehen, damit letztere sozial richtig eingespurt wird. Nichts ist verderblicher für die soziale Entwicklung als die kalte, von den Emotionen abgetrennte Intelligenz.
Über den beherrschbaren Willen, der sich aus den vielen durch Bindung und Loslösung ins positive Fühlen gewendeten ansonsten aber negativen Lebensvoraussetzungen ergibt, und über die Ausbildung von Empathie sowie den geistigen Perspektivwechsel, daher doppelter Perspektivwechsel, entsteht das Gewissen auf der Basis von Stolz und Scham. Gemeint ist aber nicht das allgemein geläufige Gewissen, das der Religion oder der Tugendhaftigkeit des Menschen entspricht. Gemeint ist vielmehr das Gewissen, das auf dem Wege der emotionalen Verarbeitung frühkindlicher Erlebnisse und Erfahrungen mit seinen nahen und ferneren Bezugspersonen zustande kommt. Führend für dieses Gewissen sind wie gezeigt die balancierten Gefühle von Stolz und Scham auf der Basis bindungsbezogener und attributiver Vorerfahrungen. Dieses Gewissen wird dann zum konstruktiven Bestandteil des emotional geprägten Selbst. Jedes spätere Hinzulernen solcher auf dem Gewissen fußenden Selbstregulationsmechanismen wird nur noch rational angelagert. Sein Einfluss auf die Lebensgestaltung und ein, sagen wir ruhig, tugendhaftes Verhalten sind weitaus geringer wirksam, als das im Selbst verankerte prosoziale Denken und Handeln bereits in früher Kindheit.
Rüdiger Posth, 2012


Lesen Sie hier weiter:

Teil 1:  Die Erlebniswelt des Säuglings
Teil 2:  Fremdeln und Anhänglichkeit
Teil 3:  Loslösung, Trotz und Selbstbewusstsein
Teil 4:  Selbstentstehung und die Entwicklung von Moral und Vernunft
Teil 5:  Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf

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